Texte & Reden
11. April 2001

The Flying Dutchman

Joris Ivens in der internationalen Filmgeschichtsschreibung

Weltfilmgeschichten, also globale Überblicke über die Entwicklung der internationalen Kinematographie und ihre wesentlichen Werke, gibt es seit Anfang der dreißiger Jahre. Einer der ersten, der den Mut zu einem solchen Überblick hatte, war der Engländer Paul Rotha (1907-1984), der in dem Buch „The Film Till Now“ (1930) ein Panorama des interna-tionalen Films entworfen hat – von einem engagiert politischen Stand-ort aus, mit Leidenschaft für den Film und in Kenntnis der zeitgenös-sischen Rezeption. Den Text von 1930 hat Rotha mehrfach ergänzt. So erschienen von dem Buch „The Film Till Now“ Neuauflagen bis in die sechziger Jahre, ab 1949 gemeinsam verfasst mit dem Filmhistoriker Richard Griffith (1912-1969). Welches Bild von Joris Ivens vermittelt sich in dieser ersten umfassenden internationalen Filmgeschichte? 1930 wird Ivens noch nicht erwähnt. 1949 heißt es einem Kapitel über den Beitrag Hollands zum Weltfilm (S. 611-613):

Joris Ivens, John Ferno and Helen Van Dongen are the three lustrous additions to cinema’s roster from Holland. Ivens’s masterpiece new earth (1931-34) is one of the milestones of documentary. Begun as a réportage of the draining of the Zuider Zee and its conversion into farmland, it emerged as a passionate attack on the economic methods which permitted dumping the products of the new-won ground into the sea, thereby anticipating the messages of the Rotha films world of plenty and the world is rich. Brilliantly observed, and even more brilliantly edited for propa­gandist purposes, it summed up as the record of a tragedy typical of modern life, that of a project begun on an epic scale and ending in anticlimax. Ivens had previously made PHILIPS-RADIO (1930), an exploration of sound-film possibilities which was one of the first industrially sponsored documentaries, and later, in the Soviet Union, komsomol (1932). Following an exposure of mining conditions in Belgium, the borinage (1933) with Henri Storck, which had to be made secretly, Ivens went to the United States. With American sponsorship, he made with Ernest Hemingway the brave anti-fascist films the spanish earth (1937) and the four hundred millions (1939), the latter being probably the most authentic film to be made about China.

In 1940, Pare Lorentz comissioned Ivens to make the power and the land, the record of a day in the life of an American farm centring round  the coming of electricity to rural districts and the human advantages it brings to farmers and their families. The film is an argument for rural co-operatives, but it is also, and deeply, an emotioinal impression of farm life, of planting and of harvest, of family relationship, of love for the land. During the war, Ivens worked for the U.S. Army Unit with Capra and for the National Film Board of Canada, and later became Film Commissioner for the Dutch East Indies, setting up head-quarters in Australia against the day when the Japa­nese should be driven out and peace and democracy be brought to the Indonesians. When neither peace nor democracy materialised, Ivens publicly broke with the Dutch Government, tore up his valuable contract, and determinedly added injury to insult by producing in Australia indonesia calling! (1946), a short reportage of the revolt of the Sydney waterfront workers who refused to load arms for the Dutch to be used against the embattled Indonesians. Made with practically no money and with every obstacle from the authorities, his film is typical of Ivens’s whole career, and explains why his waits for sponsorship have often been long. But his fine attitude, uncompro-mising and strong-principled, has won him more than it cost, including the respect and admiration of sincere film-makers everywhere. Almost all of his films are uncom­promisingly political and propagandist, but they differ from other political propaganda in being directly related to people, and revealing a serene und sunny belief in people whatever the darkness of the age. Ivens has now returned to Europe and is making a film about the Slav peoples, shooting in Poland, Yugoslavia, Bulgaria and Czechoslovakia. He is without question the most-travelled and internationally-minded of all documentary film-makers.“

In der präzisen Information und knappen Bewertung ist dies ein fast klassischer Text für eine enzyklopädische Weltfilmgeschichte. Rotha/ Griffith benennen Themen und Produktionsbedingungen, würdigen die politisch-ideologischen Prämissen der Arbeit von Ivens, verweisen vor allem auf die Nähe zu den Menschen, die in den Filmen spürbar ist. Die Auskünfte zur Form der Filme sind dagegen sparsam. Auch wenn die beiden Absätze aus heutiger Sicht konventionell anmuten mögen, liefern sie noch immer ein orientierendes Fundament. Ins Deutsche wurde das Buch von Rotha/Griffith nie übersetzt.

George Sadoul (1904-1967), war einer der berühmtesten französischen Filmhistoriker, ein Journalist, ein Cinephiler, ein Marxist. Er schrieb zwischen 1946 und 1954 ein großes, nicht vollendetes Werk, die fünfbändige „Histoire générale du cinéma“, eine Weltfilmgeschichte, die 1832 beginnt, also weit vor der Geburtsstunde des Films, und bereits 1929 endet, also mit dem Ausklang der Stummfilmzeit. Uns interessiert – mit Blick auf Joris Ivens – Sadouls kleineres Buch, „Histoire du cinéma mondial“, das zwischen 1949 und 1972 unter variierenden Titeln insgesamt neun Auflagen erlebte. Es wurde 1957 ins Deutsche übersetzt („Geschichte der Filmkunst“, Wien), war eine erste ernstzunehmende Filmgeschichte in deutscher Sprache und hat relativ weite Verbreitung gefunden. Sadoul schreibt an verschiedenen Stellen über Ivens.

