Texte & Reden
28. Mai 1992

Fassbinder in der Aufnahmeprüfung der DFFB

Beitrag zu einer RWF-Dokumentation

Die Bewerbung

     1.

Am 17. September 1966 wurde die Deutsche Film- und Fernseh-akademie Berlin eröffnet. 32 Studenten und drei Studentinnen begannen damals mit ihrer Ausbildung. Nicht dabei war Rainer Werner Fassbinder. Er hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden. Jahre später, als Fassbinder berühmter war als alle Absolventen des ersten Akademiejahrgangs, wurde der Misserfolg seiner Bewerbung den Prüfern angelastet. Nicht der Kandidat hatte versagt, sondern die Kommission. Denn sie hatte offensichtlich ein Genie übersehen. Aber setzt sich nicht jede Kommission, die über Fähigkeiten und Begabun-gen zu entscheiden hat, dem Risiko der Fehlentscheidung aus? Es ist ziemlich müßig, Fassbinders Arbeiten aus der Aufnahmeprüfung in Berlin daraufhin zu untersuchen, ob die damalige Ablehnung begründet war. Schließlich fehlt dafür der Vergleich mit den anderen Bewerbun-gen. Spannend ist die Lektüre als Einblick in die Denk-, Argumenta-tions- und Schreibweise von Rainer Werner Fassbinder im Frühjahr 1966. Er ist damals 20 Jahre alt.

     2.

„Sehr geehrte Herren“, schrieb Fassbinder am 3. Februar 1966 an das Sekretariat der DFFB, „falls es noch möglich ist, sich zu den Aufnahme-prüfungen an Ihrer Akademie zu bewerben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Zulassungsbedingungen mitteilen wollten. Mit vorzüglicher Hochachtung…“ 825 Interessenten hatten damals diese Bedingungen angefordert, auf die meisten müssen sie demotivierend gewirkt haben, denn bis zum Anmeldeschluss am 31. März 1966 waren nur 245 Bewerbungen in Berlin eingetroffen. Vorausgesetzt für die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung wurden: möglichst Abiturzeugnis, anschließende Tätigkeit oder ein Studium, Alter zwischen 23 und 28 Jahren (Ausnahmen waren möglich). Als Bewerbungsunterlagen sollten eingereicht werden: Zeugnisse, Tätigkeitsnachweise, Beispiele selbständiger künstlerischer Arbeiten – also Filme, Fotos, Zeichnun-gen, Gedichte, Novellen, Dramen, Drehbücher usw.

Fassbinder schickte keine Zeugnisse oder Tätigkeitsnachweise, sondern schrieb: „Ich bin Schauspieler, habe aber erst jetzt Gelegenheit, die Abschlussprüfung bei der Bühnengenossenschaft zu absolvieren. Termin: 18.4.66. Ich war noch nicht im Engagement.“ Als künstlerische Arbeit reicht er „Parallelen. Notizen und Texte zu einem Film“ ein. Die Prüfungskommission – sie bestand aus den beiden DFFB-Direktoren Erwin Leiser und Heinz Ratsack und den Dozenten Ulrich Gregor und Peter Lilienthal – lud 74 Bewerber zur Aufnahmeprüfung nach Berlin ein. Lilienthal notierte sich bei Fassbinder: „20jähriger Schauspieler, der für sein Alter eine bemerkenswert gute Drehbuchvorlage eingeschickt hat.“ Leiser: „’Parallelen’ ist ein Ansatz und verblüffend in seiner Schlagkraft. Soll zur Aufnahmeprüfung kommen.“

     3.

Die Aufnahmeprüfung fand vom 23. bis 26. Mai 1966 in Berlin statt: in der Villa des Literarischen Colloquiums am Wannsee, in einem SFB-Studio (Filmvorführung) und in den Räumen der Filmakademie am Theodor-Heuss-Platz. Geprüft wurde praktisch und schriftlich. Vom praktischen Teil waren 20 Bewerber befreit, weil sie in diesem Bereich bereits professionell gearbeitet hatten. Praktisch hieß: eine Übung mit der 8mm-Kamera, entweder als Improvisation mit Schauspielern und Requisiten im Studio oder als Gestaltung eines freien Themas draußen oder als Reportage aus dem Alltagsgeschehen um den Funkturm herum. Man hatte 15 Minuten Aufnahmematerial, der Film sollte nicht länger als acht Minuten dauern und ohne Ton verständlich sein. Fassbinder hat einen Film gedreht, der leider nicht erhalten ist. Als Berater für die Beurteilung der kurzen Filme fungierte damals der Regisseur Wolfgang Staudte. An der ganzen Prüfung (einschließlich Abschlusssitzung) nahm Gerard Vandenberg als Berater für Fragen der Kamera teil.

     4.

Erste Aufgabe war die Beantwortung eines Fragebogens. Dafür hatten die Bewerber vier Stunden Zeit. Es wurden 26 Fragen aus den Gebieten Film, Literatur, Theater, Politik, Kunst, Fernsehen, Naturwissenschaft gestellt. Reine Wissensfragen waren in der Minderzahl, gefordert waren Stellungnahmen oder Erinnerungen an künstlerische Eindrücke. Die Kommission erwartete davon Aufschluss über die „allgemeine Orientierung der Bewerber, ihren Bildungsstand und ihr Interesse auch für andere Fragen als lediglich künstlerische.“ (Fassbinders Antworten auf den Fragebogen sind im Buch nachzulesen). Der Fragebogen war noch bis 1969 Bestandteil der DFFB-Aufnahme-prüfung, dann wurde er auf Drängen von Dozenten und Studenten abgeschafft, weil er die Bewerber als „Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Ideologie“ einschüchtern könnte.

