Texte & Reden
25. September 2004

Walther Seidler

Nachruf in der Zeitschrift FilmGeschichte

„Obersuhl, 4. April 1952. Beurteilung des Untersekundaners Hans Georg Walther Seidler. Walther Seidlers Interesse richtet sich vor allem auf naturwissenschaftlich-biologische und politische Dinge. Auf diesen Gebieten zeigte er vorbildliche Initiative und großen Eifer. Im allgemeinen war sein Denken klar und folgerichtig, jedoch das scharfe mathematische Denken lag ihm weniger. Sein sprachlicher Ausdruck war gewandt und flüssig. Mit Aufmerksamkeit und Fleiß arbeitet er im Unterricht mit. Sportlich war er zwar interessiert, ohne jedoch besonders aktiv zu sein. Durch seine feinfühlende, taktvolle und stets hilfsbereite Art war er ein wertvolles Mitglied der Klassengemeinschaft, deren Sprecher er lange war. Seine charakterliche Haltung verdiente jederzeit volle Anerken­nung.“ Unterzeichnet von Studienrat Kurt Oppermann, dem Klassenlehrer.

In dieser frühen Persönlichkeitsskizze – Walther Seidler war damals 17 Jahre alt – finden sich viele zutreffende Hinweise: das Interesse für naturwissenschaftlich-biologische Dinge und Politik, das folgerichtige Denken im Allgemeinen, weniger im Mathematischen (mit den Kalkulationen hatte er gelegentlich Probleme), der flüssige sprachliche Ausdruck (wobei er die offiziellen Reden lieber anderen überließ), feinfühlend, taktvoll, hilfsbereit, guter Charakter.

Walther Seidler hat 21 Jahre den filmhistorischen Verleih der Kinemathek geleitet. Er hatte keinen Vorgänger, er hat den Verleih aufgebaut, als das Interesse an Filmgeschichte entwickelter war als es zurzeit zu sein scheint. Die Basis für seine Arbeit war das Filmarchiv der Kinemathek. Er hat sich durch die Bestände hindurchgearbeitet. Er tat dies als Autodidakt. Nicht auf der Grundlage einer akademischen Ausbildung, eines vorhandenen Wissens. Das wuchs bei ihm mit der Arbeit. So konnte er seine Klienten sehr praxisnah beraten und schwatzte ihnen nie einen Film auf, nur weil er in der Filmgeschichtsschreibung eine besondere Bedeutung hatte.

Zu Walther Seidlers Aufgaben gehörte über viele Jahre die Filmbeschaffung für die Retrospektive der Berlinale und vor allem: die Organisation der sommerlichen Symposien im Arsenal, für die Leiter kommunaler Spielstellen. Das waren für den Kommunikator Walther Seidler besonders wichtige und schöne Ereignisse, bei denen er Verbindungen zwischen Menschen herstellen konnte, die ihm vertraut waren.

Das Verfassen von Texten, das Schreiben war ihm fremd und unangenehm. Seine Handschrift fand ich weitgehend unleserlich. Das hat die gemeinsame Arbeit an Katalogen nicht einfach gemacht. Seine Stärke waren die Ideen, die Entdeckerfreude, die kommunikativen Verbindungen.

Eine weite Reise mit einem Fund, wie ihn sich jeder Filmhistoriker erträumt, hat Walther Seidler in den achtziger Jahren sehr euphorisch gemacht. In Sao Paulo entdeckte er, nach Hinweisen der dortigen Kollegen des Filmarchivs, in einem Konvolut deutscher Stummfilme die verloren geglaubten Filme das wandernde bild und kämpfende herzen von Fritz Lang. Ihre Restaurierung hat ihn ein Jahr lang beschäftigt

Das Alte war für Walther Seidler immer mit dem Neuen verbunden. So sind ihm die Verleihbestände zu Alexander Kluge, Herbert Brödl und Peter Nestler zu verdanken. Dem großen deutschen Dokumentaristen Peter Nestler, der in den späten sechziger Jahren nach Schweden emigrierte, war Walther Seidler immer besonders nah. am siel war einer seiner Lieblingsfilme. Fast lückenlos ist Nestlers Werk in der Kinemathek aufgehoben.

Im August 1999 haben wir Walther Seidler in den Ruhestand verabschiedet. Zum Abschied sang damals auch sein Kirchenchor, dem er über viele Jahre als Bass angehörte. Nun haben wir endgültig von Walter Seidler Abschied genommen, am 18. Oktober in der Kirche St. Auen, am 23. November im Kino Arsenal. Auf der Nachrufseite des Tagesspiegel, die an jedem Freitag erscheint, hat Barbara Bückmann, eine Chorschwester, den anderen Walther Seidler beschrieben, den privaten, den Verschlossenen, der Natur verbundenen. Wir werden unseren und ihren Walther nicht vergessen.

(FilmGeschichte, Nr. 18, September 2004)