Texte & Reden
15. Januar 2003

Friedrich Wilhelm Murnau

Vorwort zu einer Publikation

Damals, im März 1931, ist Charles Chaplin zu Besuch in Deutschland. Er wird von den Berlinern geliebt und gefeiert. Am Abend des 11. März, einem Mittwoch, führen ihn seine Gastgeber ins Varieté, in die „Scala“ in der Lutherstraße. Dort hört er, kurz vor Ende der Vorstellung, die Todesnachricht und gibt dem 12-Uhr-Blatt für den nächsten Tag einen Kommentar: „Er ist einer der besten Männer gewesen, die Deutschland nach Hollywood entsandt hatte. Ich kann das Schreckliche noch gar nicht fassen.“ Damals, am Vormittag des 11. März 1931, ist Friedrich Willhelm Murnau, ein bedeutender Regisseur, der aus Berlin nach Hollywood gegangen war, in Santa Barbara an den Folgen eines Auto-unfalls gestorben. Das geschah vor mehr als siebzig Jahren. Murnau wurde nur 42 Jahre alt. Was wissen wir über ihn und seine Filme?

Murnau hat einen gesicherten Platz in der internationalen Film-geschichte: klassischer Stummfilm, Bilderzählungen, bewegte Kamera, visuelle Erfindungen, fließende Montage, Melodramen, Schauspieler-filme, melancholische Geschichten. Seine in Deutschland bekanntesten Filme heißen nosferatu, der letzte mann, faust – die Lieb-lingsfilme vieler Cineasten sind sunrise und tabu. Murnau ist heute unbekannter als seine Zeitgenossen Fritz Lang (1890-1976) und Ernst Lubitsch (1892-1947). Murnau starb, gerade als der Ton zum Film kam. Seither haben sich das Kino und die Welt sehr verändert: technolo-gisch, gesellschaftlich, ökonomisch und in unserer ästhetischen Wahr-nehmung. Wie nah kann man Murnau noch kommen? Oder, wie sich Volker Schlöndorff fragt: „Warum erinnere ich mich so schlecht an Murnaus Filme?“. Weil er damals, in den sechziger Jahren, als er Murnaus Filme in der Cinémathèque Française zu sehen bekam, andere Regisseure favorisierte und zum Sprung in die eigene Karriere ansetzte. Murnaus Filme gehören auch nicht zu einem Repertoire. Sie haben sich von uns entfernt.

Von den 21 Filmen, die er zwischen 1919 und 1930 in Deutschland, Amerika und auf Tahiti gedreht hat, sind uns nur zwölf überliefert. Neun Filme können wir der Spur nach durch zeitgenössische Zeugnisse und Fotos erschließen. Die zwölf existierenden Filme sind in unterschiedlichen Fassungen und Kopien vorhanden. Die Zeit hat ihnen viele Wunden und Narben zugefügt. Was ist von Murnau noch zu erkennen bei einer Projektion seiner Filme heute?

„Eine optimale Reproduktion brauchen seine Filme, weil sie nicht von Geschichten getragen werden. Das Luminose der Bilder, die Licht-bestimmung, die Schärfe des geringsten Details ist wichtig, denn das sind seine Ausdrucksmittel. Bei Murnau ist jeder Zentimeter Leinwand aktiv.“ (Frieda Grafe) So wehren sich seine Bilder von Licht und Schatten auch gegen reduzierte Übermittlungen, sie sind für die Lein-wand bestimmt. Nur dort sind sie groß und stark.

Seit 25 Jahren verantwortet die Deutsche Kinemathek die filmhistori-schen Retrospektiven der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Gesucht werden in jedem Jahr, bei jedem Thema die besten verfügbaren Kopien. Manchmal gelingen dabei überraschende Funde, manchmal werden neue Kopien angefertigt. Gelegentlich werden Regisseure durch die Retrospektive neu entdeckt. Oder eine neue Generation entdeckt sie für sich. Die 53. Berlinale ehrt Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) mit einer Retrospektive. Es gibt keinen äußeren Anlass dafür, keinen runden Geburtstag, keinen Todestag. Es geht einfach um das Leben und Werk eines großen Regisseurs, an das zu erinnern ist, das wir gegen-wärtig machen möchten. Die zwölf erhaltenen Filme werden in guten, zum Teil neuen Kopien gezeigt. Die Vorführungen werden musikalisch begleitet. Jeder Zentimeter Leinwand soll aktiv gemacht werden. Und die Retrospektive ist überall dort wiederholbar, wo Stummfilme adäquat vorgeführt werden können.

