17. Juli 2005
Winfried Junge 70
Begrüßung zur Geburtstagsfeier in der Akademie der Künste
Lieber Winfried Junge, liebe Barbara Junge, liebe Gäste –
ich heiße Sie herzlich willkommen zu einem Geburtstagsfest, das wir eigentlich noch gar nicht richtig feiern dürften, weil der Geburtstag erst übermorgen stattfindet und vorfristige Feiern vor allem bei Abergläu-bigen als problematisch gelten. Aber unser Jubilar wirkt so entspannt, dass wir es ihm gönnen, über mehrere Tage geehrt und gefeiert zu werden. Also sage ich, sagen wir schon heute: Herzlichen Glück-wunsch.
Wir können – so ein runder Geburtstag macht es möglich – zurzeit viele Filme von Winfried Junge in Berlin sehen. Vor allem im Kino Arsenal. Bis Ende August. Sie sind herzlich eingeladen.
Wir feiern heute in der Akademie einen Menschen und sein Werk. Winfried Junge ist seit 1996 Mitglied dieser Akademie. Er wurde in die Akademie aufgenommen zusammen mit seiner Frau Barbara. So eine Partner-Zuwahl ist natürlich eine Ausnahme. Mir ist aus unserer Abteilung nur eine Parallele präsent: das sind Jean-Marie Straub und Danièlle Hulliet. Es gibt eben Künstlergemeinschaften, die sich in einem gemeinsamen Werk ausdrücken. Das muss auch eine Akademie akzeptieren, die sonst eher die Individualisten im Blick hat.
Winfried und Barbara Junge sind aktive Mitglieder dieser Akademie. Sie kommen zu wichtigen Veranstaltungen und natürlich in jedem Frühjahr und in jedem Herbst zu den Mitgliederversammlungen. Sie bringen sich ein. Sie repräsentieren eine sehr wichtige Kerngruppe unserer Sektion: die Dokumentaristen. Dazu gehören auch Klaus Wildenhahn und Helga Reidemeister, Hans-Dieter Grabe und Volker Koepp, Georg Stefan Troller und Kasimir Karabasz, Ebbo Demant, Katrin Seybold und Gisela Tuchtenhagen, Jürgen Böttcher und Thomas Heise, Claude Lanzman und Marcel Ophüls. Das ist eine mehr als respektable Gruppe, die auch selbstbewusst auftreten kann.
In der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste versammeln sich ganz unterschiedliche Repräsentanten dieser Künste: Spielfilmregisseure und Dokumentaristen, Fernsehregisseure, Fotografen und Hörspielautoren, Kameraleute, Drehbuchautoren und Vermittler. Wenn wir uns zweimal im Jahr hier in Berlin treffen, stehen kollegiale Gespräche im Zentrum. Winfried und Barbara Junge sind bei diesen Anlässen Kommunikatoren. Sie stellen sich nicht selbst in den Mittelpunkt, sondern sind vermittelnde Personen. Ich denke, dies hat auch mit ihrer Auffassung von dokumentarischer Filmarbeit zu tun, dies ist vielleicht auch ihre Haltung zur Welt.
Diese Haltung ist wohl auch der Schlüssel zu ihrem Werk. Winfried und Barbara Junge dokumentieren als teilnehmende Beobachter. Sie haben eine intensive Beziehung zu ihren Protagonisten. Sie entwerfen keine fiktive Welt, sie dokumentieren, verdichten und interpretieren eine vorhandene. Und ihr Werk ist ein großes, nicht zu überbietendes work in progress: eine so genannte Langzeitbeobachtung, die Chronik der „Kinder von Golzow“.
Golzow, ein Dorf im Oderbruch, hat Aufmerksamkeit erlangt, seit im Jahre 1961 eine Schulklasse erstmals und dann immer wieder das Interesse des Dokumentaristen Winfried Junge fand und im Lauf der Jahre das Soziogramm eines Dorfes der DDR entstand. Es gibt inzwischen insgesamt 18 kurze und lange Golzow-Filme.
