Texte & Reden
14. September 2006

Wie die Nouvelle Vague nach Berlin kam

Text für eine Publikation im Bender Verlag

Eine kleine Festival-Chronologie

Die großen Festivals – Cannes, Berlin, Venedig – geben seit den fünf-ziger Jahren Auskunft über Veränderungen und Entwicklungen in der Filmkunst der wichtigsten Länder. Das wird nicht immer von den Jurys erkannt und in Preisen ausgedrückt, aber die Filmkritik ist dafür sensi-bel. Ein Aufbruch, vielleicht eine „Neue Welle“, kündigt sich in Frank-reich 1958 an: zuerst mit dem Film le beau serge von Claude Chabrol. Er wird beim Festival in Locarno uraufgeführt. Chabrol erhält den Regiepreis. In Berlin ist zu dieser Zeit noch kein frischer Wind aus Frankreich zu spüren.

Vorspiel. 1958

Im Wettbewerb der Berlinale laufen zwei französische Filme: la loi c’est la loi / gesetz ist gesetz von Christian-Jacques mit Totó und Fernandel und le miroir à deux faces / der tag und die nacht von André Cayatte mit Michèle Morgan. Eine Komödie und ein Drama von zwei bewährten Profis. Jean Marais ist Mitglied der Jury, die Beiträge aus Frankreich bleiben ohne Resonanz. Jury-Präsident Frank Capra und seine zehn Kollegen geben den „Goldenen Berliner Bären“ an Ingmar Bergmans smulstron-stället / wilde erdbeeren. Bergman ist da vierzig Jahre alt.

1959

Im Mai gewinnt François Truffaut (27 Jahre alt) in Cannes den Regiepreis für les quatre cents coup / sie küssten und sie schlugen ihn. Alain Resnais’ Film hiroshima mon amour läuft außer Konkurrenz, wird aber mit dem Preis der FIPRESCI bedacht. Für die Berlinale hält der Journalist Alexandre Alexandre im Auftrag des Festivalleiters Alfred Bauer in Paris nach interessanten französi-schen Filmen Ausschau. Die Entscheidung fällt für einen „neuen“ und einen „alten“ Film: für les cousins / schrei wenn du kannst von Claude Chabrol und archimède le clochard / im kitt-chen ist kein zimmer frei von Gilles Grangier mit Jean Gabin. Für jeden der beiden Filme findet die Jury (Präsident: Robert Aldrich) den angemessenen Preis. les cousins erhält den „Goldenen Berliner Bären“ als bester Film des Festivals, Jean Gabin bekommt einen Silbernen Bären als bester Hauptdarsteller. Chabrol ist drei Tage vor der Festivalpremiere seines Films 29 Jahre alt geworden.

1960

Die zehnte Berlinale. Frankreich ist in diesem Jahr sogar mit drei Filmen im Wettbewerb vertreten: a bout de souffle / ausser atem von Jean-Luc Godard. les yeux de l’amour / liebes-spiele von Philipe de Broca und pickpocket von Frankreichs großem Individualisten Robert Bresson. Bressons Film, der aus Details und Momenten besteht, findet wenig Anklang. Die Komödie von de Broca wird geliebt, weil sie gegen die sonst dominierende Tristesse der Nouvelle vague opponiert. Godards Film mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg ist schnell in aller Munde, aber die Reaktionen sind zum Teil sehr ablehnend: was für eine simple Story! Was für falsche Schnitte! Und vor allem: was für eine Moral! Fürsprecher halten dagegen: Godard „hat eine Mauer der Konvention durchstoßen“. (Friedrich Luft). Beim „Goldenen Berliner Bären“ entscheidet sich die Jury (Präsident: Harald Lloyd) für pure Konvention: el lazarillo del tormes / der schelm von salamanca aus Spanien. Aber die Nouvelle vague wird trotzdem nicht vergessen: ein Sonderpreis für die beste Filmkomödie (Lloyd macht es möglich) geht an les yeux de l’amour, und Jean-Luc Godard erhält einen Silbernen Bären für die beste Regieleistung. Godard ist 29 Jahre alt.

1961

Nur zwei französische Filme sind im Wettbewerb, weil die Zahl der Filme insgesamt begrenzt worden ist: une femme est une femme / eine frau ist eine frau von Jean-Luc Godard und amélie ou le temps d’aimer von Michel Drach. Godards Film mit Anna Karina und Jean-Paul Belmondo – in Farbe und CinemaScope – ist eine Überraschung und wird sofort geliebt. „Die Idee eines Musicals.“ (Godard). Drachs amelie mit Marie-José Nat verschwindet schnell aus der Erinnerung. Für die Jury (Präsident: James Quinn, ihr gehören auch die beiden Rays an, der Inder Satyajit und der Amerikaner Nicholas) gibt es für den „Goldenen Berliner Bären“ nur eine Wahl: den italienischen Film la notte von Michelangelo Antonioni. Aber bei der „besten weiblichen schauspielerischen Leistung“ ist am Ende Anna Karina die Gewinnerin. Während der Preisverleihung gibt es Freudentränen. – Besucher aus „Ostberlin und der Ostzone“ können zum letzten Mal Sondervorführungen der Berlinale im „Corso“ am Gesundbrunnen besuchen. Sie zahlen 2 Ostmark Eintritt. Auch die beiden französischen Filme stehen auf dem Programm. Sechs Wochen später wird die Berliner Mauer gebaut.