Zunächst heißt es nur sehr lakonisch: Die ersten Filme des Holländers Joris Ivens, regen und die brücke, waren formbetonte, äußerliche, aber sehr präzise Beschreibungen. (S. 199) Später folgt eine längere Passage: Neben Jean Painlevé ist Joris Ivens der bedeutendste Dokumentarfilm­schöpfer, der aus der Avantgarde hervorging. Dieser junge Holländer wurde von der niederländi­schen Filmkluborgani-sation ‚Film-Liga’ unterstützt. Zusammen mit M.K.A. Franken drehte er 1929 seinen regen. Diese äußerst wirkungsvolle Montage wunderbarer Aufnahmen zeigt verschiedene Aspekte eines Platz-regens, Wassertropfen in den Pfützen, ihre Spiegelung auf dem Pflaster, den Glanz feuchter Regenschirme. Der Mensch, der bei diesem Dokumentarfilm kaum zum Vorschein kommt, fehlt gänzlich in der brücke, einer Formensymphonie, die ihre Motive aus den Metall­trägern eines Viadukts holt; ein Thema ähnlich René Clairs la tour, aber kraftvoller und härter behandelt. Mit diesen beiden Dokumentarfilmen begründete Ivens seinen internationalen Ruhm. Nachdem er für Philips-Radio einen lyrischen Reklame-Dokumentar-film gedreht hatte, ging Ivens mit Unterstützung der holländischen Regierung an die Herstellung eines Films, der die Trocken­legung der Zuidersee zum Thema hatte. Die ersten Teile zeigen den Menschen, der die Natur bezwingt – den feindlichen Ozean, der vor den geduldig errichteten Dämmen zurückweicht. In der Szene, da der Deich sich schließt, erreicht der Streifen mit seiner meisterhaften Montage, mit seinem lyrischen Schwung, dem Rhythmus der schäumenden Wogen und stampfenden Bagger eine unvergessliche Schönheit. Dann sieht man, wie auf dem neu gewonnenen Land Felder ange­legt werden, Bauernhäuser erstehen, Früchte reifen… Aber in dem Jahr, da Holland diese fried­liche Eroberung vollendet hatte, wurde Kaffee ins Meer geworfen, Getreide wurde verbrannt, die Krise erreichte ihren Höhepunkt. Der letzte Teil der zuiderzee behandelt die Vernichtung der Güter und das Elend der Arbeitslosen, den Widerspruch zwischen dem Kampf der Menschen gegen die Natur und der Ausbeutung des Menschen. Dieser kämpferische letzte Teil wurde mehr­fach von der Zensur verboten und aus den der kommerziellen Verwertung dienenden Kopien herausgeschnitten. In der UdSSR drehte Joris Ivens einen großen Dokumentarfilm über den Bau der Stahlwerke von Magnitogorsk (magnitogorsk / heldenlied). In Belgien drehte er den Berg­arbeiterfilm borinage. Sein Mitarbeiter war der Belgier Henri Storck, der seine Laufbahn 1930 mit den Filmen ostende und peche au hareng (heringsfischerei) begonnen hatte. Neben dem von Luis Buñuel gedrehten Film terre sans pain / erde ohne brot war borinage der erste wahrhaft soziale Dokumentar-film, der außerhalb der UdSSR entstand. Seine strenge Technik war dem Thema untergeordnet: der Lage der belgischen Bergarbeiter nach einem langen und harten Streik. Dieser Film durfte außerhalb der Filmklubs nicht gezeigt werden, er wies Renoirs toni und darüber hinaus den besten Werken der italienischen und französischen Schule den Weg. 1937 drehte Joris Ivens den erschütternden Dokumentarfilm über den Spanischen Bürgerkrieg, spanische erde, und 1939 den Film über den Chinesischen Freiheitskrieg, 400 millionen . Um sein Werk fortzusetzen, hatte Ivens emigrieren müssen. (S. 286-287)

Dann folgen ein kurzer Absatz, dass Ivens für die Serie why we fight einen Beitrag gedreht habe, der dann nicht gezeigt werden konnte, und ein kurzer Satz über indonesia calling! (ein Film über den Streik der Dockarbeiter, die 1946 den Transport holländischer Waffen gegen die indonesische Regierung verhinderten). Schließlich heißt es auf Seite 392: Igor Pyrjew und Joris Ivens drehten über die Jugendfestspiele 1951 einen der schönsten Farbdokumentarfilme, die es gibt. [Gemeint ist der DEFA-Film freundschaft siegt.]

Während Sadouls Beschreibung der frühen holländischen Filme von Joris Ivens konkret und anschaulich ist (Holprigkeiten sind der deutschen Übersetzung anzulasten), machen uns der zweite Teil des Textes und die kurzen Erwähnungen klar, wie begrenzt offenbar die Möglichkeiten sind, über Filme in so kompilierter Form mehr zu vermitteln als Titel, Themen und Produktionsdaten.

In der Bundesrepublik erschien 1962 ein immer wieder zitiertes, inzwischen historisches Buch, die „Geschichte des Films“ von Ulrich Gregor (geb. 1932) und Enno Patalas (geb. 1929). Das war die erste von Deutschen geschriebene substantielle internationale Filmgeschichte. Gregor und Patalas, zwei damals noch junge Filmpublizisten, hatten 1957 die Zeitschrift Filmkritik gegründet und beeinflussten mit ihrer ideologiekritischen Sichtweise in den folgenden Jahren das Filmverständnis in der Bundesrepublik. Das Kapitel „Die Stunde der kleinen Länder“ enthält einen längeren Absatz über Joris Ivens (S. 287):

Aus den Niederlanden kam während der dreißiger Jahre der Dokumentarist Joris Ivens (geb. 1898), der ebenfalls den größten Teil seiner Filme im Ausland realisieren musste. Ivens hatte mit Kurzfilmen nach der Art Ruttmanns und Cavalcantis begonnen, de brug (die brücke, 1927) und regen (1929): Impressionen, mit ausgeprägtem Sinn für grafische Wirkungen fotografiert und in nuanciertem Rhythmus geschnitten. Während die Gefahr des Nazismus wuchs, begann Ivens sich auch in seinen Filmen politisch zu engagieren. Zusammen mit dem Belgier Henri Storck schilderte er in borinage (1933) einen Grubenarbeiterstreik; in nieuwe gronden (neuer boden, 1934) kritisierte er aus aktuellem Anlass die Methode, „Überproduktion“ durch die Vernichtung lebenswichtiger Waren zu bekämpfen. Mit the spanish earth, the four hundred millions und power and the land leistete Ivens einen wesentlichen Beitrag zur amerikanischen Dokumen­tarfilm-bewegung. Die Kriegsjahre sahen ihn in der Sowjetunion. Als niederländischer Filmreferent für Hinterindien brach er mit der Regierung, als diese sich den indonesischen Unabhängigkeits­bestrebungen widersetzte und schilderte in indonesia calling! (1946) eine Solidaritätsaktion australischer Hafenarbeiter, mit der diese die Unabhängigkeitsbewegung unterstützten. In allen diesen Filmen hatte Ivens seine Gestaltungskraft keineswegs der Agitation geopfert: seine Stellungnahmen für die Sache der belgischen Gruben-arbeiter, der spanischen Republikaner, der Chinesen und der Indonesier ließen sein leidenschaftliches Gefühl für den einzelnen erkennen. Ähnlich wie Humphrey Jennings zeichnete er das Bild eines Volkes oder einer Gruppe im Porträt des einzelnen, wie Jennings suchte er den Moment selbstloser Anstrengung zu erfassen. Von borinage bis zu indonesia calling! führte er Tagebuch über seine Begegnungen mit Kämpfern des Widerstands – gegen soziale, wirtschaftliche  und militärische Unterdrückung. In den folgen­den Jahren verschrieb sich Ivens vornehmlich der Apologie des Sowjetsystems. Mit la seine a rencontre paris (die seine ist paris begegnet, 1957), einem panegyrischen Filmpoem auf Paris mit Versen von Jacques Prévert, kehrt er zum lyrischen Stil seiner frühen Filme zurück.

