Texte & Reden
10. April 2002

BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT

Text zu einem Buch über die Sinfonie-Filme

     Berlin 1927

Neun Ereignisse, chronologisch: Im Januar hat der visionäre Film metropolis von Fritz Lang im Ufa-Palast am Zoo Premiere; seine Produktionskosten bringen die Ufa an den Rand des Ruins. Im Februar nimmt die hoch verschuldete Stadt eine neue 6%-Anleihe über 90 Millionen Reichsmark auf. Im März kommt es auf dem Bahnhof Lichterfelde-Ost zu blutigen Zusammenstößen zwischen Anhängern der KPD und der NSDAP. Im April wird der Grundstein zur Künstlerkolonie in Friedenau gelegt. Im Mai hält Adolf Hitler seine erste Rede vor der NSDAP in Kreuzberg. Im Juni verliert Hertha BSC vor 60 000 Zuschauern im Grunewaldstadion das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft 0:2 gegen den 1. FC Nürnberg. Im Juli werden dem Maler Max Liebermann zu seinem 80. Geburtstag die Ehren-bürgerrechte der Stadt verliehen. Im August veranstaltet die SPD eine Massenkundgebung „Gegen Krieg und Kriegsgefahr, für Frieden und Sozialismus.“ Am 23. September wird im Tauentzien-Palast der Film Berlin. Die Sinfonie der Grossstadt von Walther Ruttmann uraufgeführt. Er trägt die Prädikate „künstlerisch“ und „wertvoll“.

     Berlin, sinfonisch, I. Akt

Wasser, Wellen, Linien, Kreise, Bewegung, Beschleunigung. – Lokomotive, Eisenbahn, Gleise, Räder, Schranken, Landschaft, Bäume, Telefondrähte, Brücken, Himmel, Geschwindigkeit. – BERLIN 15Klm. – Laubenkolonien, Industrie-anlagen, Kohlehalden, Vorortbahnhöfe, Güterzüge, Gasometer, Wohnhausfassaden, Reklamewände. Die Fahrt wird langsamer. Weichen, ein Signal. Einfahrt in den Anhalter Bahnhof, die Lokomotive hält. BERLIN. – Die Stadtmitte von oben. Dächer, der Dom, das Rote Rathaus, die Zeiger am Turm auf 5 Uhr morgens. Der Schloß-platz, leere Straßen, geschlossene Geschäfte. Puppen im Schaufenster, eine Zeitung im Rinnstein. Ein Wachmann mit Hund, eine streunende Katze. Eine Litfaßsäule, der Plakatkleber kommt. Nachtbummler schlendern nach Hause, zwei Schupos auf früher Streife. – Tore öffnen sich, ein Eisenbahndepot. Eine Straße, ein Mann macht sich auf den Weg, ein zweiter Mann kommt hinzu, ein dritter Mann, ein Fahrradfahrer, Männer in Gruppen. Eine Straßenbahn, ein Bus, eine Haltestelle, die Stadtbahn, der Bahnhof, Treppen, viele Menschen. Ein Fabriktor öffnet sich. Arbeiter in Eile, eine Tierhorde, eine Kompanie Soldaten. Ein Leierkastenmann, Menschen auf einer Brücke, Schornsteine. Tiere werden in den Schlachthof getrieben, Arbeiter gehen in die Fabrik, Umkleideräume. – Ein Hebel wird gedrückt, Räder bewegen sich, Maschinenarme greifen, Kolben gehen auf und nieder. Sägen, Bohren, Fräsen, Schleifen. Glühbirnen, Milchflaschen, Brote. Eine Walzstraße, Stahl. Feuer, Schornsteine. – Ende des I. Akts.

