Europa 1939

Vorwort zur Publikation der Retrospektive

Ein Jahr als Thema

Ein trauriges Bild: An einer Tanksäule, neben einem Auto, stehen zwei Männer und ein Junge, den Arm zum „Hitlergruß“ erhoben. Sie reagieren auf das Nichtsichtbare: das Deutschlandlied, das aus Lautsprechern tönt. Mag auch der Fotograf die Authentizität des Augenblicks aufgebessert haben – in den drei Gesichtern sieht man Pflichtgefühl, keine Begeisterung. Am 1. September 1939 stehen drei Menschen auf einer Straße in Berlin und erfahren, dass Krieg ist – auch wenn er noch nicht Krieg genannt wird. Ein trauriger Moment, eine rituelle Geste. Minuten später bekommt der Motor sein Öl, Tage später dürfen Autos nicht mehr privat genutzt werden, Jahre später ist Europa ein Trümmerfeld.

Nach fünfzig Jahren blicken wir jetzt auf jenes Jahr 1939 zurück, das zu den folgenschwersten der Weltgeschichte gehört, und wissen, dass es nicht wirklich Vergangenheit ist. Das Bild auf dem Umschlag dieses Buches ist ein Indikator dafür: Seine Absurdität wirkt nicht komisch, sondern bedrückend. Wie eine Folie sollte dieses Bild präsent sein, wenn die Filme des Jahres 1939, die für das Programm ausgewählt wurden, ins Nirgendwo ihrer Sujets und ihrer Genres zu verschwinden drohen.

Ein Jahr als Thema einer Filmretrospektive. Das außerfilmische Geschehen gibt die Blickrichtung vor und bildet den Kontext, in dem die Filme zu sehen sind. Ein paar Geschichtskenntnisse sind da schon von Nutzen. In den Filmen selbst ist die politische Dramatik des Jahres 39 nicht abgebildet. Nur der englische Film the lion has wings, unmittelbar nach Kriegsbeginn gedreht, thematisiert die aktuelle Situation, und die Wochenschauen liefern ihre propagandistischen Kommentare. Die meisten Filme geben ein Glücksversprechen ab und sind politisch nur in ihrer Negation der Politik. Wenn Filme von nationaler Geschichte oder sozialen Konflikten handeln, dann ist ihnen das Produktionsdatum schon leichter anzumerken. Die Filme von 1939 sind auffallend männerfixiert, wobei Soldaten und Spione meist im historischen Kostüm auftreten. Parallelen zur damaligen Gegenwart zu ziehen, galt als zumutbare Gedankenleistung. Die Wirkung der subkuta­nen Propaganda war im Übrigen nicht nur den Nazis bekannt.

Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion – die vier Großmächte, die 1939 in Europa das Sagen hatten, Amerika war weit weg – sind in der Retrospektive besonders exponiert vertreten. Schwerpunkte im Programm. Da ist es interessant zu sehen, dass Politik auch unwillentlich konterkariert wird: Wenn in dem englischen Film the spy in black ein deutscher Spion der insgeheime Held ist und in dem deutschen Film kitty und die weltkonferenz ein englischer Minister die sympathischste Figur. Beide Filme kamen im August 39 in die Kinos ihrer Länder. Wenn in dem sowjetischen Film borba prodolshajetsa (der kampf geht weiter) die Nazis die Erzfeinde der Kommunisten sind – Uraufführung: März 1939 – und in der Realität fünf Monate später Bündnisgenossen. In einem Jahr, in dem die Fronten so in Bewegung waren, hatten die Filme gelegentlich Mühe, auf der Höhe der Zeit zu sein. Der Schlüsselfilm jenes Jahres, Renoirs la règle du jeu, war es gewiss. Deshalb haben ihn die französischen Behörden auch bald verboten: Er war ihnen zu demoralisierend. Einen Kriegsfilm nennt ihn Renoir, in dem wirklicher Krieg nicht vorkommt. menaces, der Film über eine Handvoll Emigranten in Paris, ist noch ein direkteres Zeitzeugnis, dem 1944 ein neues Ende angefügt wurde. Und wie wirkten Hochbaums drei unteroffiziere damals? In dem Film gibt es zwischen den Hurragesten atemlose Momente der Trauer, Hochbaum wurde aus der Reichsfilmkammer ausgeschlossen und in den Krieg geschickt.

Zwischen den Motiven und Bildern der Filme Zusammenhänge herzustellen, auch das gehört zum Gedankenspiel einer Retrospektive. Es gibt Lehrer in goodbye, mr. Chips und in utschitel (der lehrer), Heimatfronten in fernen Ländern in the four feathers und aufruhr in damaskus, Militär­diktaturen in der gouverneur und med livet som insats (unter einsatz des lebens) – Karsten Witte führt das in seinem Essay weiter aus – Jungenträume in boefje und w ljudjach (unter den menschen), Mädchenträume in a girl must live und kitty und die weltkonferenz, Gäste unter einem Dach in menaces und hotel sacher, Uniformträger in drei unteroffiziere und le déser teur. Wir sehen die Bilder der deutschen emigrierten Kameramänner Curt Courant und Eugen Schüfftan in den französischen Filmen le jour se lève und sans lendemain, die Gesichter der deutschen emigrierten Schauspieler Lilli Palmer und Conrad Veidt in den englischen Filmen a girl must live und the spy in black, das deutsche Milieu in den russischen Filmen borba prodols hajetsa (der kampf geht weiter) und semja oppengejm (familie oppenheim). So entstehen Querverbindungen , die man damals nicht sehen konnte.

Wenn nach den Kriterien unserer Auswahl gefragt wird, können wir uns leicht mit der Antwort „repräsentative Vielfalt“ aus der Affäre ziehen. In Wahrheit haben – bei aller Überlegung und Planung – natürlich auch Zufall und Pech ihre Hand im Spiel. Von bestimmten Filmen, auf die schwer verzichtet werden konnte, existieren nur unspielbare Nitrokopien. Bei anderen verlangen die Rechteinhaber eine horrende Summe für eine einzige Vorführung. Und mit manchen Ländern ist der Brief- und Telefonverkehr so kompliziert, dass auch ein monatelanger Organisationsvorlauf nicht ausreicht. Auswahlreisen für diese Retrospektive gab es nicht. So fehlen polnische Filme im Programm, und der Anteil der italienischen ist gering. Diese Defizite sollen nicht programmatisch verstanden werden.

In jedem Programm eines Querschnittthemas steckt für den Filmliebhaber die reizvolle Aufforderung, es mit eigenen Assoziationen und Filmerinnerungen weiterzuentwickeln, zu variieren, neu zu ordnen – ein Spiel. Auch wenn das Thema so schwerwiegend ist wie Europa 1939.

Kein Seminar – deshalb haben wir auf Spielfilme verzichtet, die sich nur mit dem Hinweis auf ihren Zeitbezug rechtfertigen lassen. Jeder Film kann auch unabhängig von unserem thematischen Zusammenhang mit Gewinn gesehen werden. Das Bild der Drei an der Tankstelle vom 1. September 1939 sollte einem dabei nicht aus dem Sinn gehen.

 

Vorwort. Europa 1939. Filme aus zehn Ländern. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek 1989.