Texte & Reden
08. November 1990

Joe May

Rede zur Eröffnung des CineGraph-Kongresses in Hamburg

Meine Damen und Herren,

es ist undankbar, in einem Kino, vor einem Publikum, das auf einen Stummfilm gespannt ist – der auch noch viel versprechend die herrin der welt heißt – zu reden. Aber jeder Kongress hat seine Rituale, zu einer Eröffnung gehören Ansprachen. Und viele, die hier im Kino sitzen, tun das auch nicht nur aus purem Vergnügen. Sie wollen vielmehr in den nächsten Tagen filmhistorisch arbeiten. Sie sind Teilnehmer des Joe May-Kongresses, der heute Abend beginnt. Zu dieser Tagung bin ich mit einigen meiner Kollegen der Stiftung Deutsche Kinemathek von Berlin nach Hamburg angereist, und Hans-Michael Bock hat mich gebeten, Ihnen als Botschaft oder Grußwort zwei oder drei Gedanken vorzutragen, die etwas mit dem Anlass dieser Zusammenkunft zu tun haben.

Ein erster Gedanke ist: Dass die Zahl der Kongresse ständig steigt, dass es neuerdings auch spezielle Medienkongresse gibt, dass aber das Medium Film darin kaum noch vorkommt und die Geschichte des Films schon gar nicht. Insofern ist dieser Kongress eine ungewöhnliche Veranstaltung, wenn im Mittelpunkt ein in Österreich geborener, in Deutschland bekannt gewordener und später in den USA gestorbener Filmregisseur steht, der vor allem in den zehner und zwanziger Jahren Unterhaltungsfilme produzierte und inszeniert hat.

Von denen, die auf den großen Kongressen über Neue Medien und effektive Produktionsformen, über triviale Programme und den Verlust kultureller Identität streiten, darf man hier niemanden erwarten. Aber wäre es nicht nahe liegend, sich auch mit der Vergangenheit zu beschäftigen, wenn es um die Zukunft geht? Ich bin sicher, dass man von einem wie Joe May einiges lernen kann. Nur muss man sich dazu auf eine Beschäftigung mit ihm einlassen. Hinschauen. Nachdenken. Zuhören. Analogien herstellen. Eben nicht nur: sich um Filmpakete streiten oder generell den Niedergang der Unterhaltung beklagen. Aber schon das Wort Stumm­film lässt die Medienstrategen nur müde lächeln, weil es etwas bezeichnet, was sie nicht verwerten können. Schließlich macht der Ton die Musik der modernen Filme, und so gesehen sitzen hier lauter Nostalgiker.

Ein zweiter Gedanke ist: Dass ich 1995, der Film feiert dann seinen 100. Geburtstag, die Frankfurter Buchmesse besuche, die dann vielleicht auch in Leipzig stattfindet, und mich in die Halle 6 begebe: zum Stand des Verlages edition text + kritik, hoffentlich noch immer gegenüber vom Verlag der Autoren. Inzwischen ist der siebte Ordner des CineGraph erschienen, das Lexikon zum deutschsprachigen Film umfasst nun schon 7.800 Seiten und alle wichtigen Personen haben es mindestens zu einem „Mini“ gebracht. Freudestrahlend präsentieren die Herausgeber Hans-Michael Bock, Wolfgang Jacobsen und Jörg Schöning den achten Band der CineGraph-Buchreihe: er ist dem Autor Carl Mayer gewidmet, zu dessen 100. Geburtstag 1994 in Hamburg ein Kongress stattgefunden hat. Auch die anderen sieben Bände bilden eine eindrucksvolle Reihe am Verlagsstand: Reinhold Schünzel, Richard Oswald, Joe May, E. A. Dupont, Ludwig Berger, Wilhelm Dieterle und Pola Negri. Aber vielleicht sollte ich das ja nicht verraten, weil es die Herausgeber noch gar nicht wissen und auch alles ganz anders kommen kann. Nur sehe ich – in meiner Bibliomanie – diese Buchreihe im metallischen Grau vor mir, und einen zufriedenen Verleger und eben Hans-Michael Bock, der mit mir besprechen möchte, wie wir nun am besten den Index des Film-Kurier, der rechtzeitig zum 100. Ge­burtstag der Kinematographie fertig gestellt wurde, der Öffentlichkeit präsentieren. Soll das in Hamburg passieren oder in der Hauptstadt Berlin? Immerhin haben wir dort im Frühjahr 1995 das Filmhaus Esplanade am Potsdamer Platz eröffnet. Leider herrscht dort ein so chronisches Verkehrschaos, dass man es niemandem zumuten kann, sich zu einem bestimmten Termin einzufinden. Und die Stadt ist so verarmt, dass wir höchstens Bouletten reichen können. Also. Hamburg.

Aber genug der Visionen. Sie sollten ja auch nur – das war mein Gedanke – die nun schon sehr lange und solide Zusammenarbeit zwischen CineGraph, dem Hamburgischen Centrum für Filmforschung e.V., und der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin belegen. Seit zwanzig Jahren gibt es persönliche und fachliche Verbindungen zwischen dem Hamburger Filmforscher Bock und der Berliner Kinemathek. Ich erinnere mich an ein großes Projekt zur deutschen Filmgeschichte, an die Gründung einer entsprechenden Gesellschaft und an manche Sackgassen, in die wir geraten sind. Ich denke auch – und mit Verehrung – an viele Impulse, die Heinz Rathsack, mein Vorgänger und langjähriger Förderer in der Kinemathek, für die Intensivierung der Hamburg-Berlin-Verbindung gegeben hat. Und wir haben ja auch manches vorzuweisen: unsere Bücher über Henny Porten (1986) und Erich Pommer (1989) hätten ohne die fachliche Unterstützung der CineGraph-Mitarbeiter Corinna Müller und Jörg Schöning so nicht entstehen können. Dafür haben wir dann Geburtshilfe beim Richard Oswald-Buch geleistet. Was es zwischen CineGraph und der Kinemathek bisher gottlob nicht gibt, sind Konkurrenzgefühle, Profilierungen auf Kosten des anderen, Missgunst. Für schwierige Situationen haben wir auch einen Go-Between, den um Ausgleich besorgten Wolfgang Jacobsen.