     Mayers Idee

Carl Mayer (1894-1944), kongenialer Drehbuchautor der zwanziger Jahre, hat beschrieben, wie ihm der Gedanke an einen Berlin-Film in den Kopf kam: „Berlin hat für mich seit je irgendeine, meine innere Welt lösende, mich zum produktiven Erleben steigernde Gewalt. Entscheidende Einfälle, wie der zum caligari oder zu scherben oder zu sylvester, zum letzten mann und manche andere, irgendwie danke ich sie den Straßen und Stätten, der Luft Berlins. So ging ich wieder einmal, von Plänen zu einem Film aus der Großstadt erfüllt, im Abenddämmer vom Bahnhof Zoo zur Gedächtniskirche. Züge donnerten. Lichter! Autos! Menschen! Alles schnitt sich ineinander! Von den Abendglocken der Kirche überklungen. Da überkam es mich jäh. Berlin! Wunderbare Stadt! Wie – wenn man einmal an Stelle eines Schauspielers dich selbst zum Hauptdarsteller, zum Helden eines Films erwählte? – Und da stieg auch schon der Titel in mir auf: Berlin, Berlin eine Sinfonie, Berlin die Sinfonie, Berlin die Sinfonie der Großstadt!“ (B.Z. am Mittag, 27.9.1927). So hymnisch und vibrierend darf man sich das bei Carl Mayer ruhig vorstellen – auch wenn diese Gedanken zu keinem Drehbuch werden, auch wenn sich Mayer mit dem Film von Ruttmann nicht identifizieren kann. Im Vorspann steht: „Vorbereitung: Walther Ruttmann, Karl Freund (nach einer Idee von Carl Mayer)“.

     Berlin, sinfonisch, II. Akt

Türen und Fenster werden geöffnet, Treppen geputzt. Ein Obstkarren fährt auf die Straße. Schüler, Bäcker-jungen, Dienstmädchen machen sich auf den Weg. Müllmänner leeren die Tonnen, Briefboten verlassen die Post, Kinder betreten die Schule. 8 Uhr. – Rollläden und Jalousien gehen hoch, Geschäfte öffnen: Cigarren, Schlachterei, Silberwaren, Juwelen, Moden, Friseur. Reiter kommen auf Pferden aus einem Stall, traben durch den Park. Ein Auto fährt aus der Garage. Teppiche werden geklopft, eine Straße wird gereinigt, ein Schutzgitter versenkt. Passagiere besteigen Busse, ein Direktor steigt in sein Auto. Ein Schuhputzer putzt Schuhe. – Vorortzüge, Treppen, ein Bahnhof, eine U-Bahn wird abgefertigt, fährt durch den Tunnel, Fahrgäste lesen Zeitung. Stationen, Straßen, Geschäfte, Kaufhäuser, Personaleingänge. Die Menschen haben es eilig. Beine, Treppen, Fahrstühle, ein Paternoster. Schreibtische werden geöffnet, Schreibmaschinen startklar gemacht, Ärmelschoner übergezogen, Tasten gedrückt, ein Bilderwirbel. Telefone, Finger in den Wähl-scheiben, Relais, Verbindungen, Telefonistinnen. Der Vormittag hat seinen Rhythmus gefunden. – Ende des II. Aktes.

     Querschnitt

Der Querschnitt heißt eine berühmte Kulturzeitschrift der zwanziger Jahre. Kino und Zeitung gelten ihr als die idealen Produkte der Zeit. Ihr Programm beschreibt der Herausgeber Hermann von Wedderkop: „Spielerischer Ausdruck einer idealen Wirklichkeit, die frisch geschehene, unverfälschte, unverklärte Wirklichkeit, mit großem Stadtausschnitt, Bäumerauschen, Brandung, Eleganz, Technik, Sport, bekannten und anonymen Gesichtern und dem ganzen wunderbaren Durcheinander. Wirklichkeit ist heute Qualitätsprobe, Voraussetzung für das Wort ‘neu’. Dass man sie selten findet, beweist, wie schwierig es ist, sie einzufangen und künstlerisch zu präsentieren. Dazu gehört Phantasie, denn im Grunde genommen ist Wirklichkeit stets das Phantastischste. Phantasie ist nicht ins Wesenlose schweifende Erfindung, sondern Kombinationsgabe. Sehen des Wesentlichen und Aussondern des Toten. Wirklichkeit ist Synonym für Echtheit, Erlebnis, Lebendigkeit.“ (Der Querschnitt, xxx). Damit ist auch das Programm des Films berlin. die sinfonie der grossstadt formuliert. Ein Querschnittfilm.