1962

Ein schöner Eröffnungsfilm: l’amour à vingt ans / liebe mit zwanzig, fünf Episoden aus Italien, Japan, Frankreich, Polen und der Bundesrepublik Deutschland, gedreht von Renzo Rossellini, Shintaro Ishihara, François Truffaut, Andrzej Wajda und Marcel Ophüls. Die Konzeption stammt von Truffaut. Und dessen Episode handelt von seinem Serienhelden Antoine Doinel. Der Film läuft außer Konkurrenz. Frankreich ist im Wettbewerb nur schwach vertreten: mit der unterhaltsamen Fluchtgeschichte le caporal epinglé / der korporal in der schlinge von Jean Renoir und der kleinen Satire la poupée / die puppe von Jacques Baratier. Die Jury (Präsident: King Vidor) gibt den „Goldenen Berliner Bären“ nach Großbritannien, an John Schlesingers a kind of loving. Vier Monate vor dem Berliner Festival haben westdeutsche Filmemacher ihren Anspruch auf eine eigene Nouvelle vague angemeldet, in Ober-hausen, mit einem Manifest. Auf die dazugehörigen Filme muss man noch etwas warten.

1963

Zwei Filme vertreten Frankreich im Wettbewerb: l’immortelle / die unsterbliche, der erste Film von Alain Robbe-Grillet, eine sehr verrätselte Variante des Nouveau roman fürs Kino, und die Groteske deo gratias von Jean-Pierre Mocky mit Bouvril. Das beste, was aus Frankreich kommt, ist ein Jury-Mitglied: der große Jean-Pierre Melville. Aber die Jury hat wenig Wahlmöglichkeiten, weil die Qualität der Filme zu wünschen übrig lässt. Sie teilt schließlich den „Goldenen Berliner Bären“ zwischen dem japanischen Film bushido zankoku monogatari / schwur der gehorsamkeit und dem italienischen il diavolo / amore in stockholm. Als deutsche Variante zur Nouvelle vague ruft der Produzent Artur Brauner die „Riskante Welle“ aus. Er versteht darunter Filme wie mensch und bestie (Regie: Edwin Zbonek), den am Ende aber nur der Produzent selbst für gelungen hält.

1964

Wieder kommen zwei Filme aus Frankreich, die wenig mit der Nouvelle Vague zu tun haben:  la difficulté d’etre infidèle von Bernard Toublanc-Michel und avec des si …/die fahndung von Claude Lelouch. Aber unter den vielen mittelmäßigen Filmen des Festivals fallen sie nicht einmal unangenehm auf. Die Jury (Präsident: Anthony Mann) vergibt den „Goldenen Berliner Bären“ an den türkischen Film susuz yaz / trockener sommer von Ismail Metin, was niemand so richtig versteht, und übersieht Filme von Susumu Hani, Satyajit Ray und Sidney Lumet. Für den türkischen Film soll sich vor allem das französische Jury-Mitglied Jacques Doniol-Valcroze stark gemacht haben. Ulrich Gregor sieht darin „eine Verhöhnung des Publikums und der Kritik“. (Spandauer Volksblatt).

1965

Die Nouvelle Vague kommt nach Berlin zurück. Der Eröffnungsfilm paris vu par… von Claude Chabrol, Jean Douchet, Jean-Luc Godard, Eric Rohmer und Jean Rouch erlebt seine Welturaufführung, allerdings außer Konkurrenz. Im Wettbewerb sind: thomas l’imposteur / thomas der betrüger, eine eigenwillige Cocteau-Verfilmung von Georges Franju, vor allem aber alphaville / lemmy caution gegen alpha 60 von Jean-Luc Godard und le  Bonheur / das glück von Agnes Varda. Karena Niehoff, Jury-mitglied (an der Seite von Alexander Kluge) schreibt nach der Berlinale etwas indiskret, worüber man sich gestritten hat: „le bonheur oder alphaville den Goldenen Bären? Das waren die zwei inbrünstig verteidigten Lager.“ (Tagesspiegel, 10.7.1965). Den Großen Preis der 15. Berlinale erhält alphaville, le bonheur bekommt den Sonderpreis der Jury. Ein französischer Triumph.

