Texte & Reden
03. November 1995

Novembertage

Text für den tip

Wenn die Blätter fallen und die Herbstmelancholie einsetzt, tut ein Spaziergang zu den Gräbern von Filmgrößen in Berlin der cinephilen Seele wohl.

Ihren Grabstein schmückt ein Wort des deutschen Freiheitsdichters Theodor Körner: „Hier steh ich an den Marken meiner Tage.“ Marlene Dietrich, im Mai 1992 in Paris gestorben, wurde, wie es ihr letzter Wille war, ganz in der Nähe ihrer Mutter auf dem Friedhof in der Stubenrauchstraße beerdigt. Ein Ehrengrab, für zwanzig Jahre unter Denkmalschutz. An manchen Tagen wird es speziell bewacht, weil in der Vergangenheit nicht nur Verehrer, sondern auch Schmierfinken kamen. Der kleine Friedhof in Friedenau ist zwar keine Haltestelle auf Standrundfahrten, aber das Grab gilt als Sehenswürdigkeit, seit Marlene dort unter lebhafter Medienbeteiligung beigesetzt wurde.

Tod und Abschied von Filmgrößen sind Ereignisse. Es mischen sich Neugier und Anteilnahme, wenn bei diesen Beerdigungen die Trauergemeinde auf Hunderte oder gar Tausende wächst. Sie blicken auf einen Sarg oder sehen eine Urne, ein Meer von Kränzen und Blumen, sie hören Gedenkreden, sie reihen sich ein ins Defilée. Dann übernehmen die Totengräber die Regie – und übrig bleibt ein Grab mit Stein, Inschrift und Bepflanzung. Unsterblich sind die Künstler allenfalls mit ihren Filmen.

Einen zentralen Friedhof der Großen und Unvergessenen wie den Père Lachaise in Paris gibt es in Berlin nicht. Die Grabstätten der berühmten Berliner sind auf viele große und kleine Friedhöfe verteilt. Wer den Spuren verstorbener Filmkünstler folgt, muß weite Wege zurücklegen.

An der linken Kirchhofmauer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Gemeinde in Charlottenburg (Fürstenbrunner Weg 69-79) erinnert ein Gedenkstein mit dem Bronzerelief ihres Profils an Henny Porten (1890-1960), den ersten deutschen Filmstar. In den frühen zwanziger Jahren war sie so berühmt, daß Kurt Tucholsky vorschlug, sie zur Reichspräsidentin zu machen. In der Nazizeit wurde ihre Karriere von den Machthabern abgebremst, weil sie sich nicht von ihrem jüdischen Mann trennen wollte. Nach dem Krieg drehte sie nur noch drei nicht sehr bedeutende Filme. Trotzdem versammelte sich zur Trauerfeier im Oktober 1960 eine riesige Menschenmenge vor dem Krematorium in Wilmersdorf. Die Urne ist im Familiengrab ihres Mannes, Wilhelm von Kaufmann, in der Kapelle am Fürstenbrunner Weg beigesetzt.

Renate Müller (1906-1937), eine der beliebtesten Schauspielerinnen der dreißiger Jahre, liegt auf dem Parkfriedhof Lichterfelde (Thuner Platz 2-4). Ihre größten Erfolge waren DIE PRIVATSEKRETÄRIN und VIKTOR UND VIKTORIA. Auch sie geriet wegen eines jüdischen Lebensgefährten in Konflikt mit den Nazis, nachdem sie engere, von Joseph Goebbels eingeleitete Kontakte zu Adolf Hitler abrupt abgebrochen hatte. Die Umstände ihres Todes in einer Berliner Nervenklinik wurden nie ganz geklärt. Das Familiengrab der Müllers befindet sich – etwas versteckt zwischen Bäumen und Rhododendren – im Waldbereich der Friedhofsanlage.

La Jana (1905-1940), jene Tänzerin mit klangvollem Namen, die eigentlich Henriette Hiebel hieß und als Schauspielerin nicht übermäßig begabt war, machte in Revuefilmen der dreißiger Jahre (ES LEUCHTEN DIE STERNE) Karriere. Sie starb an einer Lungenentzündung während einer Tournee im Rahmen der Truppenbetreuung. Auf dem Waldfriedhof Dahlem (Hüttenweg 47) hat sie ein Ehrengrab mit einem Bronzerelief ihres Profils auf dem Stein. Zwischen der Pachisandra-Bewachsung steht eine dekorativ verwelkte Rose. Am Hüttenweg findet man auch die Gräber von O. E. Hasse (1903-1978), Wolfgang Lukschy (1905-1983), Leny Marenbach (1919-1984) und Blandine Ebinger (1899-1993).

