Texte & Reden
19. Februar 1994

Zum 100. Geburtstag von Carl Mayer

Einführung zu sylvester im Astor-Filmtheater

Es ist schade, dass dieses Kino nur noch 300 Plätze hat – heute Abend hätte die doppelte Anzahl uns aus einiger Verlegenheit geholfen. Ich darf Sie nicht einmal auffordern, enger zusammenzurücken. Betrachten Sie sich also als privilegiert.

Meine Damen und Herren, morgen, am 20. Februar, wäre der Drehbuchautor Carl Mayer 100 Jahre alt geworden; und am 1. Juli jährt sich sein 50. Todestag. Die Deutsche Kinemathek und die Berliner Filmfestspiele wollen mit dieser Hommage an den bedeutendsten Drehbuchautor des Films der Weimarer Republik erinnern, der – wie so viele andere Künstler des Films – vor den Nationalsozialisten ins Exil flüchten musste. Carl Mayer, das brauche ich Ihnen eigentlich gar nicht zu sagen, war der Co-Autor von Robert Wienes das cabinet des dr.caligari, er hat Drehbücher für Murnau und Lupu Pick geschrieben, für Kurt Bernhardt und Paul Czinner. Die zeitgenössische Kritik nannte ihn einen „Filmdichter“. Er konnte – wonach auch heute Drehbuchautoren immer streben sollten – Geschichten so bildhaft aufschreiben, dass sie fast mühelos und ohne die Last der überflüssigen Worte in Film zu übersetzen waren.

Aufgeführt wird heute Abend der 1923 von Lupu Pick gedrehte Film sylvester – als deutsche Premiere einer wiedergefundenen integralen, viragierten Fassung. Es ist ein großer Glücksfall, dass diese Kopie vor einigen Jahren in einer privaten japanischen Sammlung, der Komiya Tomijiro Collection, entdeckt wurde. Wir haben unseren Kollegen des Film Center im National Museum of Modern Art nicht nur für die Restaurierung des Films zu danken, sondern auch für die Möglichkeit diesen Klassiker des deutschen Films der zwanziger Jahre heute hier zeigen zu können. Hisashi Okajima, Filmkurator in Tokio, der die Reise von Japan nach Berlin wegen anderer Verpflichtungen nicht antreten konnte, hat mich gebeten, Ihnen das folgende Grußwort vorzulesen:

Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie zu dieser Vorführung des Films Sylvester gekommen sind. Wir freuen uns, dass wir Ihnen die besterhaltene Kopie dieses Meisterwerks hier auf dem Berliner Filmfestival erstmals in Deutschland zeigen können, in jenem Land, in dem der Film ja auch produziert wurde. Und wir fühlen uns sehr geehrt, daß wir mit dieser Präsentation dazu beitragen können, an den 100. Geburtstag des großen Drehbuchautors Carl Mayer zu erinnern.

Eine so vollständige Kopie des Films – wie Sie sie gleich sehen werden – galt lange Zeit als unwiederbringlich. Dieser Film, diese Kopie, wurde – wie eine Reihe weiterer seltener europäischer Stummfilme – am anderen Ende der Welt, in Tokio, gefunden und von japanischen Filmarchivaren gesichert. Ich möchte Ihnen kurz die Geschichte des Funds und der Restaurierung dieses Films erzählen. In diesem Zusammenhang gibt es auch einige Personen, deren Namen genannt werden müssen.

Alles begann an einem Sommermorgen des Jahres 1988 mit einem Telefonat. Der Direktor unseres Museums rief mich in meinem Büro im Film Center an, was ziemlich ungewöhnlich war. Aber ich begriff sofort, dass etwas Besonderes geschehen sein musste, denn die Stimme unseres Direktors Hitoshi Osaki klang anders als sonst. Er sagte, er habe gerade Besuch von einem Gentleman namens Takashi Komiya, der ihm erzählt habe, er bewahre in seinen privaten Lagerräumen in der Tokioter Bucht, gar nicht weit von unseren Büros entfernt, einige alte Filme auf. Er habe sie von seinem Vater, Tomijiro Komiya, geerbt.

Ein paar Tage später trafen Herr Komiya, der zweite Kurator Yoriaki Sazaki und ich uns am Lagerhaus und fanden dort etwa 200 große Filmbüchsen. Einige waren sehr verschmutzt und rostig, aber die Nitrofilme selbst schienen in einem noch recht guten Zustand zu sein, obwohl das Lagerhaus sehr nah am Meer lag. Wir brachten alle Filme in unser Archiv und begannen dann, die Titel zu identifizieren. Ich war ungeheuer aufgeregt, als ich zum Beispiel den Titel la chute de la maison usher (Jean Epstein, 1927) fand und noch überraschter, als ich feststellte, dass es eine eingefärbte, eine viragierte Kopie war. Viele andere Filmtitel waren mir nicht geläufig. Und um ehrlich zu sein, als ich den Vorspann von sylvester das erste mal sah, fragte ich mich, ob es sich dabei um eine dieser lustigen cat-movie-series handeln könne.

Unser Problem war, dass keiner unserer Archivare im Film Center mit der Geschichte des europäischen Films der zehner und zwanziger Jahre ausreichend vertraut war. Wir baten dann unseren engen Freund Hiroshi Komatsu um Hilfe bei der notwendigen Recherche. Er ist einer der verlässlichsten und seriösesten Filmhistoriker unseres Landes und obendrein ein regelmäßiger Besucher des Stummfilmfestivals in Pordenone. Schon nach einem ersten kurzen Blick sagte er zu mir: „O mein Gott, ich kann es kaum fassen. Das ist wirklich eine sensationelle Entdeckung, und Sie werden sehen – sie wird vieles verändern.“ Er sollte Recht behalten. Vor allen Dingen hatten wir nun für ein großes Budget zu sorgen, um eine adäquate Sicherung und Restaurierung gewährleisten zu können. Durch einige beispiellose finanzielle, archivarische und technische Anstrengungen (tatsächlich könnte ich es einen „gothic struggle“ nennen – so wie Roger Ebert diesen Terminus gebraucht hat, um den Film nach der Präsentation in Telluride zu würdigen) und nach zahlreichen „Irrungen und Wirrungen“ konnten unsere filmarchivarischen Aktivitäten auf eindrucksvolle Weise gezeigt werden. (…)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit – heißt es am Ende des Grußwortes von Hisashi Okajimi – und wünsche Ihnen viel Vergnügen bei diesem großen deutschen Stummfilmklassiker, der heute aus dem fernen Japan zu Ihnen zurückgekommen ist.

Ich füge diesem Wunsch aus Japan ein kurzes Zitat aus der Premierenkritik von Kurt Pinthus aus dem „Tage-Buch“ hinzu. Pinthus schrieb 1924, also vor genau 70 Jahren: „Liebe zu einer fortschreitenden Sache, leidenschaftliche Arbeit an diesem Experiment sollen gepriesen sein. Das Wesentliche des Films ist die Bewältigung der Umwelt; zum ersten Male ist hier das Leben der Erdoberfläche pulsend und erbarmungslos sichtbar in so großer Weite, daß das Einzelgeschehen zum Symbol dieses Großen ward.“

Nun also sylvester – als Hommage an Carl Mayer, geboren am 20. Februar 1894 in Granz, gestorben am 1. Juli 1944 in London.

Der Film wird von Peter Gotthardt am Klavier begleitet.

Berlin, Astor-Filmtheater, 19. Februar 1994