     Berlin, sinfonisch, III. Akt

Eine U-Bahn kommt aus dem Tunnel. Baustelle, Bagger, Kräne, Rammböcke. – Straßenbahnen, Busse, Menschen. Straßenhändler, Neugierige. Zwei Männer geraten in Streit, Schaulustige mischen sich ein, ein Schupo schlichtet. Straßenverkehr in den Bilddiagonalen. Eine Litfaßsäule wird geöffnet: drinnen verbirgt sich Technik. Schaufenster, ein Café, Paare flanieren, die Damen tragen Hüte. Aus einem Taxi steigt eine Braut im weißen Kleid. In den Schaufenstern bewegen sich mechanische Puppen. Ein Polizist regelt den Verkehr. Eine Frau geht in die Kirche. Ein Pferd ist auf der Straße zusammengebrochen. Präsident Hindenburg begrüßt eine ausländische Delegation. Verbindungsstudenten marschieren auf, Arbeiter demonstrieren, es werden Volksreden gehalten. Die Heilsarmee sammelt. – Straßenbahnen, Busse, Taxis fahren quer durch die Bilder. Ein Leichenwagen ist festlich dekoriert. Überdimensionale Figuren laufen für Bullrichsalz Reklame. – Bahnhof, Dampf, Züge, Schilder: Mannheim, Karlsruhe, Zürich, Luzern, Milano, Anhalter Bahnhof. Reisende kommen an. Kofferträger, Taxis. Ein Flugzeug startet, drei Flugzeuge in der Luft, im Himmel über Berlin. – Hotel Excelsior, Lobby, Ankunft von Gästen. Immer wieder: Busse, Straßenbahnen, Pferde-wagen, Straßenkreuzungen. Ein Bettler hebt eine weggeworfene Zigarettenkippe auf. Ein Polizist führt einen kleinen Jungen über die Straße, Fußgänger bringen sich vor Autos in Sicherheit. Die U-Bahn durchkreuzt die Stadt, fährt durch kleine Häusertunnel. Die Mittags-zeitungen erscheinen. 12 Uhr. – Ende des III. Aktes

     Der Freund von Fox-Europa

Unter den superben deutschen Kameraleuten der zwanziger Jahre – Werner Brandes, Curt Courant, Karl Freund, Karl Hasselmann, Carl Hoffmann, Günther Krampf, Günther Rittau, Eugen Schüfftan, Guido Seeber, Theodor Sparkuhl, Fritz Arno Wagner – ist Karl Freund (1890-1969) der wohl bedeutendste. Er führt in einzelnen Filmen von Dreyer, Dupont, Lang, Lubitsch, Oswald und Wegener die Kamera und in fast allen von Friedrich Wilhelm Murnau. Er experimentiert und erfindet – „die entfesselte Kamera“. Mitte der Zwanziger ist er mit vier Filmen auf dem Höhe-punkt: der letzte mann, varieté, tartüff, metropolis. Da nimmt er ein Angebot der amerikanischen Fox-Studios an und wird Produktionschef der Fox-Europa-Filmproduktion. Er kann es sich in dieser Position leisten, Experimente zu unterstützen. So finanziert er Ruttmanns berlin-Film und leistet direkt Hilfestellung. Er entwickelt ein besonders hochempfindliches Filmmaterial, mit dem man sogar in der Nacht außen drehen kann. Wenn man seinen späteren Erzäh-lungen glauben will, hat er verschiedene Szenen mit versteckter Kamera aus Lastwagen, mit einem präparierten Koffer oder per Fernsteuerung auch selbst aufgenommen. Im Gegensatz zu Carl Mayer identifiziert sich Karl Freund so stark mit Ruttmanns Film, dass er Ende der dreißiger Jahre in Amerika erklärt, den berlin-Film, der ohne Buch, ohne Schauspieler, ohne Team entstanden sei, habe er praktisch allein machen müssen. Von Ruttman ist da nicht mehr die Rede..

