Texte & Reden
29. Juni 2004

Helmut Herbst

Vorwort zu einem Ausstellungskatalog

Gemeinsame Jahre

Berlin, im Frühjahr 1969. Westberlin, Charlottenburg, Pommernallee 1, 5. Stock. Die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), gerade knapp drei Jahre alt, ist in einer akuten Krise. Nach mehreren Konfrontationen zwischen Studenten und Direktion sind 18 besonders streitlustige (und besonders begabte) Studenten relegiert worden. Ein Direktor, Erwin Leiser, nimmt seinen Hut, der andere, Heinz Rathsack, versucht, das Institut zu retten. Einige Dozenten gehen, einige neue kommen. Einer davon ist Helmut Herbst, „Trickfilmer“ aus Hamburg, 34 Jahre alt. Er dreht gerade die Dokumentation deutschland dada und ist dem experimentellen Film verbunden. Er hat die Ham-burger „Filmmacher Cooperative“ mitgegründet. Im Konferenzraum der DFFB wird regelmäßig und heftig debattiert: über die Zukunft, über das Selbstverständnis, über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis. Die verbliebenen DFFB-Studenten schwanken zwischen Eigeninteresse und Solidarität mit den Relegierten. Die Dozenten sollen – nicht allzu autoritär – Zeichen setzen für die nähere Zukunft. Da ist einer wie Helmut Herbst am richtigen Ort. Er hat eine Haltung zu ästhetischen und politischen Fragen. Er ist kein Opportunist. Sein Interesse an Film und Filmgeschichte wirkt vital. Er hat eine Stimme, die nicht zu über-hören ist. Das einzige, was ihm fehlt, ist Geduld in Diskussionen. Er will seine Zeit nicht in Debatten vergeuden. Er braucht diese Zeit, um technische Probleme zu lösen, denn es gibt dafür noch keine Computer. Wenn sich im Konferenzraum der Streit im Kreise dreht, zieht sich Helmut Herbst in die Dunkelkammer zurück, eine umgebaute Toilette. Vielleicht ist es sein größter Erfolg an der DFFB, dass Anfang der siebziger Jahre der Konferenzraum zu einem Trickraum ausgebaut wird – mit einer optischen Bank im Zentrum, an der Tag und Nacht gearbeitet werden darf.

Helmut Herbst positioniert sich an der DFFB aber nicht einfach als Praktiker, der für technische Probleme eine Lösung findet, sondern vor allem als Pädagoge, der für Alternativen eintritt: dem Dokumenta-rischen stellt er – als entferntesten Pol – das Synthetische gegenüber, statt einer Videokamera aktiviert er eine alte Bolex, aus der Realität entwickelt er Utopien. Und er schafft Verbindungen: zwischen dem Tricktisch und dem Schneidetisch, zwischen Gegenwart und Geschich-te, zwischen abstraktem Denken und Sinnlichkeit. Das Gruppenver-halten der Akademiestudenten dieser Zeit ist ihm eher fremd. Herbst ist ein Individualist: rigoros und direkt, sensibel und gelegentlich auch sentimental. Wenn er lacht, hört man das in weiter Entfernung, wenn er wütend ist, geht schon mal eine Tür kaputt. Er steht für sich ein, für sein Denken und Fühlen. Das verschafft ihm Respekt, auch Zuneigung. Er hat Freunde und natürlich auch Gegner. Vereinnahmen lässt er sich nicht.

Wenn ihm heute die DFFB-Zeit, jene siebziger Jahre der auslaufenden Studentenbewegung, der K-Gruppen, der militanten Theorie-Debatten, als dunkel erscheint, hat das vielleicht auch damit zu tun, dass er viel Zeit in dunklen Räumen verbracht hat. Im Trickraum, in den Schneide-räumen und im Kino – einer Black Box, die für ihn weniger ein Illu-sionsraum als ein Konfliktraum war. Immer diese verdammten, engen, orthodoxen Diskussionen… Aus der Klaustrophobie musste er sich einmal in einer Art Amoklauf befreien.

