Texte & Reden
30. April 1994

Manfred Stelzers frühe Dokumentarfilme

Text für die Publikation „Kinemathek“

An der Basis

Berlin-Kreuzberg 1973. Im ›Georg-von-Rauch-Haus‹ herrscht Druck von außen und innen. Das Jugendzentrum wird seit einem Jahr, seit seiner spektakulären Besetzung, vom Bezirksamt und vom Berliner Senat allernfalls geduldet. Der Nutzungsvertrag gestattet den Behörden allerdings nur geringe Kontrollmöglichkeiten. Entsprechend angespannt ist das Verhältnis der Nutzer, die sich gegen bloße Trebegänger und Hippie-Philosophen zur Wehr setzen. Der Film Allein machen sie dich ein (Team: ›Georg-von-Rauch-Haus-Kollektiv‹, das sind: Susanne Beyeler, Rainer März, Manfred Stelzer; 73 Minuten) dokumentiert, aus der Sicht von innen, Leben und Arbeit im Jugendzentrum. Der Film handelt von Autonomie, von Hansi, Achim, Pepe, Irene, Vera und anderen.

Kalletal, Kreis Lippe, Frühjahr 1975 Das Spritzgußmaschinenwerk Stübbe, 1970 vom Mannesmann-Konzern aufgekauft, soll aus Rattionalisierungsgründen geschlossen werden. Es ist der größte Betrieb im Kalletal, manche Kollegen arbeiten dort seit ihrer Lehrzeit. Vertrauensleute, Betriebsräte und Arbeiter kämpfen um ihre Rechte, umihre Existenz. Der Film Kalldorf gegen Mannesmann (Team: Susanne Beyeler, Rainer März, Manfred Stelzer; 75 Minuten) dokumentiert, ganz nah bei den Betroffenen, den am Ende erfolglosen Kampf um 600 Arbeitsplätze. Der Film handelt von dem Betriebs-ratsvorsitzenden Hermann Ackermann, dem Ortsbevollmächtigten Karl Reichel, den Vertrauensleuten Gerd B. und Erhard F. und von namenlosen Arbeiterinnen und Arbeitern.

Hamburg im Herbst 1975. Auf dem ›Dom‹, dem berühmtesten Rummel in Norddeutschland, arbeiten Schaustellergehilfen für einen Hungerlohn: zwölf Stunden am Tag, 1,80 die Stunde. Sie träumen von Freiheit und Abenteuer, wie sie Freddy in seinen Liedern beschwört. Auf dem Rampenkarussell sind sie die Kings. Der Film Wir haben nie gespürt, was Freiheit ist (Team: Johannes Flütsch, Manfred Stelzer; 45 Minuten) dokumentiert Aufbau, Spielzeit und Abbau des ›Doms‹. Er handelt von Fernandos (20, gelernter Gerüstbauer) und James (24, gelernter Orgelbauer), die vor allem gute Freunde sind. Sie haben keinen Arbeitsvertrag, aber ein paar Illusionen.

Sommer 1976. Für die ›Eintracht‹, den Fußballverein in Essen-Borbeck, 2. Kreisklasse, beginnt die neue Saison mit einem 3:1-Sieg gegen Grün-Weiß Schönebeck. Der Trainer ist zufrieden, die Spieler gehen ins Vereinslokal, ›nach Deck‹, ihre Frauen ziehen mit. Der Film Eintracht Borbeck (Team: Susanne Beyeler, Rainer März, Manfred Stelzer; 51 Minuten) dokumentiert das Innenleben eines Amateurvereins im Ruhrgebiet, die Obsessionen der Männer, die Frustrationen der Frauen. Er handelt von Fanny, dem Mannschaftskapitän, vom Mittelstürmer ›Schläger‹, dem Trainer Jochen, seiner Frau Maria und von Elke, die in der Frauenmannschaft spielt. Eintracht Borbeck kämpft seit langem um den Aufstieg.

Frühjahr 1977, Fernfahrer on the road in der Bundesrepublik. Ihr Führerhaus ist ihre Welt. Sie glauben zu spüren, was Freiheit ist, auch wenn der Fahrtenschreiber wie eine Stechuhr funktioniert. Wer viel verdienen will, muß viel fahren. Aber auch bei einer 90-Stunden-Woche wird man nicht reich. Der Film Weiter Weg (Team: Johannes Flütsch, Marlies Kallweit, Manfred Stelzer; 55 Minuten) dokumentiert das Leben von Lkw-Fahrern auf Autobahnen, in Raststätten, an Grenzübergängen und auf dem flachen Land, in Berlin, in Hamburg, im Ruhrgebiet, zuhause. Der Film handelt von Mane und Gerd, die seit 16 Jahren gemeinsam unterwegs sind, von Gerds Frau, die eine Wochenendehe führt, von Jörg, der allein ist und seit acht Jahren fährt.