Das Zitat macht deutlich, dass bei Weltfilmgeschichten der Versuch unternommen werden muss, Inhalt und Stil von Filmen pointiert zu charakterisieren, also ihren Kern zu finden. Bei aller Verkürzung ist Gregor/Patalas das sehr gut gelungen. Sie stellen Thema und Form in einen Zusammenhang und vermeiden schlagworthafte Vereinfachun-gen. Mit Verweisen auf andere Filmemacher (Humphrey Jennings) erweitern sie, im Gegenteil, den Blick. Die beiden Autoren haben sich später über eine Art Methodenstreit von einander entfernt, und Ulrich Gregor verfasste allein eine Fortsetzung: „Geschichte des Films ab 1960″. Sie erschien 1978. Auch dort gibt es einen längeren Absatz über Ivens:

Gegen Ende der sechziger Jahre steht der französische Dokumentar-film zunehmend im Zeichen des politischen Engagements. Hier muss man auf die Tätigkeit des holländischen Dokumentar­filmpioniers Joris Ivens (geb. 1998) hinweisen, der sich 1964 in Frankreich niederließ. Nach zwei unpolitischen, eher lyrisch-poetischen Filmen, valparaiso (1963) und le mistral (1964), drehte Ivens mehrere lange politische Dokumentarfilme über den Vietnam-Krieg, über die Widerstands­kraft der Bevölkerung Nordvietnams angesichts der amerikanischen Bombenangriffe, zugleich über die Prinzipien einer neuen gesellschaftlichen Ordnung: le ciel, la terre (himmel und erde, 1965) und le dix-septieme parallele (der 17. breitengrad, 1968), danach le peuple et ses fusils (das volk und seine gewehre, 1969) über die Situation in Laos. Dies waren parteiliche, argumen­tative, klug montierte Filme, denen man gleichwohl anmerkte, dass Ivens sich lange bei den Menschen, die er filmte, aufgehalten und ihre alltäglichen Lebenssituationen studiert hatte. Zwischendurch beteiligte sich Ivens an dem Episodenfilm loin du vietnam (fern von vietnam, 1967). Schließlich realisierte Ivens zusammen mit Marceline Loridan von 1973 bis 1976 eine Folge von Dokumentarfilmen über das Leben im neuen China, die ein episches Werk von zusam­men zwölf Stunden Dauer ergaben: comment yukong deplaca les montagnes (wie yü-gung die berge versetzte). Trotz uneingeschränkter Parteinahme für das China Mao Tse-Tungs vermitteln diese Filme erstaunliche Einblicke; aus ihnen sprechen Scharfblick, Intensität und Ausdauer der Beobachtung, die unterschiedliche Betrachtungsweisen des Materials möglich machen und sich auch in filmischer Qualität niederschlagen. (S. 59-60)

Ulrich Gregor ist einer der wenigen Autoren, die durch ihre umfassende Kenntnis der Weltfilmproduktion überhaupt noch in der Lage sind, Überblicke zu geben und Zusammenhänge herzustellen. Kontinuier-liche Reisen zu internationalen Festivals sind heutzutage die Voraussetzung, um die Entwicklung des Dokumentarfilms, des Spielfilms und des Experimentalfilms komplex wahrzunehmen und zu beschreiben.

Der Pole Jerzy Toeplitz (1909-1995) ist ein weiterer berühmter Autor einer Weltfilmgeschichte. Sie erschien zunächst vierbändig in Polen (1955 bis 1962) und dann, erweitert zu einer letztlich fünfbändigen Ausgabe, in der DDR, wobei der letzte Band 1991, also nach der Wende, publiziert wurde. Die „Geschichte des Films“ von Toeplitz ist ein Mammutwerk, es endet mit der Darstellung der Weltfilmproduktion im Jahre 1953 und hat einen Umfang von insgesamt 2.700 Seiten. Der Autor hat dafür neben seiner Kenntnis vieler Filme auch zahlreiche Dokumente konsultiert. Bei Toeplitz spielt Joris Ivens eine herausragende Rolle in den Bänden 1, 2 und 3.

In Band 1 heißt es: In Holland debütierte im Jahre 1928 der junge Regisseur Joris Ivens mit dem Film über die Stahlbrücke, die über die Maas führt. Dieser Film mit dem Titel de brug (die brücke) erinnert in vielem an René Clairs Etüde über den Eiffelturm. Beide Filme zeigen dieselbe Verliebt­heit in Stahlkonstruktionen, dieselbe poetische, in plastischen Bildern eingefangene Lobpreisung der modernen Architektur. Der Film von Ivens enthält jedoch mehr humanistischen Untertext, der in der starken Betonung der Funktion der Brücke als einer Transmission des von einem zum anderen Ufer fließenden Lebens zum Ausdruck kommt.

Mit seinem nächsten Film, regen (1929), gab Ivens eine Studie vom Leben in Amsterdam wäh­rend eines Regentages. Dieser Film ist, wie die holländische Presse schrieb, mehr als nur eine Schilderung der Atmosphäre, er ist charakteristisch für unsere Städte, ein Teil ihres geistigen Klimas und ihrer äußeren Erscheinung. Sehr lobend äußerte sich die sowjetische Presse über Ivens‘ Werk, als er 1932 seine Filme in Moskau vorführte. In der ‚Istwestija‘ erschien ein begei­sterter Artikel, in dem das Malerische des Films, das große Einfühlungsvermögen und die gute Beobachtungsgabe des Regisseurs sowie seine Musikalität, die in der rhythmischen Montage spürbar wird, hervorgehoben wurden. [Dann geht Toeplitz – mit weiteren Zitaten – auf Ivens‘ dritten Film branding (1929) ein.] Anschließend heißt es: In seinem Film regen ging Ivens noch von einer Position aus, die den formalistischen Tendenzen der Avantgarde sehr nahe stand. In seinem weiteren Schaffen jedoch kam er dem sozialen Film, dem Film, der um die Verbesserung des menschlichen Schicksals kämpft, immer näher. Ivens organisierte das künstlerische Filmleben in Holland, er gründete die ‚Filmliga‘ und lud Pudowkin und Eisenstein zu Vorträgen nach Amster­dam ein. In der Stummfilmzeit hatte Ivens bereits Zeugnis von seinem Regietalent abgelegt, zur vollen Entfaltung sollte es erst in der Tonfilmzeit kommen. Hier hat sich auch die ideell-künstlerische Persönlichkeit dieses holländischen Regisseurs voll und ganz herausgebildet, der in einem Interview mit dem Presseorgan der kommunistischen Partei Belgiens erklärte: „Unser Ziel ist es, Filme zu produzieren, die im Klassenkampf als Waffe dienen können.“

