Texte & Reden
01. Februar 2006

Traumfrauen

Vorwort zur Publikation der Retrospektive

Zwischen gestern und morgen

 

1          Nach dem Krieg

Die fünfziger Jahre begannen fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie waren ein Jahrzehnt, in dem die Menschen in Deutschland und Europa beschäftigt waren mit der Beseitigung von Trümmern, dem Wiederaufbau von Staat und Gesellschaft, der Überwindung von Traumata und Angst, der Gründung einer neuen Existenz. Über die Vergangenheit wurde zunächst kaum nachgedacht. In Deutschland gab es 1950 acht Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, anderthalb Millionen, die noch vermisst wurden. Die Zeit wurde in West und Ost unterschiedlich erlebt. In Europa herrschte bereits ein neuer Krieg, man nannte ihn den „Kalten Krieg“ – die Konfrontation von westlicher Demokratie und östlicher Staatsdiktatur, oder: von Kapitalismus und Sozialismus. Die Fronten gingen quer durch Deutschland, quer durch Berlin. Die Wahrnehmung des Jahrzehnts ist abhängig vom subjektiven Blick, vom eigenen Erleben. Das Jahrzehnt hat einen schlechten Ruf, weil es prüde und ideologisch restaurativ war, es wird (in der Bundesrepublik) schnell auf Klischees reduziert: Petticoat, Heimatfilm, Nierentisch. Andererseits werden die Fünfziger als „Gründerjahre“ immer wieder neugierig in Augenschein genommen. Filme können dabei hilfreich sein, ihre Analyse ist Teil der Erinnerungsarbeit.

2           Männer

Führende Politiker der fünfziger Jahren waren: Dwight D. Eisenhower, Präsident der USA; Winston Churchill, Premierminister in Großbritannien; Josef Stalin und Nikita Chruschtschow, Generalsekretäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Mao Tse-tung, Partei- und Staatsoberhaupt der Volksrepublik China, Charles de Gaulle, Staatspräsident der Republik Frankreich, Konrad Adenauer, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Walter Ulbricht, Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik. Alle geboren im 19. Jahrhundert, geprägt von politischen Konflikten, differenten Interessen, zwei Weltkriegen. Sie waren für Träume kaum geeignet und im Kino nur für die Wochen­schau zu gebrauchen.

3          Märchen

Träumen konnte man von Kaiserinnen, Königinnen und Königen, von Herzoginnen und Fürstinnen. Das größte Medienereignis des Jahrzehnts war die Krönung der Queen Elizabeth II. in London 1953. Dicht gefolgt von der Hochzeit des Fürsten Rainier von Monaco mit dem amerikanischen Filmstar Grace Kelly 1956. Und ein Traum ging zu Ende, als 1958 der Schah von Persien Kaiserin Soraya verstieß. Monarchien sind so etwas wie Märchenwelten. Manchmal vermählen sie sich mit dem Kino. Die Filme heißen dann roman holiday (ein herz und eine krone) oder sissi – die junge kaiserin.

4           Popularität

Nie zuvor oder danach gingen so viele Menschen ins Kino wie in den fünfziger Jahren. 1956 gab es in Deutschland (Bundesrepublik und DDR) 7.840 Kinos, es wurden insgesamt 1,1 Milliarden Zuschauer gezählt. (Zum Vergleich, 2004: 4.870 Leinwände, 157 Millionen Besucher). Weltweit setzte sich der Farbfilm gegen den Schwarzweißfilm durch. Um gegen das konkurrierende Fernsehen besser bestehen zu können, wurde die Leinwand breiter gemacht: CinemaScope, VistaVision, Cinerama. In den Fünfzigern zerbrach das traditionelle Studio-System in den USA, und es kündigte sich der „moderne“ Film an: Nouvelle Vague in Frankreich, New cinema in Großbritannien. Das Kino verlor seine privilegierte Rolle als populäres Medium.