     Berlin, sinfonisch, IV. Akt.

Räder stehen still. Mittagspause auf der Baustelle. Pferde trinken. Menschen trinken. Tiere im Zoo: Elefanten, Kamele. Mittagessen für Menschen: Suppe, Fleisch. Ein Löwe frisst. Im Restaurant werden Schlemmerplatten serviert, Hektik in der Küche. Eine Würstchenbude. Kinder schlecken Eis. Ein Affe putzt sich. Abwasch, Abfall, Kinder suchen im Abfall etwas zu essen. Menschen ruhen sich aus. Gähnende Tiere. Mittagsschlaf. – Ein Lastkahn fährt langsam unter einer Brücke durch. Dampfer auf der Spree. Im Park fotografieren sich Paare. Kinder im Zoo. Kinder vor Mietskasernen. Ein Mädchen plagt sich mit einem Puppenwagen. Zwei Frauen schauen aus dem Fenster. Ein Hinterhof, zwei Musiker warten auf Spenden. Auf der Straße werden alte Kleidungsstücke begutachtet. In Gartencafés gibt es Kaffee. – Die Räder bewegen sich wieder. Aus der Druckmaschine kommen die nächsten Zeitungen, werden verpackt, transportiert, an die Boten verteilt, auf den Straßen verkauft. Schlagzeilen: Krise, Mord, Börse, Heirat, Geld, Geld, Geld. – Fahrt auf der Achterbahn (subjektive Kamera). Eine Bettlerin, ein Schmuckladen. Wind kommt auf, ein Hut auf der Straße, eine Selbstmörderin auf der Brücke, Augen (groß), Kreise im Wasser, sie ist gesprungen. Neugierige sind geschockt. Moden-schau, Tiger hinter Gittern. Achterbahn, Wind, Regen. Die Feuerwehr fährt aus, Glocke am Einsatzwagen, Polizei. Ein Hund schüttelt sich trocken. – Ende der Tagesproduktion. Die Räder stehen wieder still, die Schreibmaschinen werden verschlossen, die Arbeitsplätze aufgeräumt. Männer waschen sich, Menschen verlassen die Fabriken. Die Tore schließen sich – ein Schleusentor öffnet sich. Sportler im Boot, Kinder im Wasser, Segelboote. Seifenkistenrennen, Autorennen, Menschen rennen, Hunderennen, Pferderennen. Tennis. Läufer laufen ins Ziel. Früher Abend. Damen mit Hüten, Frauen pudern sich, Tanz, Modenschau. Paare im Park. Es dämmert. – Ende des IV. Aktes.

     Meisels Musik.

Der Komponist Edmund Meisel (1894-1930) ist durch zwei Filmmusiken zu Nachruhm gekommen: panzerkreuzer potemkin (Sergej Eisenstein, 1925) und berlin. die sinfonie der grossstadt. In beiden Fällen weicht er von der herkömmlichen Untermalungspraxis des Stummfilms ab und gibt den Bildern eine wirkungsvolle, rhythmisierende, durch Geräusche gesteigerte Akzentuierung. Zum berlin-Film: „Ich habe mich bemüht, mit möglichst großer Objektivität den Rhythmus und die Melodie jedes Vorganges dieses schon an sich musikalisch aufgebauten Filmes niederzuschreiben. Diese Objektivität ist nur von einer Konzession durchbrochen. Von der Rücksicht auf die Psyche des kosmopolitischen, arbeitenden Berliners. Ich habe, nicht des Effektes wegen, sondern um die Klangfarben meiner Komposition der Wirklichkeit anzupassen, technische Instrumente verwandt, allerdings alles noch begrenzt, um nicht durch zu gewaltsame Neuerungen die Aufnahme zu erschweren. Mein Bestreben geht dahin, eine musikalische Vorstoß-Arbeit zu leisten, die dem Ohr natürlich, ohne Anstrengung eingeht, meine Hoffnung, daß der Zuhörer sie sogar als altbekannt, als die Musik seiner täglichen Umgebung empfinden wird.“ (Film-Kurier, 20.9.1927). Bei der Aufführung im Tauentzien-Palast sitzen 70 Musiker im Orchestergraben, ein Vierteltonklavier ist in der Seitenloge positio-niert, im Publikum sind verschiedene Geräuschemacher verteilt. Für manche Zuschauer ist das offenbar ein übertriebener Aufwand, der von den Bildern eher ablenkt. Edmund Meisel stirbt, als die Ära des Stumm-films zu Ende geht.