Nach der spektakulären Umbettung Friedrichs des Großen von der Hohenzollernburg nach Sanssouci sollte nicht vergessen werden, daß sein kongenialer Doppelgänger im Film, Otto Gebühr (1877-1954), auf dem Kirchhof der Sophien-Gemeinde in Wedding (Freienwalder Straße 19b) begraben ist. Nicht sehr weit entfernt, auf dem Krematoriumsfriedhof in der Gerichtsstraße 37-38, liegt Rudolf Platte (1908-1984), der zunächst im Film, dann im Fernsehen und schließlich im Boulevardtheater zu einem der beliebtesten Berliner Volksschauspieler wurde, obwohl er eigentlich aus Dortmund stammte. Er starb acht Tage nach seiner Frau an Herzversagen und vermachte sein Millionenerbe dem Hermann-Gmeiner-Fond.

Erst 48 Jahre nach seinem Tod erhielt der Charakterdarsteller Heinrich George (1893-1945) ein würdiges Grab. Die Sowjets hatten den Staatsschauspieler und Generalintendanten nach Kriegsende in Sachsenhausen interniert, wo er nach einer Blinddarm-Operation gestorben war. Die Grabstelle galt lange Zeit als unbekannt. Im Oktober 1994 gelang es Georges Söhnen Jan und Götz, ihren Vater auf den Zehlendorfer Friedhof an der Onkel-Tom-Straße umzubetten. Auf dem imposanten Grabstein steht eine George-Büste des Stuttgarter Bildhauers Hans Gerdes aus dem Jahr 1938.

Auf dem Kirchhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde (Chausseestraße 126) wurde der positivste Held des Defa-Films beerdigt: Günther Simon (1925-1972). Als Ernst Thälmann war er in den fünfziger Jahren zunächst Sohn, dann Führer seiner Klasse. Von dieser Rolle hat er sich anschließend schwer befreien können. Konrad Wolf hielt ihm eine berührende Grabrede.

Zahlreich sind die Gräber aus der Filmwelt auf dem Friedhof an der Heerstraße (Trakehner Alle 1). Zur Beerdigung der Komikerin Grethe Weiser (1903-1970), die bei einem Autounfall tödlich verunglückte, kamen fünftausend Trauergäste. An der Heerstraße liegen auch die Schauspieler Victor de Kowa, Jo Herbst, Werner Peters (DER UNTERTAN), Jacob Tiedtke, Willy Trenk-Trebitsch, Tilla Durieux, Agnes Windek, der Regisseur und GOLEM-Darsteller Paul Wegener, der Kameramann Guido Seeber, der Autor, Regisseur und Schauspieler Curt Goetz (DAS HAUS IN MONTEVIDEO), die Autorin Thea von Harbou (METROPOLIS), der Gründungsdirektor der Film- und Fernsehakademie Heinz Rathsack, der Filmpublizist Wolf Donner.

Von den zehn deutschsprachigen Regisseuren im Pantheon (Lubitsch, Lang, Murnau, Pabst, Ophüls, Siodmak, Staudte, Käutner, Wolf, Fassbinder) sind nur zwei in Berlin begraben: Helmut Käutner (1908-1980), der Regisseur von GROSSE FREIHEIT NR. 7, UNTER DEN BRÜCKEN und DER HAUPTMANN VON KÖPENICK, liegt auf dem Waldfriedhof Zehlendorf (Potsdamer Chaussee 75-77). Seine letzten Lebensjahre hatte er in der Toscana verbracht. Zur Gedenkfeier im Krematorium Wilmersdorf kamen zahlreiche Weggefährten aus fünf Jahrzehnten Theater-, Film- und Fernseharbeit. Der damalige Kultursenator Dieter Sauberzweig, der Filmhistoriker Ulrich Gregor und der Schauspieler Hans Söhnker hielten die Abschiedsreden. Das Urnengrab wirkt schlicht und schmucklos. Ihm direkt benachbart ist übrigens die Grabstelle des hochbegabten, aber leider nicht sehr erfolgreichen Regisseurs Peter Pewas (1904-1984).

Konrad Wolf (1925-1982), DEFA-Regisseur (DER GETEILTE HIMMEL, ICH WAR NEUNZEHN, SOLO SUNNY), erhielt eine hochkarätige Trauerfeier in der Akademie der Künste der DDR, deren Präsident er war. Kurt Hager verabschiedete ihn mit klassenkämpferischer Attitüde, schließlich war Wolf auch Mitglied des Zentralkomitees der SED. Bei der Urnenbeisetzung auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde (Gudrunstraße) standen Erich und Margot Honecker und Bruder Markus Wolf in der ersten Reihe. Auf dem Staatsfoto im Neuen Deutschland ist eine größere Öffentlichkeit nicht zu erkennen.