Zur Retrospektive in Berlin gibt es eine Ausstellung im Filmmuseum. Sie führt uns Leben und Werk von Friedrich Wilhelm Murnau auf eigene Weise vor Augen: durch Exponate, Dokumente, Filmausschnitte. Sie stellt Verbindungen und Zusammenhänge her. Ihr ist das Zwei- und das Dreidimensionale möglich. Sie kann unsere Erkenntnisse vertiefen – und neue Lust auf die Filme machen. Ihr steht auch die Welt offen: sie wird später nach Los Angeles und Hongkong wandern, vielleicht auch nach Paris (in Frankreich wird Murnau geliebt) oder dorthin, wo man Murnau erst entdecken möchte.

Eine Retrospektive, eine Ausstellung – ein Buch. Dieses Buch ist kein Katalog, sondern eine Murnau-Collage: mit einem Essay, Bausteinen zu einer Biografie seiner Jahre in Deutschland und Amerika, Dokumenten und zeitgenössischen Kritiken, Texten heutiger Regisseure zu Murnaus erhaltenen Filmen, mit einem kurzen Gang durch die Ausstellung, Mit-teilungen zur Materiallage der Filme, Daten, Fakten und Abbildungen. Das Buch enthält fast alles, was man über Murnau wissen muss. Es hat drei Kerne: die essayistische Passage durch Murnaus Werk von Thomas Koebner, die biografischen Recherchen von Daniela Sannwald und Janet Bergstrom mit Informationen, die bisher nicht bekannt waren, und die Kommentare von 22 deutschen Regisseuren und Filme-machern zu jeweils einem oder zwei Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau. Besonders hier geht es um die Frage: wie nah kann man Murnau noch kommen? In fast jedem Text – von Luc Bondys Para-phrase über tartüff bis zu Hanns Zischlers Beschreibung von schloss vogelöd – gibt es subjektive Momente, persönliche Haltungen. Sie könnten die Brücke bilden, die uns den Weg zu Murnau heute finden lässt. Nicht als bloße Erinnerung, sondern als Vergegen-wärtigung. Denn „Murnau war seiner Zeit einfach Lichtjahre voraus.“ (Wim Wenders) Um das zu erkennen, muss man nur genau hinschauen.

Ein wichtiger Partner unseres Murnau-Projekts ist die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, die seit Jahrzehnten über den Rechte-bestand des deutschen Filmerbes wacht. Sie hat unser Vorhaben seit Beginn unterstützt und im November 2002 ein besonderes Zeichen gesetzt: durch den Erwerb des Murnau-Nachlasses, den sie dem Filmmuseum Berlin als Dauerleihgabe anvertraut hat. In diesem Nachlass befinden sich viele Dokumente, die für unsere Ausstellung und dieses Buch große Bedeutung haben. Auch Eva Diekmann, der Nichte von Friedrich Wilhelm Murnau, sei gedankt, die den Nachlass über lange Zeit verwahrt und gepflegt hat.

Murnaus Filme sind beredt und voller Zwischentöne, auch wenn es in ihnen noch keine gesprochenen Dialoge, keine originalen Geräusche, keine synchronen Töne gibt. „Stummfilm“ – das klingt weit entfernt. Aber wenn wir uns in den Bildern, in den melancholischen Träumen und Albräumen befinden, dann kann es eine Nähe geben, die das Damals mit dem Heute verbindet. Murnau entdecken!

Hans Helmut Prinzler (Hg.): Friedrich Wilhelm Murnau. Der Melancholiker des Films. Berlin 2003.