Mir persönlich ist das Projekt seit 1963 bekannt, seit der Vorführung des Films nach einem jahr – beobachtungen in einer 1. klasse bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen. Natürlich war damals noch nicht absehbar, dass die Dokumentation des Lebens der Kinder von Golzow einmal so paradigmatische Dimen-sionen annehmen würde. Gespürt habe ich das vielleicht 1982, als der Film lebensläufe im Programm des Internationalen Forums des jungen Films zu sehen war. Dann kam 1992 drehbuch: die zeiten. Und danach entstanden die speziellen Porträtfilme der Protagonisten Jürgen, Willy, Elke, Marieluise, Brigitte und Marcel, Dieter, Jochen, Bernd, die in so intensiver Weise das Leben in der DDR und nach der Wende 1990 in der Bundesrepublik dokumentieren.
Es ist ein interessanter und nicht unkomplizierter Gedanke, sich vorzustellen, welches Bild sich künftige Generationen von der DDR machen. Es gibt Fotografien – wir haben kürzlich hier im Hause die Fotos von Ludwig Schirmer ausgestellt, die im Nachlass entdeckt wurden und das DDR-Landleben der fünfziger Jahre dokumentieren – es gibt Spielfilme (auch sie entwerfen natürlich Bilder des Landes, denken wir nur an die legende von paul und paula oder solo sunny), und es gibt Dokumentarfilme. Im Filmzyklus der „Kinder von Golzow“ ist unendlich viel aus dem Alltag der DDR zu sehen, so viel, wie wohl keine andere Filmreihe zu bieten hat.
Die Lobeshymnen für dieses Projekt sind vielstimmig. Wir lesen und hören sie gerade in diesen Tagen in den Zeitungen und in den Rundfunkprogrammen. Von den Filmemachern – seit 1992 sind das in offizieller Partnerschaft als Co-Regisseure Winfried und Barbara Junge – werden diese Stimmen auch mit hörbaren Klagen über die Produktionsprobleme begleitet. Es mag ihnen ein schwacher Trost sein, wenn ich sage: Große Werke entstehen nie ohne Schwierigkeiten. Und es deutet sich ein Ende des Projekts an.
Unabhängig von allen Imponderabilien, denen dieser Filmzyklus über inzwischen fast 45 Jahre ausgesetzt war, gilt Winfried Junge unsere Bewunderung für seine Disziplin, seine Sensibilität, sein Beharrungs-vermögen und seine Humanität. Der zugeneigte Umgang mit so unterschiedlichen Menschen wie den Kindern und inzwischen längst Erwachsenen aus Golzow erforderte mehr Kraft und psychische Substanz als wir uns vorstellen können. Dafür ist Winfried Junge zu danken. Er hat einen unschätzbaren Beitrag zur filmischen Geschichtsschreibung der DDR und Deutschlands geleistet.
Noch eine persönliche Anmerkung: Wenn ich – und das geschieht sehr regelmäßig – mit meiner Frau mit dem Auto in unser Haus in Brodowin, nahe dem Kloster Chorin, fahre, dann kommen wir durch einen Ort Golzow, der zum Landkreis Barnim gehört. Es ist nicht das Golzow. Aber ich kann gar nicht durch das falsche Golzow fahren, ohne an das richtige Golzow zu denken, das Winfried Junge uns so nahe gebracht hat. Und jedes Mal geht ein kleiner Gruß an unseren Dokumentaristen, ohne dass er dies weiß. Aber heute will ich ihm das doch mal sagen.
Mit allen guten Wünschen mache ich nun den Platz auf dieser Bühne frei für ihn, der heute geehrt wird: Winfried Junge. Bevor er selbst auftritt, zeigen wir den Film elf jahre alt aus dem Jahr 1966. Er dauert 29 Minuten. Und dann kommt der Jubilar.
Berlin, Akademie der Künste, Studio, 17. Juli 2005