5           Stars

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht in der medialisierten Kultur der Star. Wir verbinden ihn mit Begriffen wie „Mythos“ und „Aura“, er ist Objekt der Phantasie des Publikums, und das Interesse gilt gleichermaßen dem Berufs- wie dem Privatleben. Elisabeth Bronfen: „Wir haben schon immer Figuren gebraucht, die wir auf Grund ihrer Persönlichkeit, ihrer Leistungen und ihrer öffentlichen Wirkung bewundern können, um die Wunden zu heilen und die Mängel zu glätten, die sich in jeder kulturellen Gemeinschaft ergeben. In diesem Sinne stellt der Star sich meist als Verschränkung von Erlösungs- und Identifikationsfigur zur Schau.“ (Die Diva, München 2004). In Hollywood hat man daraus ein ganzes System entwickelt, um möglichst vielen, unterschiedlichen Erwartungen und Sehnsüchten gerecht zu werden. In den fünfziger Jahren wurde in Deutschland die Beliebtheit der Stars durch Umfragen gemessen: „Starometer“ hieß die Rubrik in der Zeitschrift Star-Revue.

6          Schauspielerinnen

Wunderbare Schauspielerinnen in den fünfziger Jahren waren: Pier Angeli, Françoise Arnoul, Anne Baxter, Anita Björk, Annie Girardot, Gloria Grahame, Judy Holliday, Dorothy Malone, Silvana Mangano, Giulietta Masina, Lilli Palmer, Simone Signoret, Alida Valli, Shelley Winters, Teresa Wright. Sie haben die Filme des Jahrzehnts reicher gemacht – manchmal sogar als supporting actresses. Auf „Starometern“ waren sie selten zu finden.

7          Transfer

Die amerikanischen Stars der dreißiger und vierziger Jahre sind in Deutschland erst mit Verspätung angekommen: Lauren Bacall, Joan Crawford, Bette Davis, Marlene Dietrich, Rita Hayworth, Katharine Hepburn, Barbara Stanwyck. In der Zeit des Nationalsozialismus waren sie verboten, da sollten in Deutschland eigene Stars auf der Leinwand erscheinen; die hießen Zarah Leander, Marika Rökk, Kristina Söderbaum. Die Amerikanerinnen kamen in ihren schon fast historischen Filmen in den späten vierziger Jahren zusammen mit Care-Paketen, Luftbrücke und Marshall-Plan. Sie waren Teil eines amerikanischen Kulturtransfers, der die Fifties in der Bundesrepublik (und in Westeuropa) vor allem im Ton dominierte: Jazz, Rock’n-Roll, AFN. Da sangen auch Doris Day, Judy Garland und Debbie Reynolds.

8           Regie

Stars zu inszenieren ist eine eigene Kunst. Sie wurde zum Beispiel von Josef von Sternberg (mit Marlene Dietrich) und Clarence Brown (mit Greta Garbo) beherrscht. Sie hat viel mit Studioregie, Licht, Kamera, Production Design, Kostüm und Maske zu tun. In den Fünfzigern haben bedeutende Regisseure mit großen Schauspielerinnen zusammengearbeitet: Ingmar Bergman, Federico Fellini, Alfred Hitchcock, Otto Preminger, Luchino Visconti, Billy Wilder, Fred Zinnemann. Aber die großen Star- und Frauenregisseure waren George Cukor, Joseph L. Mankiewicz, Vincente Minnelli, Douglas Sirk, William Wyler. Sie arbeiteten für Fox, MGM, Paramount, Universal. Stars und Studios ließen sich nicht trennen. Die Regisseure arbeiteten dort als kreative Dienstleister. Das Beziehungsgeflecht endete mit der Auflösung der traditionellen Studios.

