Marcel Ophüls 75

Geburtstagsrede in der Akademie der Künste

Meine Damen und Herren,

ich heiße Sie herzlich willkommen und tue dies auch im Namen von György Konrád, der mir sein Grußwort mit übertragen hat. Eigentlich sollte ich nur eine Einführung in den Film november days geben. Andererseits sollte es auch eine Laudatio werden. Denn am Freitag ist der Filmemacher Marcel Ophuls 75 Jahre alt geworden.

Wir gratulieren ihm heute, wir grüßen ihn aus der Ferne – denn er ist nicht bei uns. Einige Missverständnisse im Vorfeld dieser Veranstaltung haben ihn zur Absage bewogen. Nun trage ich allein die Verantwortung und freue mich einfach über Ihr Interesse an Marcel Ophuls und dem Film november days.

Marcel Ophüls geboren 1927 in Frankfurt am Main, Sohn eines berühmten Vaters, aufgewachsen im Exil, in Paris und Hollywood, macht Filme seit 1957. Zuerst waren es Kurzfilme, dann zwei Spielfilme, seit 1967 sind es Dokumentarfilme. Das Wort Dokumentarfilm liebt er nicht. Das klingt ihm zu spröde und langweilig. „Nonfiction“ ist ihm dann schon lieber als Begriff. Aber eigentlich interessiert er sich überhaupt nicht für Begriffe und Definitionen. Nichts darf für ihn festgeschrieben werden. Bilder, Gedanken, Gespräche sollen beweglich und lebendig sein – auch wenn es immer wieder um den Tod und die Vergangenheit, um Fragen von Schuld und Sühne geht.

Mit acht großen Werken hat Marcel Ophuls inzwischen Dokumentarfilmgeschichte gemacht. Die vier bekanntesten sind: le chagrin et la pitié (1969), the memory of justice (1973-76), hotel terminus (1985-87) und november days (1990) – den wir heute zeigen. Zuletzt entstand sein Film the troubles we’ve seen zur Geschichte der Kriegsberichterstattung (1994).

Die Filme von Ophüls sind intensive Forschungsreisen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts. In le chagrin et la pitié geht es um die französische Résistance 1940-1944 in Clermont-Ferrand, in the memory of justice um die Nürnberger Kriegsverbrecher-prozesse, in hotel terminus um Klaus Barbie, den Gestapochef von Lyon während der Nazizeit, in november days um die Deutsche Einigung 1989/90.

Die Fragestellungen von Marcel Ophuls sind ausgreifend und heutig, nicht historisierend. In the memory of justice konfrontiert er die Nürnberger Prozesse mit dem Algerien- und dem Vietnamkrieg. Er setzt nicht gleich, er stellt gegenüber. Wir sollen beim Sehen und Hören begreifen und denken. Ophuls will nichts als These beweisen, er will auf Phänomene hinweisen. Manchmal auf Parallelen, manchmal auf Unterschiede, oft auf Paradoxa.

Ausgangspunkt für die Forschungsreisen von Ophuls sind in der Regel Archive. Er sucht (und findet) Dokumente, offizielle, aber auch scheinbar unbedeutende. Bilder, Töne, Schriftstücke, Objekte. Über dieses Material führt Ophüls Gespräche. Er redet mit Zeitzeugen, mit Verantwortlichen, Betroffenen, Beobachtern, mit Tätern und Opfern.

Diese Gespräche stehen im Zentrum der Arbeit von Marcel Ophuls. Sie sind ein Tel des Geheimnisses seiner Kunst. Ophuls bringt Menschen zum Erzählen. Durch Neugierde, Nachfragen, Provokationen, Gedankensprünge, Umwege, Widersprüche, durch Charme und Härte, Nähe und Distanz. Jeder seiner Gesprächspartner behält seinen individuellen Charakter, auch Randfiguren bleiben präsent.

Eine zweite künstlerische Komponente bei Ophuls ist die Montage. Er collagiert das Archivmaterial mit den Gesprächen und fügt oft noch eine provokante, ironische Ebene hinzu, indem er sich in der Film- und Musikgeschichte bedient und Zitate als subjektive, oft polemische Kommentare einsetzt. Niemals gibt es dagegen direkte verbale Kommentare, es fehlt jeder belehrende Ton.