In Band 2 seiner „Geschichte des Films“ behandelt Toeplitz ausführlich die Ivens-Filme indu strielle symphonie (1931), pesn o gerojach (heldenlied, 1932), borinage (1933) und nieuwe gronden (neue erde, 1934) und resümiert: So wurde Joris Ivens Anfang der dreißiger Jahre zum Verfechter des kämpferischen Dokumentarfilms, zu einem der aktivsten Vertreter der neuen Avantgarde, die nicht mehr formalistisch war, sondern gesellschafts-bezogene Tendenzen ver­folgte. Noch war er ein Heerführer ohne Soldaten. In der kapitalistischen Welt hatte er nur wenige Schüler und Nachahmer. In den folgenden Jahren fanden sich auf der ganzen Welt Filmregis­seure, die, Ivens‘ Beispiel folgend, den Kampf gegen den Faschismus aufnahmen.

Im dritten Band seiner Filmgeschichte geht Toeplitz auf das politische Engagement von Joris Ivens in Amerika ein. Er beschreibt Produktions-bedingungen und Rezeption von the spanish earth und 400 millions. power and the land ist der letzte Ivens-Film, den Toeplitz behandelt. Im vierten und fünften Band – über die Jahre 1939 bis 1953 – wird Ivens nur noch beiläufig erwähnt. Ich vermute, dass dies mit dem Abschied von Joris Ivens aus der Solidarität der sozialistischen Länder in Osteuropa 1968 zu tun hat. Toeplitz läßt seinen filmhistori-schen Diskurs 1953 enden. In den frühen fünfziger Jahren befand sich Ivens zudem in einer problematischen Phase. Mit das lied der ströme beteiligte er sich an dokumentarischen Projekten mit vordergründig propagandistischem Anspruch. Das wird bei Toeplitz ausgeblendet. Auch die Passagen über the spanish earth und 400 millions, also über Filme, die Toeplitz nicht so hoch einschätzt, bestehen vornehmlich aus Zitaten zur Zensur und zu den Schwierig-keiten, diese Filme zu verbreiten. Selten findet man bei Toeplitz Beschreibungen, in denen er sich auf die Form von Filmen oder auf spezielle Szenen einlässt, die Inhalte werden meist summarisch wiedergegeben. Es ist eine Schwäche vieler Weltfilmgeschichten, dass sie in ihrer Verknappung zur Formelhaftigkeit neigen, dass sie Produktions- und Rezeptionsprobleme dokumentieren, während die Filme selbst in den Hintergrund treten. Das hat auch damit zu tun, dass diese Filme nur aus der Erinnerung wachgerufen werden und keine aktuelle Präsenz haben. Erst im letzten Jahrzehnt wurde – durch das Hilfsmittel Video – die Verfügbarkeit alter Filme verbessert.

Mehrere anglo-amerikanische Weltfilmgeschichten wurden in den siebziger Jahren publiziert. In „Word Cinema. A Short History“ (1973) von David Robinson (geb. 1930) wird Ivens zweimal innerhalb von Aufzählungen erwähnt. Auch in Eric Rhodes (geb. 1934) „History of the Cinema“ (1976) finden sich nur zwei kurze Erwähnungen, die eine, etwas speziellere, betrifft the spanish earth. Im Buch von Gerald Mast (geb. 1940), „Short History of Movies“ (1976), kommt Ivens gar nicht erst vor.

1994 erschien eine Geschichte des Films von Kristine Thompson und  David Bordwell: „Film History. An Introduction“. Thompson und Bordwell gelten zur Zeit als die avanciertesten filmhistori­schen Autoren. Sie schreiben nicht mehr wie Rotha/Griffith, Sadoul und Toeplitz als Zeitzeugen, sie sehen die Filme im Rückblick, also sehr viel objektiver, sie kommen von der Wissenschaft, sie haben eine Fähigkeit zu systematisieren, sie wissen, wie man Filme „liest”, wie man sie entschlüsselt. Zu Ivens gibt es in der Thompson/Bordwellschen Film-geschichte, die einen Umfang von 860 Seiten hat, fünf Hinweise.

1. (im Kapitel „Film Experiments outside the mainstream industry“, S. 199):

The poetic city symphony proved fertile ground for young filmmakers working for the art-cinema and ciné-club circuit. For example, the Dutch documentarist Joris Ivens began as cofounder of a major club, the Filmliga, in Amsterdam in 1927. His first completed film was a lyrical, abstract study of a drawbridge, the bridge (1928). Its success in art-film circles led to other films, including rain (1929). rain is a short exploration of the changing look of Amsterdam before, during, and after a shower: the sheen of water on tile roofs and windows and the spatter of raindrops in the canals und in puddles. Again, RAIN was well received among art-cinema audiences across Europe and inspired many imitations. (In fast jeder Filmgeschichte werden diese beiden Titel mit den Hinweisen auf Ruttmann, musikalische Prinzipien und die Montage genannt.)

2. (im Kapitel „The Spread of political cinema“, S. 347-348):

Dutch filmmaker Joris Ivens, who had also been involved in a cinéclub and made films in abstract und city-symphony genres during the 1920s, became more politically oriented. After the success of the bridge and rain, he was invited to make a documentary on the steel industry, song of heroes (1932), in the Soviet Union. At that point, Henri Storck was invited by a left-wing ciné-club in Brussels to make a film exposing the oppressive treatment of coal miners in the Borinage region of Belgium, and he asked Ivens to collaborate with him. The result was misere au borinage (generally known as borinage, 1933). Storck and Ivens made the film clandestinely dodging authorities to film workers reenacting scenes of clashes with police, evictions, and marches. borinage’s powerful treatment of its subject led to its banning in Belgium and the Netherlands, though it was widely seen in ciné-clubs. Ivens returned to the Netherlands to make another film on the exploitation of workers, new earth (1934), in which he showed how thousands of workers who helped create dikes and new land suddenly ended up unemployed. Thereafter Ivens’s remarkable career took him around the world, as he recorded left-wing activities over the next several decades.