     Berlin, sinfonisch, V. Akt.

Ein Hinterhof, eine Hausfassade, Lichter flammen auf. Straßen, hell erleuchtet, Autos. Das Atrium-Kino mit festlicher Front. Bahnen, Busse im Licht. Kinofassaden. Eine Lein-wand, Chaplin: sein Gang, seine Schuhe. Schaufenster: Mode, Anzüge, Wäsche. – Lichtreklamen. „…und abends in die Scala“. Eine Gardero-benfrau. Publikum im Parkett, das Orchester, der Dirigent, der Vorhang öffnet sich. Tänzerinnen, Trapezkünstler, ein Reiter auf der Bühne, ein Jongleur, Girls, Beine, der Vorhang fällt, Applaus. Das Publikum strömt aus den Theatern. Taxis fahren vor, ein Junge hält bettelnd die Hand auf. – Belebte Straßen, Paare, ein Hotel. Straßenbahnen. Die Kamera im Taxi, in schneller Fahrt. – Eishockey, Eislauf, Schnee, Skifahrer, wieder Eishockey. Sechs-Tage-Rennen, Boxkampf, ein Boxer geht k.o. Tanzende Paare im Boxring, eine Kapelle, tanzende Paare auf dem Parkett, bewegliche, wippende Beine. – Eine Baustelle bei Nacht, Gleisarbeiten, Straßenbahnen. Eine Eckkneipe, Biertrinker, ein eng umschlungenes Paar. Champagner, eine Bar, gemixte Drinks, ein Ballsaal, Luftballons, Tanz. Kartenspiel, Roulette, ein Bus fährt durch nächtliche Straßen, Bilder wirbeln im Kreis, Feuerwerk. Der Funkturm sendet Licht wie ein Leuchtturm. – Ende.

     Erste Reaktion

„Dies ist die Symphonie der Stadt. Dies ist ein Kinostück. Benommen steht man auf. Das Haus rast Beifall.“ (Leo Hirsch, Berliner Tageblatt, 24.9.1927)

     Ruttmann (1)

Am Tag der Uraufführung von berlin. die sinfonie der grossstadt ist Walther Ruttmann (vom h im Vornamen trennt er sich später) 39 Jahre alt. Geboren in Frankfurt am Main, musikalisch begabt. Nach dem Abitur beginnt er ein Architektur-studium in Zürich, dann wechselt er zur Malerei, nach München, studiert später bei Ubbelohde in Marburg. Plakatwettbewerbe bringen ihm Preise ein. Zu seinen Freunden gehören Paul Klee & Lyonel Feininger. Dem Wehrdienst 1913 folgen Kriegseinsätze ab August 1914. 1917 kehrt er als entschiedener Kriegsgegner von der Ostfront zurück. Er beschäftigt sich zunächst theoretisch mit Film, beginnt 1919 mit Bewegungsstudien, gründet in Bayern eine Filmgesellschaft, arbeitet neun Monate an seinem ersten abstrakten Film: lichtspiel opus i, eine Montage aus 10 000 einzeln eingefärbten Bildern. Zehn Minuten, über die Alfred Kerr nach der Berliner Premiere schreibt: „Hier flitzen Dinge, rudern, brennen, steigen, stoßen, quellen, gleiten, schreiten, welken, fließen, schwellen, dämmern; entfalten sich, wölben sich, breiten sich, verringern sich, kugeln sich, engen sich, schärfen sich, teilen sich, krümmen sich, heben sich, füllen sich, leeren sich, blähen sich, ducken sich; blümeln und verkrümeln sich. Kurz: Expressionis-mus in Bewegtheit. Ein Rausch für die Pupille. Aber kein Menschen-film.“ (Berliner Tageblatt, 16.6.1921) Bis 1925 entstehen drei weitere abstrakte Filme: lichtspiel opus 2, ruttmann opus 3, ruttmann opus 4. Ab 1923 lebt Ruttmann in Berlin, arbeitet an Werbefilmen mit, realisiert für Fritz Lang den „Falkentraum“ des nibelungen-Films, liefert Beiträge zu Lotte Reinigers Scheren-schnittfilm die abenteuer des prinzen achmed und Paul Wegeners lebende buddhas. In den Jahren 1926/27 entsteht berlin. die sinfonie der grossstadt.

