Texte & Reden
15. Juli 1994

CineGraph

Text für die Süddeutsche Zeitung

Wurzelwerk zur Filmgeschichte

Das Lexikon „CineGraph“ nach zehn Jahren Wachstum

Ein Werk wie ein Baum: wachsender Stamm, Äste, die sich verzweigen, Blätter, die kommen und gehen. Ausladend, gewaltig, nützlich. In seinem Schatten kann man sich ganz in der deutschen Filmgeschichte verlieren.

Vor zehn Jahren, im Sommer 1984, erschien die erste Lieferung des Lexikons „CineGraph“, als Loseblattsammlung herausgegeben von dem Hamburger Filmhistoriker Hans-Michael Bock. Inzwischen gibt es 23 Lieferungen – das sind an die 6.000 Seiten in fünf Ordnern mit über 700 Namen: Fakten zur schnellen Information, Texte, in denen ein Künstler, ein Handwerker oder ein Œuvre gewürdigt werden. Biogra-phien, Fimographien, Essays über Regisseure, Autoren, Schauspiele-rinnen und Schauspieler, Kameraleute, Schnittmeister, Produzenten, Komponisten, Architekten und Ausstatter, Publizisten und Kritiker.

Die Wiederentdeckung und Rekonstruktion alter deutscher Filme hat in den letzten zehn Jahren unseren historischen Fundus erstaunlich erweitert. Parallel zur Lust am Entdecken und Schauen entwickelte sich eine forschende Neugier auf Sekundär-quellen: Produktionsgeschichte und biographischer Background. Gefragt wird, wie die Filme der zwan-ziger, dreißiger, vierziger Jahre entstanden, wie sie rezipiert wurden. Das Interesse ist nicht nur akademisch, es drückt sich auch populär aus: in der Buchproduktion (Behind the scenes, „How did you do it“), im Besuch der Filmmuseen.

Der Bestand an Dokumenten und Materialien (Filmzeitschriften, Nachlässe, Fotos, Plakate, Schriftgut) ist durch entsprechende Ankäufe öffentlicher Institutionen enorm gewachsen und wird immer besser erschlossen. Forschungsprojekte sind dabei hilfreich, die Computerisie-rung vereinfacht den Zugang. Auch „CineGraph“ ist ohne moderne Technologie nicht denkbar. Eine „Informationsmaschine“ nennt der Herausgeber sein Werk.

Das Minimum sind bei einem Personalblatt der Lebenslauf, Auszeich-nungen, bibliographische Hinweise und eine vollständige Filmliste, das Maximum eine ausführliche Biographie mit Foto, eine detaillierte Filmographie (mit allen wichtigen Stab-, Darsteller- und Produktions-angaben inclusive Uraufführungsdatum und -ort; leider, das ist wirklich ein Manko, fehlen die Rollenbezeichnungen der Darsteller).

Was auf den ersten Blick pure Information zu sein scheint, hat bei genauem Hinsehen persönliche Kontur und individuelle Farbe. In die faktographischen Lebensläufe  sind klug ausgewählte Zitate und individuelle Charakterisierungen eingewebt. Sie weisen die Autoren und Bearbeiter der Texte als Kenner, gelegentlich sogar als Liebhaber aus. Wenn sich Fakten nicht verifizieren lassen, werden sie als ungesi-cherte, fragile Überlieferung kenntlich gemacht und –  wenn nötig und möglich – in einer späteren Lieferung korrigiert.

Jedes biographische Lexikon hat Lücken und Fehler. Bei einer Lose-blattsammlung, die auf Endlosigkeit angelegt ist, setzt der Herausgeber auf diesen unendlichen Fortgang, verspricht eine gewisse Vollständig-keit frühestens für die dritte Generation und Korrekturen in der nächsten Lieferung. Nach zehn Jahren, bei 700 Namen, dürfen allerdings erste Desiderate angemahnt werden. Ich warte auf den Autor Carl Mayer, den Regisseur Carl Junghans, die Kameraleute Bruno Mondi und Werner Krien, den Komponisten Friedrich Hollaender, den Produzenten Gyula Trebitsch. Namen aus der täglichen Arbeit. Erstaun-lich zahlreich ist der Berufsstand der Darsteller vertreten. Das mag mit der in diesem Bereich besseren Quellenlage zusammenhängen. Gertrud Kückelmann und Johanna von Koczian zu vermissen, ist Resultat eines sehr persönlichen Blicks.

Autoren, die für „CineGraph“ schreiben, werden nicht gut bezahlt und kaum gewürdigt. Ein Motiv für die Mitarbeit ist also die Liebe zur Sache. Dem Herausgeber muß das gelegentlich als instabiler Faktor erschei-nen. Als Autoren und Bearbeiter der Bio- und Filmographien werden 64 Namen genannt. Ihr Tun ist selbstlos, aber essentiell wichtig. Etwas mehr Aufmerksamkeit können die Verfasser der Essays auf sich ziehen. Häufig fallen diese Texte bei größeren Projekten ab, sind Substrat oder zusätzliche Verwertung der Arbeit für Bücher, Vorträge oder Forschungen. Das Niveau ist insgesamt erstaunlich hoch.