Als Manfred Stelzer im Herbst 1972 an die Filmakademie kam, hatte er eine Lehre als Physiklaborant hinter sich und eine Lehrzeit bei der Londoner Filmgruppe ›cinema action‹. Bei der Physik hatte er gelernt, wie manche Dinge funktionieren, bei den englischen Filmleuten hatte er begriffen, daß es gesellschaftlich eine Basis gibt: ganz unten. Stelzers Interesse war hinfort auf teilnehmende, politisch aktivierende Filmarbeit gerichtet: Menschen zu sich selbst, zu ihrem Recht und zu einer Öffentlichkeit zu verhelfen, indem man sie vor der Kamera von ihrer Situation erzählen läßt und bei alltäglich Aktionen beobachtet. Das hieß damals. „Filme mit den Betroffenen“, „Filme für die Betroffenen“, keine Filme über Betroffene. Die Protagonisten „kleine Leute“ zu nennen, war politisch keinesfalls korrekt. Denn in den dokumentarischen Filmen der siebziger Jahre – die Akademie war dafür ein Zentrum – sollten diese Menschen ›groß und stark‹ sein: Helden des Alltags, nicht ausgedacht, sondern gefunden, nicht inszeniert, sondern beobachtet.

Manfred Stelzers wichtigste Filmpartner – Susanne Beyeler, Johannes Flütsch, Rainer März – lernten wie er selbst engagiert ihr Handwerk mit Kamera und Tongerät, sie waren ›Kumpels‹, die sich auf jede Situation einlassen konnten. Sie interessierten sich wenig für eine Medienverwertung, aber sehr für das Leben ihrer Leute. Sie waren neugierig, sie konnten genau beobachten, sie kannten sich – weil sie selbst gearbeitet hatten – im Alltag der Arbeitswelt aus.

Die ersten Filme (Rauchhaus, Kalldorf) sind noch Redefilme, getragen von jugendlichem Ungestüm und laustarkem Zorn über die Leute ›da oben‹. Später, auf dem Rummelplatz, beim Fußball, auf der Autobahn, werden die Bilder und die Zwischentöne immer wichtiger, entsteht die notwendige Balance zwischen Reden und Zeigen, Hören und Sehen. Gefilmt wurde in 16mm, schwarzweiß.

Die Unmittelbarkeit, die Nähe zu den Menschen ist Resultat der Haltung eines Dokumentaristen. Die Beherrschung seines filmischen Handwerks vorausgesetzt, muß er sich zunächst nicht für ein Thema oder einen allgemeinen Konflikt interessieren, sondern für eine Gruppe von Personen, für einzelne Menschen. Dann wird er Konflikte zu spüren bekommen und ein Thema haben.

Manfred Stelzer – wie ich ihn aus der Arbeit an der Filmakademie kenne – hat sich nie für etwas Abstraktes, Theoretisches interessiert, sondern immer für das Handeln von Leuten, denen er sich nahe fühlen, mit denen er umgehen  konnte. An Debatten über ideologische Widersprüche, wie sie in der Akademie an der Tagesordnung waren, hat er nicht teilgenommen. Er leistete Basisarbeit wirklich an der Basis. Realität war für ihn nie ein Begriff, sondern immer eine Erfahrung. Das hat ihm bei der späteren Spielfilmarbeit mit Sicherheit geholfen.

1979: ein Berufsspieler on the road in der Bundesrepublik. Er kennt den Trick, wie man einen bestimmten Automatentyp überlisten und ›leerspielen‹ kann. Er ist ein Profi, gegen den die Zeit läuft, denn den Automatentyp wird es nur noch für eine gewisse frist geben. Der Film Monarch (Team: Johannes Flütsch, Manfred Stelzer; 85 Minuten) dokumentiert die Arbeit, die Träume, die ›Selbstverwirklichung‹ eines seltsamen Spielers, geboren 1939. Der Film handelt von einarmigen Banditen und von einem Einzelgänger, einem Selbstdarsteller. Für Manfred Stelzer war das der Übergang zum Spielfilm.

Kinemathek, Berlin, Nr. 83, September 1994