     5.

Die zweite schriftlich zu lösende Aufgabe war die Adaption einer Kurzgeschichte. Die Kommission hatte dafür die Geschichte „Der Kleine-Mädchen-Fresser“ von Septimus Dale ausgewählt. Die Bewerber sollten herausfinden, wie sich diese Story verfilmen ließe und ein Exposé von drei bis fünf Seiten herstellen. Außerdem war ein Drehbuch-auszug von 25 Einstellungen auszuarbeiten. Das Exposé sollte deutlich machen, welche Elemente der Vorlage man übernehmen oder weg-lassen würde, was möglicherweise hinzuzunehmen wäre. Wichtig waren die persönlichen Akzente, das Milieu, das Verhältnis der Personen untereinander. (Fassbinders Exposé ist im Buch abgedruckt.)

     6.

Eine weitere schriftlich zu lösende Aufgabe war die Beurteilung eines Films. Es stand den Bewerbern frei, diese in Form einer Tageskritik, einer Abhandlung für eine Fachzeitschrift oder einer Analyse zu verfassen. Wert wurde auf die Begründung eigener Ansichten gelegt. Zur Auswahl standen drei Filme: die geschichte der nana s. (Godard), der Kurzfilm die brücke über den eulenfluss (Robert Enrico) und die Fernsehdokumentation beat in ober-bayern. Fassbinder schrieb über die geschichte der nana s. (Der Text ist im Buch abgedruckt.) Die Kritik eines Films gehört noch heute zur Aufnahmeprüfung an der DFFB.

     7.

Die nächste Aufgabe: Analyse einer Spielfilmsequenz. Den Bewerbern wurde die erste Sequenz des Films ein zum tode verurteilter ist entflohen von Robert Bresson vorgeführt. Den Titel erfuhr man nicht. Es kam auf sorgfältige Detailbeobachtung an, auf das Erkennen der Gestaltungsmittel, ihre Beschreibung und Bewertung, sowie eine zusammenfassende Gesamtbeurteilung. (Fassbinders Analyse ist im Buch abgedruckt.) Fassbinders relativ kurzer Text verzichtet – im Gegensatz zu anderen Bewerbern – auf das orthodoxe Instrumentarium einer Sequenzanalyse. Er dringt ganz schnell in das Zentrum des Films selbst vor und beschreibt dadurch sehr eindrücklich den Charakter des Bresson-Films und die Haltung seines Regisseurs.

     8.

Die Bewerber hatten die Möglichkeit, sich durch einen zusätzlichen Text der Kommission erkennbarer zu machen. Fassbinder wählte die Form eines Briefes und schrieb an den Produzenten L. (Der Brief ist im Buch abgedruckt.) Auch dieser herzzerreißende Brief hat die Prüfungskommission nicht gerührt. Aufzeichnungen über die Einschätzung von Fassbinders anderen Arbeiten in der Aufnahmeprüfung sind nicht überliefert.

     9.

Es bestanden die Prüfung: Jörg Michael Baldenius, Hans Beringer, Hertmut Bitomsky, Karl-Dieter Briel (gestorben im Dezember 1988), Gerd Conradt, Gerd Delp, Enzio Edschmid, Lutz Eisholz, Harun Farocki, Bernd Fiedler, Wolf Gremm (Regisseur des Films kamikaze 1989, in dem Fassbinder die Hauptrolle spielte), Frank Grützbach, Thomas Hartwig, Utz Kempe, Ulrich Knaudt, Gerda-Katharina Kramer, Josef Kristof (gestorben im Juli 1969), Wolfgang Krone, Holger Meins (gestorben nach einem Hungerstreik im November 1974), Hilmar Mex, Hans Rüdiger Minow, Thomas Mitscherlich, Jean-François le Moign, Skip Norman, Wolfgang Petersen, Balz Raz, Helke Sander, Wolfgang Sippel, Peter Schirmann, Daniel Schmid (Darsteller in händler der vier jahreszeiten, Regisseur von schatten der engel), Gerry Schum (gestorben im März 1973), Günter-Peter Straschek, Irena Vrkljan, Max Willutzki, Christian Ziewer.

     10.

1967 bewarb sich Fassbinder noch einmal bei der DFFB. Er schickte zwei Filme ein (der stadtstreicher und das kleine chaos), das Buch zu einem Fernsehspiel („Tischtennis“) und zusammen mit der Bewerberin Susanna Schimkus ein Buch zu einem Fernsehspiel („Das dreißigste Jahr“). Meinungen aus der Vorauswahlkommission: „Nicht genügend vorgebildet. Filme: nicht ausreichend.“ „Zweite Bewerbung. Habe ‚Tischtennis’ gelesen. Sehr bemüht, aber leider kein Ansatz. Trotzdem – vielleicht sollte man es versuchen, falls eigene Filme hoffen lassen.“ „Filme noch immer nicht ausreichend.“ Fassbinder wurde nicht zur Prüfung eingeladen.

Text in: Rainer Werner Fassbinder Foundation (Hg.): Rainer Werner Fassbinder Werkschau. Berlin: Argon 1992.

Im Buch sind Fassbinders Prüfungsleistungen (Beantwortung eines Fragebogens, Exposé zur Adaption einer Kurzgeschichte, Beurteilung des Films die geschichte der nana s., Analyse einer Sequenz des Films ein zum tode verurteilter ist entflohen, Brief an den fiktiven Produzenten L.) dokumentiert.