3. (im Kapitel „International leftist filmmaking in the late 1930s“, S. 350):

After borinage and other films in the early 1930s, Joris Ivens was prominent enough that important leftist writers and artists brought him to the United States. His first assignment was spanish earth (1937), on the Civil War, written and narrated by Ernest Hemingway. Ivens empha­sized the juxtaposition of ordinary events – women sweeping a street, men planting a vineyard – with the destruction of war. American composers Virgil Thomson and Marc Blitzstein arranged a score from Spanish folk songs. The Roosevelts viewed and approved the film, but its circulation was limited mainly to film clubs. (…) Ever interested in leftist struggles, Joris Ivens also went to China, but the official government prevented him from journeying to Mao’s stronghold. With American backing, Ivens made the four hundred millions (1938) – named for China’s population at that time. Unable to show the civil war, Ivens concentrated on the country’s struggle against the Japanese invasion and on its vast landscape. The Maoist revolution would continue to fascinate Ivens, and five decades later he would make his final film in China.

4. Eher beiläufig wird schließlich noch der Film power and the land erwähnt (S. 352): Joris Ivens was brought in to make power and the land for the Rural Electrification Agency.

5. Der Schlußsatz zu Ivens bei Thompson/Bordwell heißt: Joris Ivens remained active as a director, teaching and making films in Poland, China, Cuba, and other nations aligned with the USSR. (S. 559).

Das Werk von Ivens endet auch bei Thompson und Bordwell irgendwo in den vierziger oder fünfziger Jahren, ihre Filmgeschichte erschien 1994. Es gibt keinen späten Ivens. Das ist aus europäischer Sicht erstaunlich.

Die neueste Weltfilmgeschichte erschien 1996 in London: „The Oxford History of World Cinema“, herausgegeben von dem Engländer Geoffrey Nowell-Smith. 80 Autoren haben hier jeweils über ihre Spezialgebiete geschrieben. Es gibt die normale Teilung in drei Phasen: Stummfilm bis 1930, klassischer Tonfilm von 1930 bis 1960, moderner Film ab 1960. Dann wird unterteilt in Kapitel über Filmtechnik (ein Gebiet, das in der Filmgeschichtsschreibung sonst eher vernachlässigt wird), bestimmte Genres und Texte zu den nationalen Kinemathographien. Dem Dokumentarfilm gelten in diesem Buch eigene Kapitel. Regisseure, Schauspieler und sonstige Filmschaffende werden in 135 Einzelporträts vorgestellt. Der Text zu Joris Ivens – sein Gesamtwerk würdigend – stammt von Rosalind Delmar. 1998 erschien das Buch auf Deutsch – leider ohne die Einzelporträts. Zu Joris Ivens gibt es in der deutschen Ausgabe 14 Verweise im Register. Was erfährt man hierzulande 1998 aus einem „Standardwerk“ über Joris Ivens?

1. In den späten zwanziger Jahren entstanden – neben einer ganzen Reihe von kommerziellen Städtefilmen, die von Produzenten, Bürger-meistern und Firmen zu Werbezwecken hergestellt wurden – viele kurze Großstadt-Sinfonien. de brug (1928, die brücke) von Joris Ivens ist das akribische Porträt einer Eisenbahnbrücke in Rotterdam, die ständig geöffnet und geschlossen wird, damit Schiffe auf der Maas passieren können. Ivens ließ sich von der maschinellen Ästhetik beein­flussen und sah seinen Film als ‚ein Experiment der Bewegungen, Töne, Formen, Kontraste, Rhythmen und der Beziehung all dieser Faktoren zueinander’. Ivens‘ regan (1929, regen) ist ein Film-gedicht, das den Beginn, Verlauf und das Ende eines Regenschauers in Amsterdam dokumentiert. (S. 86)  Das ist eine zugeneigte und genaue Beschreibung im Kapitel „Der frühe Dokumentarfilm“ von Charles Musser.

2. Unter der Überschrift „Das Kino und die Avantgarde“ (Autor: A. L. Rees) heißt es: Der Doku­mentarfilm – meist eingesetzt, um gesell-schaftliche Missstände aufzuzeigen und, mit Unterstüt­zung vom Staat oder Firmen, Lösungen vorzuschlagen – zog viele europäische experi-mentelle Filmmacher an, u. a. Hans Richter, Joris Ivens und Henri Storck. (…) In Europa entstanden beson­ders mit John Grierson, Henri Storck und Joris Ivens neue Verbindungen zwischen experi-men­tellem Film und Tatsachenkino.“ (S. 95) Das nenne ich eine formelhafte Information.

3. Das Kapitel „Die Einführung des Tons“ (Autor: Karel Dibbets) vermittelt eine interessante Beobachtung: Die Einführung des Tons löste künstlerische Experimentierfreudigkeit im moderni­stischen wie klassischen Film aus. Formale Experimente waren in Europa besonders in der Avantgarde-Bewegung zu sehen, obwohl ihre Anzahl gering blieb. Interessante Beispiele sind Walther Ruttmanns melodie der welt (DE, 1929), Dziga Vertovs sinfonija donbassa (SU 1930, die donbas-sinfonie) und Joris Ivens‘ philipps radio (NL, 1931). Diese Filme haben einiges ge­meinsam. Die Künstler schnitten den Ton wie Bilder und schufen so eine Klangwelt, die parallel zur Bildwelt war. Eine Eigenheit in ihren Filmen ist die völlige Gleichberechtigung aller Geräusche. Es gab keine Hierarchie zwischen Musik, Stimmen, Geräuschen und Stille, wie es normalerweise bei erzählenden Tonfilmen der Fall ist. Sie vermieden Dialoge und blieben beim Prinzip der Sprachlosigkeit als Essenz der Filmkunst. (S. 201) Von Ivens ist dann nicht mehr die Rede.