Der große Kreis von Interessenten, den CineGraph mit diesem Kongress nach Hamburg zieht, ist auch ein Erfolgsbarometer und ein Kompliment für die Veranstalter. Zwar ist die Größenordnung des Stummfilmfestivals von Pordenone – wo viele von uns sich vor einem Monat getroffen haben – noch nicht erreicht. Aber der fachliche Disput wird hier sicher konzentrierter und intensiver sein als das Geschnatter der Filmarchivare im Foyer des Teatro Cinema Verdi.

Ein dritter und letzter Gedanke – damit komme ich auch wieder zu Joe May. Im nächsten Monat, das ist ja gar nicht zu übersehen, wird der 100. Geburtstag von Fritz Lang gefeiert. Retrospektiven und Ausstellungen landauf landab erinnern an den großen Regisseur. Würdigende Texte sind in Arbeit oder liegen schon vor. Lang gebührt viel Ehre, sie wird ihm nun zuteil. Eigentlich ist das auch eine gute PR-Arbeit, aber ob die Lang-Filme damit bekannter und verbreiteter werden, ist sehr die Frage. Bei Joe May, der zeitweise eng mit Lang zusammengearbeitet hat, stellt sich die Frage noch anders. Gestern wäre er 110 Jahre alt geworden. Als vor zehn Jahren sein 100. Geburtstag auf dem Kalender stand, hat keine Zeitung ihn gewürdigt, kein Kino seiner gedacht. Mein Kollege Werner Sudendorf schrieb damals in der Film-Korrespondenz über May und Richard Oswald, der zwei Tage zuvor ebenfalls 100 geworden war:

„Bei aller Verschiedenheit teilen Joe May und Richard Oswald dann doch wieder das Los vieler anderer Regisseure von Trivialfilmen des ersten Drittels unseres Jahrhunderts. Die Besichtigung ihrer Filme bleibt ein Zufallstreffer; die Bewertung orientiert sich an den Veröffentlichungen ihrer Zeitgenossen und nicht an ihren Produktionen – ein trübseliges Verfahren. Ihr hundertster Geburtstag wäre ein Anlass, diese ungenügenden Voraussetzungen zu ändern.“ Der Anlass ist damals nicht genutzt worden, beide Regisseure blieben terra incognita. Oswald war dann vor einem Jahr Thema des hiesigen Kongresses (und die Publikation liegt vor). Joe Mays Filme zu sehen und zu bewerten ist jetzt, sozusagen im Schatten des 100. Geburtstages von Fritz Lang, möglich.

Und weil Sudendorf in seinem damaligen Geburtstagsartikel auch eine kurze Vita von Joe May geliefert hat, zitiere ich ihn noch ein bisschen weiter: „Joe May, geboren am 7. November 1880 in Wien, kam auf Umwegen zum Film. Ein Kind reicher Eltern, studiert er zunächst auf der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin. Zurück in Wien baut er einen Rennstall auf und gibt das Vermögen seiner eltern bis auf den letzten Pfennig aus. Darauf geht er nach Italien, das ihn ls gewieften Vertreter für Feuerzeuge erlebt; 1909 lässt er sich erneut in Wien nieder. Ein Jahr später folgt er einem Engagement seiner Frau Mia May nach Hamburg und inszeniert mit Hilfe des Kameramannes Emil Schünemann einen Film für die Revue ‚Rund um die Alster’: Derselbe Kameramann bringt ihn 1911 mit der Continental-Filmgesellschaft in Kontakt, für die May von nun an Regie führt. Auch May schreibt für seine Filme lange Zeit das Drehbuch selbst, später gehören E. A. Dupont, Thea von Harbou und Fritz Lang zu seinen Autoren. Früh gründet er eine eigene Produktionsgesellschaft, die neben seinen eigenen werken Filme von Harry Piel, Paul Leni, Lothar Mendes, Henrik Galee, Kurt Bernhardt, Fritz Lang und vielen anderen betreut. 1929 ist May Produktionsleiter bei der Ufa, drei Jahre darauf wird seine Firma aufgelöst. Über Paris emigriert er nach Hollywood, dreht dort 13 Filme, die bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland nicht gezeigt wurden. 1944 überwirft er sich mit der Studioleitung und wird fortan boykottiert. Freunde finanzieren dem Ehepaar May die Eröffnung eines Wiener Cafés in Hollywood, dessen Existenz nicht von langer Dauer ist. Am 29. April 1954 erliegt Joe May einem Herzschlag.- May – schreibt Sudendorf – war einer der wenigen echten Professionals des deutschen Films. Kunst kümmerte ihn wenig, er produzierte Kommerzfilme im besten Sinne des Wortes.“

Dies ist zu überprüfen und damit fangen wir jetzt an. Ich darf Ihnen viel Vergnügen wünschen beim ersten Teil des Fortsetzungsfilms die herrin der welt. Er heißt die freundin des gelben mannes und stammt aus dem Jahr 1919.

Hamburg, Kino Metropolis, 8. November 1990