Die Filme von Marcel Ophuls sind keine „Fernsehsendungen“ – auch wenn das Fernsehen in der Regel der Auftraggeber ist – die Filme sind Werke. Für hotel terminus hat Ophuls 82 Interviews geführt, 120 Stunden Material gefilmt, war zwei Jahre lang in fünf Ländern und 18 Städten unterwegs. Und der Viereinhalbstundenfilm ist ein spannendes, komplexes Panorama der Zeit – übrigens auch der Zeit, die seither vergangen ist.

Im Kern geht es bei Ophuls immer um die Frage nach der individuellen Verantwortung im Rahmen kollektiven Verhaltens. Er beantwortet sie in einem offenen, essayistischen Stil, in den er sich auch als fragender Autor sichtbar und hörbar einbringt. Das klingt einfacher als es ist, denn es ist verbunden mit einer existentiellen Mitwirkung, die dem Autor eine starke Präsenz abverlangt.

Was er uns abverlangt, sind Aufmerksamkeit, Interesse und Zeit. Die oft mehrstündigen Filme lagen nie im Trend. Sie haben Ophuls auch fast regelmäßig in ermüdende Kämpfe mit Produzenten und Fernsehhierarchen verstrickt, die er nie diplomatisch geführt, aber oft als Sieger beendet hat. Ophuls gilt als schwierig. Für einen Filmemacher und Künstler ist das natürlich ein Kompliment.

„Widerrede und andere Liebeserklärungen“ nannten die Herausgeber Ralph Eue und Constantin Wulff 1997 ihre Edition der Texte von Marcel Ophuls zu Kino und Politik. Das hat dem Autor gut gefallen. „Dass Widerreden eine verkappte Art von Liebeserklärungen sind, das ist doch eine fabelhafte Einsicht zum Leben überhaupt“, schrieb er ihnen.

Ophuls hat eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Zuspitzung, mit der er viele Dinge zugleich einfach und kompliziert macht. Er nennt beim Namen, er liebt und verachtet, schwärmt und polemisiert. Immer wieder spielt dabei auch sein Vater eine Rolle. Aber seine Zuneigung gilt auch François Truffaut, Frank Capra, Ernst Lubitsch, Fred Astaire. Natürlich ist Marcel Ophuls ein homo politicus – sonst hätte er diese großen Filme gar nicht machen können.

Schade eigentlich, dass der erste Spielfilm von Marcel Ophuls, peau de banane (heisses pflaster) aus den frühen sechziger Jahren, mit Jeanne Moreau und Jean-Paul Belmondo, fast vergessen ist. Über die Jahre ist er unter dem Mythos und der Bedeutung der großen Dokumentarfilme begraben worden. Damals war das ein intelligenter, eigensinniger Genrefilm.

Sie sehen jetzt den Film november days, gedreht in Berlin 1990. Der unmittelbare Reiz für uns heute: Mit den in zwölf Jahren gesammelten Erfahrungen den Film aufzufüllen. Sie werden in diesem Film einige der Autorenmerkmale von Marcel Ophüls wiederfinden, die ich zu beschreiben versucht habe: den archivarischen Ausgangspunkt – das sind die Aufnahmen vom 9. November 89, die Gespräche als Basis der Montage, die Selbstdarstellung des Autors, die Montage mit Material aus dritten Quellen. Das sind hier Szenen aus dem blauen engel, stagecoach, julius cesar, to be or not to be, menschen am sonntag, der hauptmann von köpenick (in der Version 1931) und cabaret. Es sind die Stimmen von Lotte Lenya, Fred Astaire, Paul Hörbiger, Curt Jung und Sylvia Wintergrün, Bing Crosby und Joseph Schmidt.

Vor 13 Jahren fiel – einigermaßen überraschend – die Mauer. Der Film november days von Marcel Ophuls ist bis heute eines der unmittelbarsten und originellsten Dokumente jener Zeit. Sie sehen bekannte und unbekannte Personen, manche der bekannten Personen haben sich verändert, manche sind nicht mehr am Leben – das gibt dem Film eine zusätzliche Lebendigkeit. Wir sehen diesen Film in einer Videoprojektion als Gratulation zum 75. Geburtstag des Autors. Ich weiß, dass Sie jetzt zwei interessante Stunden erleben werden. Und das müsste dem Autor eigentlich gut gefallen. Danke, dass Sie gekommen sind, Dank an Marcel Ophuls, dass es ihn gibt, auch wenn er heute nicht hier ist.

Berlin, Akademie der Künste, Studio, 3. November 2002