4. Das Kapitel „Der Dokumentarfilm in der Tonfilmära 1930-1960″, ebenfalls verfasst von Charles Musser, beginnt mit Joris Ivens: Die wirtschaftliche Depression und die Einführung der synchro­nen Tonaufnahme hatten weit reichende Auswirkungen auf das dokumentarische Filmschaffen. Die modernistische Ästhetik, die charakteristisch für die bedeutenden Dokumentarfilme der 20er Jahre gewesen war, wich einer Betonung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Belange. Diese Verlagerung des Interesses lässt sich beispielhaft an der Karriere von Joris Ivens nachvollziehen, der in den zwanziger Jahren ästhetisch innovative Kurzdokumentationen produzierte und dann – nach einem Aufenthalt in der Sowjetunion 1932 – zu politisch engagierten Arbeiten überging, wie misere au borinage (1933, borinage, einer Dokumentation über die menschenunwürdigen Lebensbedingungen belgischer Bergarbeiter. (S. 290) Jetzt hofft man, am Beispiel der Karriere von Ivens würde irgend ein Aspekt vertieft, aber der Ivens-Bezug endet abrupt.

5. Musser geht kurz auf power and the land (1940) ein: Der Film beschäftigt sich mit den Aus­wirkungen, die der Anschluß für Strom-versorgung für Farmer hatte, die von privaten Energie­konzernen nicht berücksichtigt wurden, und daher auf die Unterstützung der Regierung ange­wiesen waren. (S. 294)

6. Im Zusammenhang mit Filmen aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtet Musser: Unterdes­sen wurde Helen van Dongen – die sich zu dieser Zeit mit Joris Ivens in New York aufhielt – gebeten, Filmauf-nahmen aus dem Bürgerkrieg zu einer Sammel-Dokumentation zu montieren – spain in flames (1937). Frustriert durch den Mangel an Bildmaterial über die Loyalisten, fand Ivens schließlich finanzielle Unterstützung für eine Reise nach Spanien. Dort drehte er mit Unter­stützung von John Ferno und Ernest Hemingsway spanish earth, eine Dokumentation über die Verteidigung Madrids und der umliegenden Region. (S. 296)

7. Die nächste Erwähnung: John Fernow und Joris Ivens präsentieren in 400 millions er­schreckende Bilder der japanischen Offensive. (S. 297) Ende.

8. In einer Aufzählung von Namen (darunter Ivens) wird die Flucht von Filmregisseuren vor vom Faschismus bedrohten europäischen Ländern ins Exil mitgeteilt. (S. 304)

9. Noch ein Satz über the spanish earth: Der niederländische Filmdokumentarist Joris Ivens zog Ernest Hemingway als Verfasser und Sprecher des Kommentars zu spanish earth (1937, spani-sche erde) heran. (S. 306) Ende.

10. Dem Register folgend, finden wir Ivens in einem Kapitel über China vor 1949 wieder. Da heißt es: Die Filmproduktion begann in Jenang erst wieder 1939, als Joris Ivens als Geschenk eine Kamera mit-brachte. Doch selbst danach beschränkte der Mangel an Filmmaterial die Produktion auf einige wenige Dokumentarfilme. (S. 375)

11. Von China nach Australien: Joris Ivens, der 1946 die kontroverse Dokumentation indonesia calling! mit Unterstützung der Sydney Waterside Workers Union hergestellt hatte, und das Vor­bild der Ealing-Filmmacher scheinen das Klima für einige der interessantesten Nachkriegsfilme in Australien gefördert zu haben. (S. 389) Das war der Passus über Australien und Joris Ivens.

12. „1968 und danach“ heißt ein weiteres Kapitel. Zitat: Der Filmveteran (jetzt ist er schon ein Veteran) Joris Ivens wurde nach Vietnam eingeladen, um le dix-septieme parallele (1967, der 17. breitengrad) zu drehen. (S. 484). Kein weiteres Wort über den Film. Dann wird beiläufig der Episodenfilm loin de viet-nam (1967, fern von vietnam) geschildert, an dem Ivens beteiligt war.

13. Schließlich geht es nochmals um China nach der Revolution: Mit Blick auf diese Filme (die vorher charakterisiert wurden) meinte der Dokumentarfilmer Joris Ivens, der chinesische Film gebe zu großen Hoffnungen Anlass. (S. 661)

Der China-Zyklus von Ivens/Lorridan wird nicht erwähnt.

Das sind die Informationen und Bewertungen, die eine „Geschichte des internationalen Films“ 1998 in der deutschsprachigen Ausgabe zu bieten hat. Sie sind in der Summe unvollständig und dürrr. Daraus leitet sich die immer wieder gestellte Frage nach den Potentialen einer Welt-filmgeschichte ab. Auf der einen Seite wird behauptet, Einzelpersonen seien nicht mehr in der Lage, universale Überblicke zu schaffen, weil es ihnen an den umfassenden Informationen fehle. Ein Team von Spezialisten gilt als unabdingbar. Auf der anderen Seite geraten bestimmte Personen und Werke der Filmgeschichte – wie man sieht – den Spezialisten aus dem Blickwinkel oder werden von einem deutschen Verlag leichtfertig aus einem konsistenten englischen Gesamttext herausgekürzt.

Es gibt – dazu greift man immer wieder – biografische Lexika mit ausführlichen Essays und bewertenden Artikeln. Man arbeitet mit ihnen zur ersten Information, um einen Überblick zu bekommen, aber manchmal ist man auch überrascht von der Substanz der Texte. Es gibt vier oder fünf solcher Bücher, mit denen ich persönlich gern arbeite. Die habe ich auf Ivens hin durchgeschaut. Relativ viel bedeutet mir David Thomsons „Biographical Dictionary of Film“ (1975). Seine Würdigung von Ivens, den biografischen Stichworten folgend, klingt etwas salopp, benennt aber den historisch wichtigen Aspekt einer Vorwegnahme heutiger Fernsehberichterstattung aus entfernten Krisengebieten: Ivens‘ work has gradually shed formality. As a young Dutch documen­tary-maker, he was firmly in the ’symphonic‘ tradition. But spanish earth was a crucial film – for him and for all of us – in that it admitted the existence of situations where one could only film what was possible, put it together and let ist terrible urgency be known to the rest of the world. Ivens is thus the original international cameraman, intent on showing the recesses of current events an the horrors, triumphs and injustices that occur. He is vastly travelled, but not dejected. And although he has made films for Western and Eastern interests, it is the world that has fluctuated. The same humanitarism has driven him throughout. He reminds us of an age when rhere were no TV units or photojournalists to crowd out disasters with description.