1975 dreht Helmut Herbst den didaktischen Film synthetischer film oder wie das monster king kong von fantasie & präzision gezeugt wurde. Sechs Jahre Dozentur an der DFFB sind in diesem Film fokussiert. Er handelt von Apparaten, Ideen, Arbeitsprinzipien, Querverbindungen und Spielregeln, von Sprache, Technik, Avantgarde, Geschichte, Erkenntnistheorie und Forschung. Denn Helmut Herbst ist auch ein Filmforscher, der sich den Mangel an wissenschaftlicher, filmhistorischer Erforschung von Technik und Ästhetik zunutze macht. Der selbst sucht und recherchiert. Aus seinen Recherchen entstehen keine Bücher, sondern Filme. (…)

1979 dreht Helmut Herbst den Film lebende photographien auf einem laufenden bande. Er handelt von dem Filmpionier, Kameramann, Filmhistoriker und Techniker Guido Seeber (1879-1940). Seeber ist für Herbst so etwas wie ein Übervater. „Er dachte mit der Technik.“ Herbst ist die Wiederentdeckung des Filmpioniers zu verdanken. Sein Film begleitet eine Seeber-Ausstellung der Stiftung Deutsche Kinemathek, „Das wandernde Bild“. Es erscheint ein Buch. „Neugier“ heißt der kurze, intensive Beitrag, den Herbst zu diesem Buch beisteuert. Er sagt uns, was wir von Seeber zu lernen haben: „Es ist seine Haltung, die immer wache Neugier des Filmpioniers auf das, was sich durch die Überwindung technischer Schwierigkeiten an neuen Möglichkeiten eröffnet. Diese Haltung hat ihn bestimmt, sein Medium, den Film, gleichermaßen in die Vergangenheit wie in die Zukunft blickend zu erforschen und nach technisch-ästhetischen Kategorien zu  ordnen.“ Just dies ist auch die Haltung von Herbst.

Im Frühjahr 1969, als Helmut an die DFFB kam, haben wir uns kennen gelernt. Ich wechselte damals von der Universität an die DFFB und wurde ihr erster Studienleiter. Ich hatte wenig Ahnung vom Filme machen, ein bisschen mehr von Filmgeschichte, aber keine Vorstellung davon, was ich von der DFFB und die DFFB von mir zu erwarten hatten. Sie wurde für zehn Jahre mein Ort des Lernens. Ich habe organisiert, Verbindungen hergestellt, vermittelt, Anregungen gegeben, zugehört und zugeschaut. Unter den Dozenten war mir Helmut manchmal sehr nahe, manchmal auch fern. Wir haben beide 1979 die DFFB verlassen. Er ging zunächst an die University of the West Indies in Kingston, Jamaica (ich weiß nicht mehr, warum er das tat) und wurde dann 1985 Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offen-bach. Ich wechselte in der Pommernallee 1 vom 5. Stock (DFFB) in den 4. (Stiftung Deutsche Kinemathek). Ich denke, dass uns noch immer eine Freundschaft verbindet. Ich habe ihn konsultiert, wenn ich einen Ratschlag oder einen Text brauchte über den Zusammenhang zwischen Technik und Ästhetik („Du fragst mich immer nur, wenn es ums Malte-ser Kreuz geht…“). Ich habe aus der Ferne verfolgt, wie er sich in Offen-bach um die Ausbildung junger Filmemacher verdient gemacht hat. Ich habe seine Filme gesehen, zum Beispiel eine deutsche revolu-tion (1981/82) und die serpentin-tänzerin (1991/92). Es gab Gelegenheiten, wo man sich traf. Er wurde auch etwas geduldiger, und als Ratgeberin hat er seit 24 Jahren seine Lebensgefährtin, die wunderbare Cutterin Renate Merck. Jetzt wird er siebzig Jahre alt.

Was ich nie gemerkt oder inzwischen vergessen habe: mit welcher Liebe und welcher Genauigkeit Helmut Herbst, auch in der Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, fotografiert hat. Deshalb sind seine Bilder eine schöne Überraschung für mich. Ich sehe dort Menschen, die ich gekannt habe oder kenne. Erinnerungen werden wach. Eine längst vergangene Zeit kehrt zurück. In Schwarzweiß. Gesehen mit dem Blick eines neugierigen Filmemachers. Und nun weiß ich auch, dass Helmut Herbst offenbar immer einen heimlichen Verbündeten hatte, ohne den es keine Bilder, keine Fotos, keine Filme gäbe: das Licht.

Vorwort. Dem Licht bei der Arbeit zusehen. Berlin 2004.