9          Genre

Aus den klassischen Studios kamen klassische amerikanische Genres: Biopic, Comedy, Gangsterfilm, Musical, Thriller, Western. Und für die weiblichen Stars vor allem: das Melodram. Es erzählte Dreiecksgeschichten, Karrieregeschichten, Versagensgeschichten, Muttergeschichten, Familiengeschichten. Es arbeitete mit Gefühlen, mit Tränen, mit oder ohne Happy-End. Es war vor allem für weibliche Kinobesucher bestimmt und hat sich inzwischen ins Fernsehen verlagert: als TV-Movie, Serie, Telenovela.

10          Typologie

Traumfrauen in den Fünfzigern konnten sein: Jungfrau, Femme fatale, Kameradin, Nymphe, Vamp. Sie verkörperten Hingabe, Leidenschaft, Opferbereitschaft, aber auch Eigensinn, Emanzipationswillen, Selbstbewußtsein. Sie konnten Männer um den Verstand bringen. Sie waren blond, brünett oder schwarz, sanft oder aggressiv, standhaft oder labil, energisch, eifersüchtig, verführerisch oder schüchtern, freundlich, brav. Sie trugen Frisuren, Hüte, Kleider, Schuhe, die eine Typisierung begünstigten. Äußerer Anschein machte Charakter und Befindlichkeit erkennbar. Oder war ein Manöver, um zu irritieren und zu überraschen. In den sechziger Jahren waren solche Charakterisierungen nicht mehr gefragt. Die Geschichten des „modernen“ Kinos sollten differenzierter erzählt werden.

11          Mein Kino

Ich erinnere mich an die fünfziger Jahre als eine spannende Zeit. Als sie begannen, war ich zwölf Jahre alt und lebte in Westberlin, als sie endeten, war ich 22 und studierte in München. In diesem Jahrzehnt erlebte ich meine Kinosozialisation. Ich war filmsüchtig. Meine Lektüre: Film-Revue, Star-Revue, Film und Frau, ab 1954 Film-Dienst (katholisch), ab 1957 Filmkritik (ideologiekritisch). Ich las die Rezensionen von Gunter Groll (Süddeutsche Zeitung) und Karena Niehoff (Der Tagesspiegel). Im Regal standen „Knaurs Buch vom Film“ von Rune Waldekrantz, „Geschichte der Filmkunst“ von Georges Sadoul und „6.000 Filme“, herausgegeben von Klaus Brüne. Ich hatte kein Problem, fast zeitgleich die Filme sissi und lissy zu sehen und sie beide zu mögen, obwohl sich das eigentlich ausschließt. Meine Traumfrauen waren Gertrud Kückelmann und Maureen O’Hara. Vielleicht wegen ihrer schönen Augen. Zur Bekämpfung der cinephilen Naivität habe ich Theaterwissenschaft und Publizistik studiert. Seit den sechziger Jahren verbinde ich die Liebe zum Film und seiner Geschichte mit meinem Beruf. Ich habe mich in allen Jahren privilegiert gefühlt.

12           Dreißig

„Traumfrauen“ ist die 30. Retrospektive, die von der Deutschen Kinemathek für die Berlinale veranstaltet wird. Die erste fand 1977 statt und war Marlene Dietrich gewidmet. Die schönste aus meiner Sicht war „Color. Die Geschichte des Farbfilms“ (1988), die persönlich wichtigsten galten den Filmen von Fred Zinnemann (1986) und Curt Siodmak (1998), sie waren für mich mit Freundschaften verbunden. „Traumfrauen“ ist meine letzte Retrospektive als Direktor des Filmmuseums Berlin. Ich danke Dieter Kosslick, daß er mir für das Thema die freie Wahl ließ.

13           Dank

Bücher, Retrospektiven, Festivalprogramme sind keine Einzelleistungen. Ich bedanke mich in der Zusammenarbeit bei den „Traumfrauen“ vor allem bei Connie Betz und Gabriele Jatho für ihr außergewöhnliches Engagement, bei allen Autorinnen für ihre Mitarbeit, bei Elisabeth Bronfen für anregende Gespräche, bei Volker Noth für die Gestaltung des Buches und des Plakats und bei meiner Frau Antje Goldau für Inspiration, Kritik und Ermutigung.