Ephraim Katz – seine „Film Encyclopedia“ (1979, aktualisiert 1998) ist ein viel benutztes Handbuch – schreibt neben einer längeren Charakteristik, dass die Reputation von Ivens im Westen aufgrund der politischen Bekenntnisse sehr eingeschränkt gewesen sei, aber man könne Ivens als den bedeutendsten Dokumentaristen seiner Zeit ansehen. „Seiner Zeit“ meint die dreißiger Jahre. So ist immer wieder spürbar, dass Ivens nach 1945 offenbar keine dominante Person mehr war.

Das zweibändige Werk „Cinema: A Critical Dictionary. The Major Filmmakers“ (New York/ London 1980), herausgegeben von Richard Roud, enthält sehr sorgfältige Artikel über Alberto Cavalcanti, Robert Flaherty, Humphrey Jennings, Chris Marker, Jean Rouch und Leni Riefenstahl, aber – was mir bisher nicht aufgefallen war – keinen Beitrag über Joris Ivens. Es stehen an die 240 vorwiegend personen-bezogene Texte in den zwei Bänden, alle stammen von ausgewiesenen Filmhistorikern und sind erstaunlich ausführlich. Warum fehlt Joris Ivens? Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder war dem Herausgeber Joris Ivens nicht bedeutend genug (das kann ich mir nichtvorstellen) oder der beauftragte Autor (respektive die Autorin) war so säumig, dass Ivens ein Opfer des Redaktionsschlusses wurde (dies favorisiere ich als Antwort auf meine Frage).

Auf der anderen Seite habe ich zum ersten Mal ein Buch genutzt, das mich überrascht hat: „World Film Directors“, Vol I, 1890 – 1945, herausgegeben von John Wakeman, erschienen 1987 in New York. Es enthält einen langen Essay über Joris Ivens, mit einer ausführlichen Lebensgeschichte (zwölf Druckseiten) mit vielen – auch entlegenen – Zitaten. Ich kann hier nur generell auf das Buch verweisen und sehe mich in der Erfahrung bestätigt, dass filmhistorische Arbeit zu Entdeckungen sowohl auf der Leinwand wie im Bücherregal führen kann.

Es gibt natürlich Spezialwerke über Dokumentarfilm, auch Dokumentarfilmgeschichten, verschiedene amerikanische, wenige deutsche. Ich konsultiere zwei: Das eine ist das Buch „Dokumentarfilm seit 1960″ (1978) von Wilhelm Roth, ein Standardwerk. Für einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren findet man hier sehr präzise Analysen von Dokumentarfilmen. Erschreckend ist allerdings die Tatsache, dass von heute aus gesehen nur die halbe Zeit zwischen 1960 und der Gegenwart bei Wilhelm Roth behandelt wird. Es gibt Bücher, die darauf drängen, dass die Arbeit an ihnen fortgesetzt wird. Wenn Wilhelm Roth sich das nicht mehr zumuten will, sollte ein anderer Autor/eine Autorin gefunden werden, die das Thema weiter bearbeiten

Zu Joris Ivens finden sich bei Wilhelm Roth zwei längere Texte. Sie behandeln ausführlich die Vietnam-Trilogie aus den Jahren 1965-69 und den zwölfstündigen China-Zyklus von Ivens und Marceline Loridan (1973-76). Ich zitiere beispielhaft eine Passage zu dem Film le dix-septieme parallele: Der abendfüllende Film über den 17. Breitengrad bedeutet im Werk von Ivens eine gewisse Wendung, die schon die Drehmethode der Chinafilme vorwegnimmt. Zum ersten Mal benutzt Ivens fast durchweg Originalton; die Vietnamesen haben Zeit sich auszusprechen, ihre Arbeit, ihre Kriegsanstrengungen ausführlich zu zeigen. Aus den Zeichen und Symbolen von le ciel, la terre wird in le dix-septieme parallele Beobachtung des Alltags. Großen Einfluss auf diese Entwicklung hatte Marceline Loridan, die hier erstmals mit Ivens zusammenarbeitete; sie nahm den Ton auf und war Co-Regisseurin, zwei vietnamesische Kameraleute gehörten zum Team und eine Ärztin, die zugleich Übersetzerin war. Der Film beschreibt sehr konkret das Leben in einem Dorf an der Demarka-tionslinie, immer bedroht von amerikanischen Bombenangriffen. Vieles findet unter der Erde statt: Schule, ärztliche Versorgung, Druck der Zeitung. Der Film hat – vor allem zu Beginn – einen langsamen Rhythmus, den des Dorfes. Auch hier wieder Kinder, die Krieg spielen, aber daraus wird Ernst. Ein Neunjähriger hat seine Mutter verloren, er bringt bei Angriffen seine Großmutter in den Keller; dann geht er nach oben, um wenn nötig Verwun­deten zu helfen. Sollte er von den Amerikanern gefangen genommen werden, sagt er, dann würde er nichts verraten. Die – absurde – Heroisierung eines Kindes, von der Realität erzwungen.

Roth bringt inhaltliche und formale Aspekte in einen Zusammenhang, beschreibt Produktionsbedingungen, schildert spezielle Beobach-tungen. Er hat eine eigene Haltung zu seinem Gegenstand.

Das zweite Buch, das ich zitieren möchte, heißt „Über synthetischen und dokumentarischen Film“, stammt von dem Dokumentaristen Klaus Wildenhahn und erschien 1973 in Frankfurt. Es handelt sich um zwölf Lesestunden für Filmstudenten und andere Interessierte. Wildenhahn ist kein Verehrer von Joris Ivens, aber er hat sich mit ihm auseinander-gesetzt, vor allem unter dem Aspekt der Montage, des Unebenen (ist Ivens ein so genannter Sinfoniker?). Er geht an einer Stelle ausführ-licher auf synthetische Kunstgriffe im Dokumentarfilm ein, vor allem auf Probleme nachgestellter Szenen und Arrangements:

Nehmen wir ein Beispiel Joris Ivens. Er steht besonders stark auf der Kippe zwischen der doku­mentarischen und der synthetischen Methode, und man kann gut bei ihm lernen. Zwei Filme: the spanish earth (1937) und borinage (1933). Filme also aus der Zeit der umständlichen stummen Kamera. Historische Filme. spanish earth ist Ivens‘ Film über den Spanischen Bürgerkrieg. Er setzt sich aus drei selbständigen Strängen zusammen: Erstens aus nachgestellten Szenen, einem Laienspiel: ein spanischer Junge kehrt von der Front in sein Heimatdorf zurück; zweitens aus Wochenschau-aufnahmen über Schlachten der republikanischen Soldaten und über das Leiden der Zivilbevölkerung; drittens aus einem Kommentar, einem Stück Hemingway-Prosa: Meditati­onen über Empfindungen von Kämpfern und über ihre Loyalitäten.