Von Beginn des Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg war der Südwestfriedhof in Stahnsdorf, vor den Toren der Stadt, der bedeutendste Künstlerfriedhof: ein riesiges Waldareal, etwa doppelt so groß wie der Park des Charlottenburger Schlosses. Der Stahnsdorfer Friedhof gehörte früher zu den evangelischen Gemeinden der Kirchenbezirke Alt-Berlin, Charlottenburg und Schöneberg. Obwohl der Friedhof weit außerhalb liegt, war er ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflüge.

Hier sind die Gräber so berühmter Berliner wie der Maler Heinrich Zille und Lovis Corinth, der Verleger Louis-Ferdinand Ullstein, Gustav Langenscheidt und Siegfried Jacobsohn, Gründer der Zeitschrift Die Weltbühne. Auch einige Filmleute sind dabei: der Schauspieler und Regisseur Ralph Arthur Roberts (1884-1940), Max Adalbert (1874-1933), der 1931 den ersten HAUPTMANN VON KÖPENICK spielte, und Joachim Gottschalk (1904-1941) mit seiner Frau Meta und dem kleinen Sohn Michael. Gottschalk, mit einer Jüdin verheiratet, machte als Schauspieler Karriere beim Film (am bekanntesten: DAS MÄDCHEN VON FANÖ mit Brigitte Horney). Anfang der vierziger Jahre wurde er auf Geheiß von Goebbels zunehmend unter Druck gesetzt, weigerte sich aber, seine jüdische Frau zu verlassen. Am 6. November 1941, einen Tag vor der verfügten Deportation von Frau und Kind nach Theresienstadt, nahm sich die Familie das Leben. Der Schauspieler Gustav Knuth, ein enger Freund der Gottschalks, mußte Angestellte der Friedhofsverwaltung in Stahnsdorf bestechen, damit die Familie in einem gemeinsamen Grab beigesetzt werden konnte. Es galt als unerwünscht, an der Beerdigung teilzunehmen, nur wenige Freunde setzten sich darüber hinweg, darunter Gustav Knuth und seine Frau, Brigitte Horney, René Deltgen, Wolfgang Liebeneiner. Nach dieser authentischen Tragödie entstand 1947 der DEFA-Film EHE IM SCHATTEN von Kurt Maetzig.

Nicht weit vom Haupteingang entfernt befindet sich das Grab des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931), der von 1919 bis 1926 in Deutschland siebzehn Filme drehte, die zu den besten ihrer Zeit gehörten (darunter NOSFERATU, DER LETZTE MANN und FAUST). Er ging 1926 nach Hollywood, wo er SUNRISE, FOUR DEVILS, CITY GIRL und den Südseefilm TABU drehte. Nach der Premiere von TABU wollte er nach Deutschland zurückkehren, um seine Mutter zu besuchen, eine Passage auf dem Luxusdampfer „Europa“ war bereits gebucht.

Am 11. März, eine Woche vor der geplanten Premiere, starb Murnau nach einem Autounfall in Santa Barbara. Anfang April traf er – im Sarg, aber ansonsten wie geplant – mit der „Europa“ in Hamburg ein. Eine Wahrsagerin soll ihm bereits prophezeit haben, er werde auf andere Weise, als er denke, per Schiff zu seiner Mutter gelangen. Die Beerdigung in Stahnsdorf fand am 14. April statt. Zu den Rednern gehörten der Autor Carl Mayer und der Regisseur Fritz Lang, der in Murnau viele Jahre seinen stärksten Konkurrenten gesehen hatte. Er bezeichnete den Kollegen als „Pionier, dem der Film seine eigentliche Basis verdankt“.

Wer die Gräber von Fritz Lang und Ernst Lubitsch besuchen will, muß sich von Berlin aus auf eine längere Reise machen. Lang wurde 1976 im engsten Freundes- und Familienkreis auf dem Forest Lawn Hollywood Hills Cemetery beigesetzt. Die Beerdigungszeremonie für Lubitsch am 4. Dezember 1947 auf dem Forest Lawn Cemetery in Glendale hatte amerikanisches Format. Jeanette McDonald sang das Lied „Beyond the Blue Horizon“. Der große Regisseur ruht in der Erde eines sanft geneigten Hügels unter einer schlichten Grabplatte.

 

Antje Goldau und Hans Helmut Prinzler in: tip, Nr. 23, 3. November 1995