Texte & Reden
09. Februar 2006

DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT (2006)

Text für die Berlinale-Beilage der Zeit

Pupillenerweiterung

Der die Tollkirsche ausgräbt von Franka Potente

Ein filmisches Spiel mit der Zeit. Am Ende des Ersten Weltkriegs findet auf dem Anwesen einer liquiditätsschwachen Familie ein Liebesdrama statt. Für die Tochter Cecilie steht die Heirat mit dem langweiligen, aber begüterten Alfred bevor. Da taucht überraschend ein junger Mann aus einer anderen Welt auf, der für Alfred zu einer gefährlichen Konkurrenz wird: ein Punk, ein cooler Typ aus dem Jahr 2005, der als Mumie im Garten vergraben war. Cecilie verliebt sich sofort.

Aber wie soll man sich verständigen? Denn 1918 ist der Film noch stumm, und die Menschen reden miteinander in Zwischentiteln. Der Punk dagegen spricht O-Ton unserer Zeit und wird deshalb von niemandem verstanden. Was funktioniert, sind Körperkontakte, Küsse, Verführungen. Cecilie konsultiert ein Zauberbuch und offeriert einen Trank, den sie gemeinsam zu sich nehmen: den Saft der Tollkirsche, „der zusammenbringt, was zusammengehört“. Die Liebenden finden ihr Glück dort, wo der Punk ausgegraben wurde: im Garten, unter der Erde. Der Vater ist inzwischen zum Hahn im Kochtopf mutiert. Der verlassene Bräutigam Alfred, Cecilies Mutter, der kleine Bruder Theo und der hungrige Pfarrer (unverkennbar: Stefan Arndt) lassen ihn sich schmecken.

Franka Potentes Debüt als Autorin und Regisseurin ist eine kleine, amüsante Hommage an die frühe Filmgeschichte: mit schmachtenden Blicken und ekstatischen Gesten, nächtlichen Schatten und wallendem Nebel. Kreisblenden (Kamera: Frank Griebe), schmollende Münder (Maske: Monika Münnich) und akzentuierende Musik (Komponisten: Petsche/Rotthoff/ Schneider) suggerieren Zeitgeist und Filmformen der späten zehner Jahre. Anachronistisch für die Menschen von damals ist ein Magazin von heute, das der Punk in der Tasche hat. Es trägt den Titel „Fuck“ und enthält Abbildungen, die bei Cecilies Vater sichtbare Wirkung haben. In ihren Mitteln ist Potente weder subtil noch zimperlich.

Die Tollkirsche spielt 1918. Damals drehte Ernst Lubitsch den Film Die Augen der Mumie Ma: ein Spiel mit Zeiten und Kulturen, mit Geistern und Mythen. Ma war bei Lubitsch wie der Punk bei Potente ein Wesen aus einer anderen Welt. Aber bei Lubitsch gab es nichts zu lachen. Da ging es – im dramatischen Spiel von Pola Negri, Emil Jannings und Harry Liedtke – um Leben und Tod. Emilia Sparagna (Cecilie), Christoph Bach (Punk), Max Urlacher (Alfred) und Franka Potente nehmen die Sache leichter. Vielleicht hat das mit der Tollkirsche (Atropa belladonna) zu tun. Ihr Extrakt aus Blättern und Wurzeln gilt als krampflösend und pupillenerweiternd. Ohne Risiken und Nebenwirkungen. Das sind keine schlechten Voraussetzungen für einen ersten Film, der 45 Minuten dauert.

In: Die Zeit, 9. Februar 2006, Berlinale-Beilage