Ein Freundschaftsgeschenk

Vorwort zu einer Publikation

Es gibt zu diesem Buch eine Vorgeschichte: In den Jahren 1980/81 entstand in der Deutschen Kinemathek eine dreiteilige Dokumentation zur Geschichte der Filmmontage für das ZDF. Sie behandelte die Entwicklungen im Spielfilm, im dokumentarischen Film und im Avantgardefilm. Die Autoren waren Heide Breitel, Klaus Feddermann, Helmut Herbst und Hans Helmut Prinzler. Wir kannten uns zumeist aus gemeinsamer Arbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Produziert wurde die Reihe von Helmut Wietz, einem Absolventen der DFFB. Im Herbst 1980 fuhren Heide Breitel, Klaus Feddermann und ich in die USA, um mit verschiedenen Cutterinnen und Cuttern Interviews aufzunehmen. Wietz hatte unsere Reise bestens vorbereitet und einen Drehtermin bei Helen van Dongen arrangiert, die wir zu ihrer Arbeit an dem Joris Ivens-Film the spanish earth befragen wollten. Wir kamen mit Verspätung nach Battleboro, und Helen van Dongen war darüber sehr verärgert. Sie fand uns undiszipliniert. Bei einem Vorgespräch wollte sie dann genau wissen, welche Fragen wir stellen würden. Zur Aufnahme am nächsten Tag hatte sie ihre Antworten schriftlich ausgearbeitet. Sie konnte nichts dem Zufall oder einer augenblicklichen Stimmung überlassen. Den Verlust an Spontaneität kompensierte sie mit Präzision und Alterswürde. Beim Gespräch war die anfängliche Verärgerung längst vergessen, ihr Statement wurde zu einem wichtigen Baustein in unserer Dokumentation.

1982 kam Helen van Dongen nach Berlin. Zu engen Freunden wurden für sie Helmut Wietz und dessen Lebensgefährtin Eva Orbanz, Leiterin der Filmabteilung der Kinemathek. Von einem Besuch in Battleboro im Herbst 1992 brachte Eva Orbanz Helens Tagebuch zu louisiana story mit. Ein Freundschaftsgeschenk. Es war schnell zu erkennen, dass die Aufzeichnungen zu Flahertys Film ein öffentliches Interesse beanspruchen konnten. Deshalb werden sie nun publiziert.

Es ist typisch für Arbeitsauffassung und Lebensethos von Helen van Dongen, dass sie ihrem Tagebuch wenig Privates anvertraut hat, sondern ihre Mitteilungen auf berufliche Zusammenhänge konzentrierte. Was zum Zeitpunkt des Schreibens mit Sicherheit noch nicht auf eine Veröffentlichung zielte, erweist sich aus heutiger Sicht als aufregender Bericht über die Arbeit an einem berühmten Dokumentarfilm. Einzelne Sequenzen werden in ihren handwerklichen Voraus­setzungen beschrieben. Je schwieriger sich eine bestimmte Montage entwickelt, desto genauer notierte Helen van Dongen ihre Überlegungen im Tagebuch. Auf einer anderen Ebene beschreibt sie – fast lakonisch – die Atmosphäre am Drehort und im Team der Filmleute.

Jahrzehnte später, in unserem Gespräch im Herbst 1980, sagte sie: „Montage ist ein absolut subjektiver künstlerischer Akt. Wir müssen daran denken, dass es nicht unser Ziel ist, dem Publikum zu sagen, was wir denken, sondern ihm zu zeigen, was wir in den Szenen entdeckt haben als die Realität. Alles was wir können, ist, aus den Zuschauern Beobachter zu machen, dass sie sehen, dass sie denken und sich dann ihre eigene Meinung dazu bilden. Nur so weit können wir gehen.“ Das sind weise Ratschläge einer erfahrenen Cutterin und Filmemacherin.

Bücher über Kunst und Technik der Montage sind selten. Von Ralph Rosenblum und Robert Karen stammt die Publikation „When the Shooting Stops…the Cutting Begins“ (1979) mit einem Kapitel über die Zusammenarbeit von Robert Flaherty und Helen van Dongen. Dai Vaugn schrieb das „Portrait of an Invisible Man“ (1983) als Hommage an Stewart McAllister, den Cutter des englischen Dokumentaristen Humphrey Jennings. Der amerikanische Regisseur Edward Dmytryk veröffentlichte 1984 seine Schrift „On Film Editing“. 1993 gab Hans Beller das „Handbuch der Filmmontage“ heraus. Und ein Klassiker bleibt „The Technique of Film Editing“ von Karel Reisz (1953), ins Deutsche übersetzt von Helmut Wietz, herausgegeben von der Stiftung Deutsche Kinemathek 1988. Helen van Dongens Tagebuch zu louisina story ergänzt, vertieft und konkretisiert die genannten Publikationen. Gerade in einer Zeit rasanter technologischer Entwicklungen im Bereich des Filmschnitts ist der Blick zurück sinnvoll und notwendig: um die wichtigsten Prinzipien nicht aus den Augen zu verlieren. Dieses Buch erscheint im Jahr des 100. Geburtstages von Sergej M. Eisenstein und 50 Jahre nach der Premiere von louisiAna story. Es gibt immer wieder Anlässe, über die Entwicklung der Montage nachzudenken.

Unser Dank gilt Helen van Dongen, die uns das Tagebuch geschenkt hat und die Vorbereitung dieser Publikation hilfreich begleitete. Dank an das Museum of Modern Art, New York, und das Haus des Dokumentarfilms, Stuttgart, für die produktive Zusammenarbeit. Vor allem danke ich Eva Orbanz, ohne deren Engagement dieses Buch wohl kaum erschienen wäre.

Eva Orbanz (Hg.): Helen van Dongen: Robert Flahertys louisiana story. Konstanz 1998.