     Kracauers Kritik

Der Rezensent Siegfried Kracauer (1889-1966), Analytiker des Films der Weimarer Republik, formuliert für die Frankfurter Zeitung einen der schlimmsten Verrisse des Berlin-Films: „Hei, wie geschafft wird, wie die Bildstreifen durcheinander rasen, damit nur jeder Provinzler – und viele Berliner gehören zu dieser Sorte Provinzler – sich an der Raserei berausche, an der Konfusion, den Gegensätzen, den Maschinenteilen, den Autobussen, die immer wieder einmal auf dem Potsdamer Platz sich kreuzen, den gymnastischen Schutzleuten, an dem ganzen blöden Getriebe, das zum Glück nicht Berlin selbst ist, sondern nur eine Summe verworrener Vorstellungen, die Literatengehirne über eine Großstadt ausgebrütet haben, wie sie nach ihren Begriffen sein soll. Diese Gehirne wissen nichts Besseres, als sich an dem sinnlosen Beisammen von Glanz und Elend, von Rechts und Links zu entzücken, weil eben der Sinn ihrer Großstadt darin besteht, die Kontraste ungelöst in sich einzuschlucken. Sie lassen den Beerdigungswagen hinter den rollenden Trambahnen herfahren, weil sie meinen, im Tod sei doch alles egal und das Leben gehe im Übrigen weiter: kurz, sie wissen nie und nirgends, worauf es in Wirklichkeit ankommt. “ (13.11.1927). Der Name Ruttmann wird in dem Text nicht erwähnt.

     Inhalt / Form

Entfernter als zwischen Kracauer und Ruttmann können die Vorstellungen von einem Stadtfilm, einem Berlinfilm kaum sein. Der eine – K. – will eine soziale Reportage, eine Chronik laufender Ereignisse, den großen Radius, die strukturierte Wirklichkeit, mensch-liche Anteilnahme, klare Haltung zur Realität, das dialektische Berlin. K. will vor allem: Inhalt. Der andere – R. – will unterhalten, Material und Bewegung organisieren, eine Sinfonie schaffen, komponieren. R. will vor allem: Form: „Straffste Organisation des Zeitlichen nach streng musikalischen Prinzipien. Vom zartesten Piano musste konsequent bis zum Fortissimo gesteigert werden. Moll und Dur mussten logisch ineinander übergeführt oder schroff gegeneinander gestellt werden. Ein Kontrapunkt musste entstehen aus dem Rhythmus von Mensch und Maschine. Ich glaube, daß die meisten, die an meinem Berlin-Film den Rausch der Bewegung erleben, nicht wissen, woher ihr Rausch kommt. Und wenn es mir gelingt, die Menschen zum Schwingen zu bringen, sie die Stadt Berlin erleben zu lassen, dann habe ich mein Ziel erreicht.“ Aber K. ist an Rausch und Schwingung nicht interessiert.

