Texte & Reden
11. April 2002

Unterwegs mit Werner Herzog

Text für eine Publikation von Beat Presser

15 persönliche Erinnerungen

     1.

Im Juni 1968 habe ich meinen ersten Werner Herzog-Film gesehen: lebenszeichen. Im Zoo-Palast, während der Berlinale. Der Film erzählt vom individuellen Krieg eines deutschen Fallschirmjägers (er heißt Stroszek) auf einer griechischen Insel 1942. Sonne, Hitze, Natur. Nie werde ich jene Szene vergessen, in der auf einer Ebene, im Tal, tausend Windmühlen kreisen und surren, angetrieben von unsicht-baren, magischen Kräften. Eine Vision.

     2.

In den sechziger und siebziger Jahren fuhr ich regelmäßig zur Mannheimer Filmwoche, neugierig auf neue Filme. 1971 sah ich dort land des schweigens und der dunkelheit. Eine Reise ins Innere der Menschen, das Porträt einer Taubblinden. Die Grenz-erfahrung wird mit Sprache und Bildern erarbeitet. Der Schlusstitel heißt: „Wenn jetzt ein Weltkrieg ausbrechen würde, würde ich das nicht einmal bemerken.“ Das sagt Fini Straubinger, die Protagonistin. Ich sehe sie vor mir.

     3.

AGUIRRE, DER ZORN GOTTES. Die Reise eines spanischen Erobe-rers, der 1560 die Anden überquert und den Amazonas hinunterfährt, auf der Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado. Nie zu ver-gessen: Klaus Kinski am Ende allein auf dem Floß, umgeben von Affen, wahnsinnig. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich den Film zuerst im Fernsehen gesehen, vermutlich in Schwarzweiß. Kinopremiere und Fernsehausstrahlung (ARD) fanden zeitgleich statt, im Januar 1973. Schon damals war die Kinowelt in der Bundesrepublik nicht ganz in Ordnung.

     4.

In den siebziger Jahren begann man nach Hof zu fahren, zu den Filmtagen von Heinz Badewitz. Seit 1968 liefen dort auch Filme von Werner Herzog. Mein erster Herzog-Film in Hof war 1974 jeder für sich und gott gegen alle, der Kaspar Hauser-Film. Eine Reise in die Bieder­meierzeit. Mit dem Hauptdarsteller Bruno S., der 23 Jahre in Pflegeheimen zugebracht hatte. Herzog selbst hielt den Hauser-Film für seinen besten bis dahin. – In Hof wurde von Anfang an Fußball gespielt. Herzog stand, wenn er vor Ort war, immer in der Sturmmitte. Bis heute gilt er als Torschützenkönig (mindestens neun Treffer werden ihm zugeschrieben).

     5.

Lotte Eisners Bücher Die dämonische Leinwand und  Murnau waren mir Herzenslektüre seit den sechziger Jahren. Emotional wichtiger als Kracauers Von Caligari zu Hitler, weil sie näher an den alten, großen Filmen der Zwanziger waren, die ich damals kennen lernte. Vom 23. November bis 14. Dezember 1974 ist Werner Herzog von München nach Paris gelaufen, weil Lotte Eisner dort krank danieder lag und er dachte, sie werde am Leben bleiben, wenn er zu Fuß zu ihr käme. Sie blieb am Leben. Ich konnte den ganzen Vorgang damals kaum glauben. Weder die Entfernung, die Herzog zurückgelegt hatte, noch sein Motiv. Vier Jahre später wurden Einzelheiten bekannt, durch das Buch Vom Gehen im Eis. Auf dem Cover macht Herzog einen Salto. Die Beschreibung seiner Pilgerreise ist ein ergreifendes Stück persönlicher Prosa.

     6.

Von 1974 bis 1992 erschienen im Carl Hanser Verlag 45 Bände der Reihe Film, der „Blauen Reihe“, herausgegeben von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek. Werner Herzog ist der einzige Regisseur, dem zwei Bände gewidmet wurden: 1976 Band 9 (zusammen mit Alexander Kluge und Jean-Marie Straub), 1979 Band 22 (allein). Ich habe für beide Bände die Daten recherchiert. Filmografisch war das einfach, weil Herzogs Produktionsfirma sehr hilfsbereit war. Biografisch habe ich es mir leicht gemacht: Ich fand viele Informationen, die Herzog verbreitet hatte, zwar befremdlich, aber schön und dachte, wenn er das so erzählt, soll es wahr sein, bis ein anderer es widerlegt.

     7.

STROSZEK. Ein Straßenmusikant (Bruno S.), sein greiser Nachbar (Clemens Scheitz) und eine Prostituierte (Eva Mattes) fahren von Westberlin nach Wisconsin, um dort ihr Glück zu machen. Sie scheitern an den Spielregeln des freiheitlichen Kapitalismus. Das Mädchen haut ab, der Greis wird verhaftet, der Musikant bringt sich um. Kaum zu glauben, daß man so eine Tragödie auch als Komödie erzählen kann. Zum Wettbewerb der Berlinale wurde der Film 1977 nicht zugelassen. Ich sah ihn damals in der Deutschen Reihe und dann noch einmal in Hof. Es ist bis heute einer meiner Lieblingsfilme von Werner Herzog.

     8.