127 Essays sind bisher veröffentlicht. Es bilden sich Schwerpunkte, die der Nukleus oder zumindest die Anregung zu selbständigen Publika-tionen sein könnten. Es fehlt zum Beispiel in der Bundesrepublik ein Buch über Kameraleute. Die „CineGraph“-Essays über Karl Freund, Carl Hoffmann, Guido Seeber, Jörg Schmidt-Reitwein (alle von Thomas Brandlmeier), über Thomas Mauch (Peter Körte), Martin Schäfer (Karlheinz Oplustil), Eugen Schüfftan (Rolf Giesen) und Xaver Schwarzenberger (Michael Töteberg) wären als Ausgangsbasis für ein solches Buch denkbar. Sieben Komiker haben bisher einen Essay: Curt Bois, Felix Bressart, Heinz Erhardt, Theo Lingen (sehr eigenwillig von Georg Seeßlen gesehen), Hans Moser, Heinz Rühmann, Karl Valentin. Vier bedeutende Dokumentaristen sind angemessen gewürdigt: Jürgen Böttcher (von Wilhelm Roth), Winfried Junge (von Lew Hohmann), Peter Nestler (von Jörg Becker) und Klaus Wildenhahn (von Jan Berg). Dietrich Kuhlbrodt nimmt sich kompetent und zugeneigt der Exzen-triker und Experimentalfilmer an: Hellmuth Costard, W + B Hein, Magdalena Montezuma, Dore O., Christoph Schlingensief, Werner Schroeter, Klaus Wyborny; einen Exkurs ist ihm Otto Gebühr wert. Sehr ernsthaft und originell sind die Texte von Georg Seeßlen über Alois Brummer, Luis Trenker und Alfred Vohrer. Über Brigitte Helm und Romy Schneider sollte neu nachgedacht und geschrieben werden.

Besonders notwendig sind Essays dort, wo monographische Literatur bisher nicht vorliegt. Es fällt also beim Umgang mit „CineGraph“ kaum ins Gewicht, daß würdigende Texte zu Lang, Lubitsch, Murnau und Fassbinder fehlen. Diese Regisseure sind jeder für sich an anderer Stelle ausführlich dargestellt. Koryphäen des neuen deutschen Films haben für den Herausgeber oder die Autoren hohe Priorität: Achtern-busch (Text von Hans Günther Pflaum), Dominik Graf, Reinhard Hauff (mit einem sehr entspannten Essay von Egon Netenjakob), Edgar Reitz, Helke Sander und Helma Sanders-Brahms, Schilling und Schlöndorff, Syberberg und Wenders. Die Texte über Herzog und Kluge aus frühen Lieferungen wären renovierungsbedürftig. Der DDR/DEFA-Film ist stark vertreten.

Essays der ersten und zweiten Lieferung – zum Beispiel Wolfgang Gersch, damals noch unter dem schützenden Pseudonym Werner Goldmann, über Slatan Dudow, Werner Sudendorf über Marlene Dietrich, Ulrich Kurowski über Werner Hochbaum – haben noch einen stichworthaften, fast provisorischen Sprachgestus, sind aber in ihrer Essenz von Bestand.

Bisher am weitesten geht Norbert Grob in seinem Veit Harlan-Aufsatz: Der komplexe Essay (20 Druckseiten) vertieft sich sehr differenziert in die politische und ästhetische Ambivalenz des Werkes eines noch immer verfemten Regisseurs. Ein öffentlicher Diskurs hat darüber nie stattgefunden. Aufsätze über die – allerdings auch weniger interessan-ten – Regisseure Karl Ritter (Autor: Julian Petley) und Gustav Ucicky (Goswin Dörfler) bleiben in ihrer traditionellen Argumentation deutlich dahinter zurück.

Drei Essays sind meine persönlichen Lieblingstexte: Judith Kuckart über Elfi Mikesch, Martina Müller über Max Ophüls und Daniela Sannwald über Conrad Veidt.

In ihren Gedanken und Beobachtungen gehen sie ganz eigene Wege, in ihrem Duktus sind sie keiner Konvention verpflichtet. So finden sich in „CineGraph“, wenn man das Lexikon nicht nur als Informationsquelle nutzt, auch Grenzüberschreitungen des filmhistorischen Schreibens.

Ein Werk wie ein Baum. Tief und fest verwurzelt in der deutsch-sprachigen Filmgeschichte. Hegen, pflegen, ernten!

HANS-MICHAEL BOCK (Hrsg.): CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. Loseblattwerk. Verlag edition text + kritik, München. 5.980 Seiten in fünf Ordnern, 275 DM.

Süddeutsche Zeitung, 15.7.1994