     Expressionismus / Neue Sachlichkeit

Der Beginn der zwanziger Jahre – das ist im deutschen Film, in der Literatur, in der Bildenden Kunst „Expressionismus“, Ausdruck der Erfahrungen und Verletzungen des Ersten Weltkriegs. Ängste, Träume & Traumata, Horror, Tod, Wahnsinn. In den Filmbildern dominieren Licht und Schatten, Allegorie und Theatralik, Künstlichkeit und Stilisierung: das cabinet des dr. caligari (Robert Wiene), der müde tod (Fritz Lang), nosferatu (Friedrich Wilhelm Murnau), das wachsfiguren-kabinett (Paul Leni). Die Filme spielen zwischen Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit, Tag und Nacht, Gestern und Morgen. Ihre dunklen, unheimlichen Stimmungen gelten im Ausland als typisch deutsch. Später wird man davon etwas im Horrorfilm und im Film Noir im Hollywood der dreißiger und vierziger Jahre wiederfinden, mit-genommen ins Exil, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. In der Mitte der zwanziger Jahre gibt es einen Wandel des Zeigens und Sehens, vor allem im Film, in der Fotografie, in der Malerei, der mit dem Begriff „Neue Sachlichkeit“ belegt wird. Keine subjektiven Verzerrungen mehr, sondern Realismus, Objektivität, Leben. Das verbindet sich mit Regisseuren wie G. W. Pabst, Bruno Rahn, Robert Siodmak, mit Filmen wie die freudlose gasse, dirnen-tragödie, menschen am sonntag. Auch Ruttmanns berlin-Film wird der Neuen Sachlichkeit zugeordnet.

     Ruttmann (2)

Der Erfolg des berlin-Films verhilft Ruttmann nicht zu einer wirklichen Karriere. Er experimentiert mit Ton, es entsteht der Dokumentarfilm deutscher rundfunk. Für die Hamburg-Amerika-Linie realisiert er den Montagefilm melodie der welt, der in Frankreich erfolgreicher ist als in Deutschland. In den folgenden Jahren arbeitet Walter Ruttmann in Paris (u.a. für Abel Gance) und in Berlin (feind im blut – ein Aufklärungsfilm über Syphilis, in der nacht – eine musikalische Studie). In Italien realisiert er 1932 einen Spielfilm aus dem Milieu der Stahlarbeiter Acciaio (arbeit macht glücklich), ab 1933 ist er wieder in Deutschland beschäftigt, mit Auftragsfilmen (altgermanische bauernkultur), Werbe-filmen (für Mannesmann, Bayer, Henkel), Städte­filmen (Düsseldorf, Stuttgart, Hamburg). Für Leni Riefenstahls triumph des willens dreht er eine später nicht verwendete Rahmenhandlung. Von den Industriefilmen gibt es einen fast unmittelbaren Übergang zu den Wehrmachtsfilmen: deutsche waffenschmieden, deutsche panzer (beide 1940). Zuletzt entsteht ein Film gegen die volks-krankheit krebs. Walter Ruttmann stirbt am 15. Juli 1941 in Berlin an den Folgen einer Operation.

     Symphonie einer Weltstadt

1941 erzählt der Autor, Produzent, Kameramann und Regisseur Leo de Laforgue (1902-1980) dem Völkischen Beobachter, dass er seit 1936 an einem Film arbeitet, der symphonie einer weltstadt heißen soll: „Seit den Tagen der Olympiade arbeite ich in den Straßen Berlins an Schnappschuss-aufnahmen, die später die Unterlage zu einem großen Filmquerschnitt mit dem Thema ‘Gigant Berlin’ ergeben sollen. Sobald das Wetter einigermaßen den photographischen Bedürfnissen entsprach, zog ich mit einer kleinen, unauffällig arbeitenden Normalfilmkamera über die Pflaster der Reichshauptstadt, um überall mit Schnappschüssen das Leben derart festzuhalten, wie es tatsächlich ist. Diese gefilmten Szenen sind der Urstoff zu einem rein filmischen Film, der jegliches photographiertes Theater verbannen und der Eigengesetzlichkeit der Filmkunst bis zum letzten entgegenkommen will. Vorbilder sind die bekannten Dokumentarfilme von Leni Riefenstahl, Walter Ruttmann, Curt Oertel und Fritz Hippler. Ich habe angefangen, die ungeheuren Möglichkeiten der Weltstadt Berlin filmisch zu erfassen. Abertausende Meter Film haben bisher nie wiederzubekommende Szenen aus dem tausendfältigen Getriebe der Weltstadt Berlin innerhalb vier Jahren festgehalten. All diese Szenen sind mir Bausteine zu einem gewaltigen filmischen Mosaikgemälde der Stadt, die nach dem Willen der Führers zur ewigen Hauptstadt des ersten deutschen Volksreiches werden soll.“ (Völkischer Beobachter, 6.4.1941) Der fertige Film, 2600 m lang, wird im März 1943 verboten und bis zum Kriegsende nicht aufgeführt. Die NS-Machthaber fürchten offenbar, daß die Bilder eines unzerstörten Berlins unliebsame Sehnsüchte wecken könnten. 1950 wird der Film von Laforgue umgearbeitet und – mit einem Kommentar von Friedrich Luft – für die Kinos in der Bundesrepublik zugelassen. Die Uraufführung findet am 1. Oktober im Berliner Marmorhaus statt. Ein späterer Ruhm bleibt dem Film versagt.