Diese drei Elemente, die alle auch in sich den Ansatz zu einem selbständigen Stück tragen, sind vereint zu einem synthetischen Ganzen. Dem man auch hier und da anmerkt, dass es ein wenig an den Nähten zerrt, und dass es an die Naivität des Empfängers gewisse Anforderungen stellt. Das hat wohlgemerkt nichts mit der Sache zu tun, für die der Film wirkt, noch mit dem Engagement der Film-macher, das unmissverständlich und richtig rüberkommt. Eine Ungeschliffenheit in der Darstellung und eine große Empfindsamkeit der Macher für die gesellschaftliche und natür­liche Umgebung geben the spanish earth eine dokumentarische Aura, aber eigentlich zweifelt man am dokumentarischen Gewicht des Films. Viel eher ist man bereit, ihn als ein synthetisches Produkt aufzunehmen. [Wildenhahns zwölf Lesestunden behandeln zentral dieses Spannungsverhältnis zwischen dokumentarischem und synthetischen Film, insofern ist diese Verkürzung als Zitat ein bisschen unzulässig.]

Dagegen borinage. Es ist ein Film über die Nachwehen des Bergarbeiterstreiks von 1932 in dem berühmten belgischen Kohlengebiet. Hunger, Zwangsräumungen, Aussperrungen waren die Tagesordnung. Die Filmmacher – Joris Ivens und Henri Storck – mussten den Film praktisch im Untergrund drehen. Die Gruben-besitzer und die Polizei versuchten, die Filmarbeiten zu verhin­dern. In diesem Film wurden ebenfalls einzelne Episoden nachgestellt; Szenen, die die Taktiken der Bergarbeiter und ihren Widerstand zeigen. Diese gestellten Szenen haben Demonstrations­charakter, es sind Nach-erzählungen. Sie zeigen in einem dokumentarischen Zusammenhang notwendige Ergänzungen. Diese Ergänzungen sind aber weitaus mehr vom Erzählcharakter der Betroffenen, der Bergarbeiter und ihrer Familien, bestimmt als etwa von den formalen Vorstellungen der Filmmacher. Diese wurden bei der Arbeit zu borinage unmittelbares Sprachrohr der Betroffenen, um ihr Leid und ihren Kampf öffentlich zu machen. Die Filmmacher waren nicht mehr Autoren, die ein eigenes Projekt nach ihrem Exposé verwirklichen wollten. Die gezogene Grenze ist zugegebenermaßen gerade bei den Filmen von Ivens sehr fein. Aber wenn man Gelegenheit hat, die beiden Filme nacheinander zu sehen, wird der Unterschied deutlich. Beide Filme sind im Dienst einer Sache gemacht, beide haben ihre Wirkung gehabt, und beide hatten Schwierigkeiten mit den Zensoren. Aber spanish earth trägt die Merkmale einer Autorenschaft, die verschiedenartiges Material in ein Konzept zwingen will. borinage wird bestimmt durch das von „unten“, vom Boden des gesellschaftlichen Konflikts aufsteigende Material, das die Macher nicht lange nach einem Konzept fragte. Es drängte sich ihnen auf, setzte sie unter Druck, und ihre Aufgabe war es, sich zu stellen und möglichst schnell ihre technischen und formalen Fähigkeiten so zu organisieren, dass der auf sie zukommende Stoff eingefangen und festgehalten wurde. Alles formale Können wurde unmittelbar in den Dienst der Sache gestellt. (Deshalb ist der Film in vollkommener Weise ästhetisch; Inhalt bestimmt Form, und Form verselbständigt sich nirgendwo.) (S. 72-74)

Es gibt dann noch eine längere Passage über eine nachinszenierte Szene, die selbst zu einer Realität wird, eine Passage, in der Wilden-hahn Joris Ivens zitiert. Die Intensität, sich mit Haltungen und formalen Fragen, die ja gleichzeitig die essentiellen Fragen des Dokumentarfilms sind, so zu beschäftigen wie dies bei Wildenhahn der Fall ist, fehlt in allen großen Weltfilmgeschichten, weil die Verknappung und möglicherweise auch das Wissen oder die Interessenlage der Autoren (und natürlich der zur Verfügung stehende Platz) dies nicht zugelassen haben.

Ich versuche, kurz zu summieren. In den Weltfilmgeschichten bleibt Ivens ein Dokumentarist der dreißiger und vierziger Jahre. Überall wird verwiesen auf seinen Ausgangspunkt, die Avantgarde, auf die brücke und regen. Aber dann kommt sofort der Umschlag in das politische Engagement, es wird wenig über die Form seiner Filme vermittelt, es wird wenig über die technischen Voraussetzungen berichtet, und es wird überhaupt nicht seine veränderte Methode der 60er und 70er Jahre – etwa beim China-Zyklus – berücksichtigt, was zumindest für die aktuelleren Filmgeschichten wichtig gewesen wäre. Auch der Einfluss von Marceline Loridan bleibt außen vor. Immer wieder taucht im Zusammenhang mit der politischen Haltung von Ivens der Begriff Naivität auf. Das ist offenbar ein Etikett, das man verwendet, wenn ein kämpferisches Engagement nicht nachvollzogen werden kann. Ivens hat – filmhistorisch – auch damit zu kämpfen, dass er keiner nationalen Filmproduktion zuzuordnen ist. In ihrer Struktur sind Filmgeschichten oft Ländergeschichten. Für einen Internationa-listen (den „fliegenden Holländer“) gibt es da keinen festen Platz. Natürlich herrscht in den meisten Filmgeschichten auch eine Dominanz des fiktionalen Films gegenüber dem Dokumentarfilm. Das hat mit der größeren Akzeptanz des Spielfilms zu tun, und insofern stehen die Dokumentarfilme immer in der zweiten oder dritten Reihe. Interessant ist natürlich auch, dass das lange Leben von Joris Ivens offenbar dazu auffordert, frühe Schwerpunkte zu setzen. Irgendwo habe ich gelesen, Ivens hätte am Ende noch im „Guiness-Buch der Rekorde“ gestanden als „ältester aktiver Filmemacher“, aber auch das reichte nicht aus, um die späten Filme (das „Alterswerk“) in der Filmgeschichtsschreibung eingehender zu würdigen.

Jean-Pieter Barbian/Werner Ruzicka (Hg.): Poesie und Politik. Der Dokumentarfilmer Joris Ivens. Trier (2001).