1966

Zum vierten Mal ist ein Film von Jean-Luc Godard im Wettbewerb: masculin féminin. Interviews mit den „Kindern von Marx und Coca Cola“. Wieder hat Godard einen neuen Ansatz: er will nicht mehr politische Filme machen, sondern Filme politisch machen. Die Festivalbesucher finden das ziemlich anstrengend, aber Godard hat in Berlin auch viele Sympathisanten. Auch der zweite französische Beitrag, les couers verts / grüne herzen von Edouard Luntz, ist ein Zeitbild der Jugend im Paris der sechziger Jahre. Allerdings etwas konventioneller als bei Godard. In der „Informationsschau“ bewundern viele Zuschauer einen französischen Film, der sich bewusst von der Nouvelle vague absetzt: un homme et une femme / ein mann und eine frau von Claude Lelouch. Und die westdeutsche Nouvelle vague meldet sich vorsichtig zu Wort: mit schonzeit für füchse von Peter Schamoni. Die interessanteren jungen deutschen Filme, der junge törless von Volker Schlöndorff und abschied von gestern von Alexander Kluge, laufen in diesem Jahr in Cannes und Venedig.

1967

Godard ist diesmal nur in der „Filmschau der Länder“ platziert: made in usa. Anna Karina auf der Suche nach ihrem ermordeten Freund und im Labyrinth des amerikanischen Gangsterkinos. Personen tragen Namen wie Richard Widmark und Donald Siegel. Der Film ist Sam Fuller und Nicholas Ray gewidmet. Im Wettbewerb: le vieil homme et l’enfant / der alte mann und das kind von Claude Berri mit Michel Simon und la collectionneuse / die sammlerin von Eric Rohmer. Rohmer ist mit seiner vierten „Morali-schen Geschichte“ zum ersten Mal im Berliner Festival. Die Jury (Präsident: Thorold Dickinson) dankt ihm das mit einem Silbernen Bären als Sonderpreis. Uwe Nettelbeck: „Dieser Film sieht sich an wie ein Film von einem anderen Stern.“ Michel Simon wird zum besten Darsteller erklärt.

1968

Am 17. Mai ist das Festival in Cannes abgebrochen worden, nachdem sich die Filmemacher mit streikenden Arbeitern und Studenten solidarisiert hatten. Angeführt von Truffaut und Godard waren sie in den Grande Salle des Festivals gezogen und der Festivalchef erklärte den Wettbewerb für abgeschafft. In Berlin befürchtet man den Nachahmungseffekt. Aber es gibt keine Proteste der Filmemacher, sondern gelegentlich solche der Zuschauer. Godard ist wieder im Wettbewerb: weekend. Eine Wochenendreise, wie man sie sich verstörender kaum ausmalen kann. Brennende Autos, Leichen, Vergewaltigung, Kannibalismus. Texte von Rousseau, Musik von Mozart und ohrenbetäubender Lärm. Der Schlusstitel heißt: „Ende der Geschichte. Ende des Kinos.“ Im Zoo-Palast sehen viele Zuschauer nicht mehr das Ende. Sie gehen protestierend. Godards Film spaltet. Die Jury lässt ihn außer Acht. Die beiden anderen französischen Filme sind erfolgreicher: l’homme qui ment / der mann, der lügt von Alain Robbe-Grillet. und les biches / zwei freundinnen von Claude Chabrol. Jean-Luis Trintignant wird bester Darsteller für den Film von Robbe-Grillet, Stéphan Audran beste Darstellerin für den Film von Chabrol. Für die deutsche Nouvelle vague wird die Berlinale zum besonderen Prüfstand: einerseits sind junge deutsche Filme im Wettbewerb: lebenszeichen von Werner Herzog, die chronik der anna magdalena bach von Jean-Marie Straub. Andererseits gibt es eine Veranstaltung in der Technischen Universität, die aus dem Ruder läuft. Alexander Kluge, Edgar Reitz, Johannes Schaaf, Christian Rischert und der Filmkritiker Enno Patalas werden dort von Studenten (vor allem der Deutschen Film- und Fernsehakademie) mit Eiern beworfen. So kindisch kann die Revolution manchmal sein.

Nachspiel. 1969/70

1969 ist Jean-Luc Godard noch einmal im Wettbewerb der Berlinale: le gai savoir / die fröhliche wissenschaft. Ein zweiter Godard-Film, one plus one, ist in der Informationsschau zu sehen. Noch einmal verläuft das Festival friedlich. Es gibt aber keinen Preis für Godard. 1970 stehen die Internationalen Filmfestspiele Berlin dann doch zur Disposition. Es sind die 20. Es gibt Krach über einen deutschen Film: o.k. von Michael Verhoeven. Er handelt vom Vietnamkrieg und spaltet die Jury. Der Wettbewerb wird abgebrochen. In diesem Jahr ist Jean-Luc Godard nicht in Berlin. Und die Nouvelle vague ist da ohnehin schon ein Stück Filmgeschichte.

In: Norbert Grob, Bernd Kiefer u.a. (Hg.): Nouvelle Vague. Mainz: Bender 2006.