Quellen / Lesestoff

Fast alles über W.R. erfährt man aus einer Dokumentation von Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann, herausgegeben von den Freunden der Deutschen Kinemathek, Berlin 1989. Dort sind auch die von mir auszugsweise zitierten Texte von Ruttmann, Carl Mayer, Karl Freund, Edmund Meisel und Siegfried Kracauer vollständig abgedruckt. Daten und Fakten zu allen wichtigen mit berlin. die sinfonie der grossstadt verbundenen Personen finden sich in: CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. Hamburg 1984ff. In der Geschichte des deut­schen Films (Stuttgart, Weimar 1993) gehen Anton Kaes (Weimarer Republik), Klaus Kreimeier (Dokumentarfilm) und Christine Noll Brinckmann (Experimentalfilm) auf Ruttmann und seinen berlin-Film ein. Dem Komponisten Edmund Meisel ist eine Publikation des Deutschen Filmmuseums gewidmet (Frankfurt am Main 1984), herausgegeben von Werner Sudendorf. Über Karl Freund hat Frieda Grafe geschrieben: Sehen ist besser als machen. In: Gleißende Schatten. Berlin 1994. Über berlin. die sinfonie der grossstadt gibt es viel Lesestoff. Gelegentlich wird der Film auch gezeigt.

     Berlin 2001

In der Neujahrsnacht beginnt der Dokumentarist Thomas Schadt mit den Aufnahmen zu seinem Film berlin: sinfonie einer grossstadt. Im Januar wird im Schauspielhaus wieder ein Preußenjahr eröffnet. Ab Februar strömen 1,2 Millionen Neugierige zu den „Körperwelten“ im Postbahnhof. Im März wird die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gegründet. Der April endet wieder mit Krawallen in Kreuzberg. Im Mai bezieht Bundeskanzler Schröder sein neu erbautes Amt („Waschmaschine“). Im Juni wird der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen gestürzt; sein Nachfolger heißt Klaus Wowereit. Im Juli treffen sich wieder 800.000 Raver zur Love Parade im Tiergarten. Im August jährt sich der Tag des Mauerbaus zum vierzigsten Mal. Im September wird das Jüdische Museum eröffnet; vor dem Brandenburger Tor gedenken 200.000 Berliner der Opfer der Terroranschläge in New York und Washington. Im Oktober sind bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus SPD und PDS die Gewinner. Im November öffnen sich neue Milliardenlöcher im Berliner Haushalt. Im Dezember stirbt der Schriftsteller Stefan Heym 88jährig. Sylvester 2001 beendet Thomas Schadt die Aufnahmen zu seinem berlin-Film, 35mm, schwarzweiß, ohne Originalton. Der Film beginnt mit einem Feuerwerk und endet mit Wellen, Wasser und flirrendem Licht.

In: Thomas Schadt: Berlin: Sinfonie einer Großstadt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2002, S. 147-164.