NOSFERATU (1922)

Filmeinführung in Hongkong

Vor einem Film, der im Untertitel „Eine Symphonie des Grauens“ verspricht, soll man nicht viel reden. Aber ein paar Hinweise sind bei diesem alten deutschen Film vielleicht hilfreich. Ich will dabei nichts Interpretierendes sagen, auch nichts zur Bedeutung von Murnau, einem der drei großen deutschen Regisseure der zwanziger Jahre. Ich will vielmehr auf eine Art Wiederentdeckung des Films zu sprechen kommen, die nach seiner Rekonstruktion durch Enno Patalas und das Münchner Filmmuseum stattgefunden hat.

nosferatu wurde im März 1922, also vor 70 Jahren, in Berlin uraufgeführt und hatte großen Erfolg. 1930 entstand eine Tonbearbeitung. Dafür wurde der Film umgeschnitten und mit neuen Szenen angereichert. Das Originalnegativ wurde dabei zerstört. Als man sich in den sechziger Jahren in Deutschland wieder für die Filme der zwanziger Jahre interessierte, suchte man den alten nosferatu und fand eine brauchbare Fassung in Amerika. Sie hatte englische Zwischentitel und stammte im Bildmaterial aus Frankreich, von der Cinémathèque Française. Der deutsche Verleiher ließ die Zwischentitel ins Deutsche zurückübersetzen und behauptete, dies sei der authentische nosferatu. In den sechziger Jahren war man bei uns sehr genügsam beim Wiedersehen mit alten Filmen. Im Staatlichen Filmarchiv der DDR existierte eine Kopie der Tonbearbeitung von 1930 mit den alten deutschen Zwischentiteln. Außerdem gab es noch eine spanische Kopie von 1930.

Als Enno Patalas 1978 mit seiner Rekonstruktion begann, hatte er zunächst drei, im Laufe der Arbeit aber mindestens sieben unterschiedliche Kopien zur Verfügung. Herausgekommen ist nicht eine definitive Wiederherstellung der Originalfassung des Films, sondern eine Zwischenlösung. Etwas Fertiges wird es nicht mehr geben.

Für die Arbeit und das, was Sie jetzt davon sehen, waren vier Aspekte wichtig:

1. Der Film sollte so komplett wie irgend möglich wiederhergestellt werden. Die Originalfassung war 1967 Meter lang. Die Münchner Rekonstruktion ist 1910 Meter lang. Es fehlen also noch 57 Meter. Bei der deutschen Fassung der sechziger Jahre fehlten mindestens 400 Meter, und viele Szenen waren in falscher Reihenfolge montiert.

2. Beim nosferatu haben die Zwischentitel eine besondere Funktion. Sie geben nicht nur Überschriften oder Dialoge wieder, sie sind als eigene Einstellungen komponiert. Es sind Texte aus der Pestchronik, dem Vampirbuch und dem Logbuch des Geisterschiffs. Dazu kommen Briefe und amtliche Dokumente. Buchseiten werden umgeblättert. Die Kamera nimmt die Schriften nicht statisch auf, sie bewegt sich dabei. Die Zwischentitel geben dem Film seinen speziellen Rhythmus. Seit den zwanziger Jahren waren diese Originalzwischentitel aus dem Film verschwunden.

3. nosferatu war – wie sehr viele Stummfilme – kein Schwarzweiß-Film. Es war damals üblich, die einzelnen Einstellungen mit jeweils einer Farbe zu tonen oder einzufärben. nosferatu braucht diese Farben, um als Tag- und Nachtfilm zu funktionieren. In den seit Jahrzehnten gezeigten Schwarzweiß-Fassungen wandelt der Vampir bei Tageslicht durch die Straßen oder fährt bei Helligkeit auf der Kutsche. Im Original waren diese Szenen blau eingefärbt, womit für die Zuschauer klar wurde: es ist Nacht, im Freien. Nächtliche Innenszenen wurden gelb gefärbt, Tagesszenen braun, die Dämmerung wurde mit einem rosa Ton angedeutet. Für das Verständnis und die Wirkung des Films ist die Farbe also wichtig. In der Rekonstruktion ist sie so authentisch wie möglich wiederhergestellt worden.

4. Schließlich: nosferatu war kein Stummfilm. Es gab eine eigens komponierte Musik dazu von Hans Erdmann, die leider nicht erhalten ist. Es existiert allerdings eine Suite des Komponisten, die alle wichtigen Motive enthält. Sie dient auch heute dem Pianisten als Orientierung für seine Begleitung. Damit ist zumindest eine Annäherung an die damalige Musik möglich.

Der Film entstand nach Motiven des Romans „Dracula“ von Bram Stoker. Werner Herzog hat 1978 ein Remake des Murnau-Films versucht. „Dracula“ wird zurzeit wieder einmal verfilmt. Von Francis Ford Coppola. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der ersten Verfilmung, die jetzt siebzig Jahre alt ist.

Hongkong,  20. April 1992