Februar 1979: nosferatu – phantom der nacht im Wettbe-werb der Berlinale. Werner Herzog und Friedrich Wilhelm Murnau. Gemeinsam ist ihnen ihr Interesse an Außenseitern. Klaus Kinski, Bruno Ganz und Isabelle Adjani sind bei Herzog das, was Max Schreck, Gustav von Wangenheim und Greta Schröder 1922 bei Murnau waren. Bei Herzog lebt Jonathan als Vampir fort, denn das Böse kann nicht ausgerottet werden: im letzten Bild entfernt er sich in die Weite der Welt. Der amerikanische Sammler Forry Ackerman hat uns 1985 eine Kinski-Nosferatu-Maske vermacht, die irgendwie nach Hollywood gekommen war. Sie hat im Filmmuseum einen exponierten Platz.

     9.

FITZCARRALDO: Die Geschichte eines Visionärs, der ein Opern-haus im Urwald bauen will und ein Schiff über einen Berg ziehen lässt. Nichts wird bei Herzog simuliert, seine Kunst erfordert Anstrengung. Wieder spielte Klaus Kinski für Herzog einen Wahnsinnigen, aber hier war er kein böser Diktator, sondern ein glühender Phantast. Und: Claudia Cardinale war dabei. Die Schöne als Puffmutter. Ich war beeindruckt.

     10.

Die Bilder. Bis 1983 hat Herzog, wechselnd, nur mit zwei Kamera-männern zusammengearbeitet: Thomas Mauch und Jörg Schmidt-Reitwein. Ich nenne sie, weil ich den allergrößten Respekt vor ihnen habe: wie sie den Abenteurer Herzog auf den extremsten Wegen begleiten und unvergessliche Bilder herstellen.

     11.

Über cobra verde sind die deutschen Kritiker wie die Geier hergefallen: peinlich, schmutzig, eklig, womöglich faschistisch. Kollektive Verurteilungen sind mir unangenehm. Klaus Kinski spielte einen Goldsucher im 19. Jahrhundert, der zum Banditen wird. Wir erleben seinen Aufstieg vom Sklavenhändler in Brasilien zum Vize-könig in Afrika. Wieder eine Schlussszene, die man nicht vergisst: der gescheiterte Held, verfolgt von einem leprösen Krüppel, versucht vergeblich, ein Boot ins Meer zu ziehen, und versinkt in der Brandung.

     12.

Aus Werner Herzogs „Rede über Deutschland“, die er 1984 in den Münchner Kammerspielen gehalten hat, sind mir die Feststellung und die Frage in Erinnerung, „dass Deutschland ein ganz verlassenes Land ist, dass es sicherlich wiedervereinigt wird, aber was hält es denn eigentlich zusammen?“. Und aus seinem Playboy-Interview (1977) die Überzeugung: „Meine Filme werden die Leute noch in 200 Jahren anschauen“ und (wieder einmal) der Schluss: „Was meine Existenz ausmacht, das können Sie durch meine Filme einkreisen. Einfach deswegen, weil da immer wieder die Hose runtergelassen wird.“

     13.

Ich erinnere mich an Werner Herzog-Filme im Fernsehen: die fliegenden ärzte von ost afrika (1970, ZDF), die grosse ekstase des bildschnitzers steiner (1975, ARD), la soufrière (1977, ARD), ballade vom kleinen soldaten (1984, ZDF), lektionen in finsternis (1992, Premiere), die verwandlung der welt in musik (1996, ZDF). Die Bilder sprengten den Bildschirm. Kino, Kino! Weil Herzogs Dokumentationen auch immer Fiktionen sind.

     14.

Klaus Kinski starb im November 1991. Fünfmal hatte er für Werner Herzog gespielt. Sieben Jahre später widmet ihm Herzog einen langen, abenteuerlichen Dokumentarfilm: mein liebster feind. Man sieht, wie zwei Antipoden aufeinanderprallen (historisches Material) und wie sich Herzog auf Spurensuche begibt. Wieder ein geniales Schlussbild: Kinski spielt, lächelnd, staunend, selbstvergessen, mit Schmetterlingen (gedreht von Les Blank). Herzog war offenbar unsicher, ob dies kitschig sei. Finde ich nicht.

     15.

Im Sommer 2001 zeigte mir der Fotograf Beat Presser seine wunder-baren Aufnahmen von den Dreharbeiten zu invincible. Bilder von magischen Szenen. An einem Spätnachmittag im März 2002 habe ich im CineStar 6 des Sony Center den Film gesehen. In der englisch-sprachigen Originalfassung. Er ist in vieler Hinsicht beeindruckend. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum ich in dieser Vorführung der einzige Zuschauer war.

     16.

Seit 34 Jahren begleiten mich Filme von Werner Herzog durch mein Leben. Oder besser: ich begleite Werner Herzog bei seinen Erkundungen durch die Welt. Nach Kos und Kreta, in die Sahara, nach Lanzarote und Peru, Dinkelsbühl, Alaska und Guadeloupe, nach Wisconsin und Transsylvanien, Australien und Brasilien, ins 16., 17. und 19. Jahrhundert, ins Innere der widersprüchlichsten Außenseiter. Persönlich bin ich Werner Herzog selten begegnet. Aber er gibt mir immer wieder die Möglichkeit, ihm, dem Abenteurer, bei der Arbeit zuzusehen.

In: Beat Presser (Hg.): Werner Herzog. Berlin: Jovis 2002