Texte & Reden
01. November 1988

Die Farben der fünfziger Jahre

Vortrag bei einer Filmkonferenz in Chicago

Über Fassbinders händler der vier jahreszeiten und lola

Von den 26 Spielfilmen, die Rainer Werner Fassbinder gedreht hat, spielen 18 in der Bundesrepublik Deutschland, in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren. Ort und Zeit der Handlung sind konkret fixiert oder aus dem Ambiente zu entschlüsseln. Drei seiner späten Film – die ehe der maria braun (gedreht Anfang 1978), die sehnsucht der veronika voss (Ende 1981) und lola (Anfang 1981) – hat Fassbinder selbst mit der Nummerierung BRD 1 – 2 – 3 in einen historischen Zusammenhang gestellt, als er sich 1980 entschlossen hatte, eine „Gesamtgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ aus seiner Sicht zu erzählen. „Ich werde viele Filme machen, bis ich mit meiner Geschichte der BRD hier und heute angekommen bin“, schrieb Fassbinder 1981. Mit seinem Tod, 1982, fragmentarisierte sich dieser Plan auf die genannte Trilogie. Die Erzählchronik war damit nur bis zum Jahr 1958 gediehen. Aber es waren vor allem die fünfziger Jahre, die Fassbinder damals interessierten, also die Zeit, in der er aufgewachsen ist. Gleichwohl haben diese Filme nichts Autobiografisches in sich.

Den Credit als Drehbuchautoren teilen sich für die drei Filme der ehemalige WDR-Fernsehredakteur Peter Märthesheimer (ab 19xx Produzent bei der Bavaria) und die Autorin Pea Fröhlich. Fassbinder reklamierte für sich nur die Idee zu maria braun und die Dialogmitarbeit an lola. In einem komplexeren Sinne ist natürlich Fassbinder der Autor der Filme, was hier nicht länger bewiesen werden muss.

Anton Kaes hat in einem seiner sechs Essays in dem Buch „Deutschlandbilder“ das Geschichtsbild Fassbinders, seine Erzählmuster und seinen Formenreichtum am Beispiel der ehe der maria braun sehr differenziert analysiert. Mein Interesse gilt einem speziellen Aspekt, nämlich der Farbe. Die Darstellung der fünfziger Jahre geschieht in dem Film lola – über die erzählte Geschichte hinaus – auf sehr spektakuläre Weise in den Bildern, im Zugriff der Farbe, in einer diffizilen Balance zwischen emotionaler Nähe und satirischer Distanzierung.

Ich beginne beim Drehbuch. Die Fassung vom März 1981 – Drehbeginn war im April – ist in der Form des Regiedrehbuchs im Fassbinder-Nachlass der Stiftung Deutsche Kinemathek zugänglich. Das Manuskript enthält in 65 Szenen den Handlungsablauf, Angaben zu den Schauplätzen und den ausformulierten Dialog. Von Fassbinder handschriftlich hinzugefügt sind: Titel der verwendeten Musikstücke, Veränderungen im Dialog, Ergänzungen im Szenenverlauf und Skizzen zur Bildauflösung in Form eines groben Storyboards. Hinweise zur Farbgebung fehlen durchgehend.

lola spielt in einer mittelgroßen Stadt in der Bundesrepublik. Das Drehbuch lokalisiert die Handlung nicht genauer und datiert sie auf den Herbst 1957: ein Wahlplakat soll für Konrad Adenauer und die CDU werben (Slogan: „Keine Experimente“). Zur Erinnerung: Bei den Wahlen zum Dritten Deutschen Bundestag im Herbst 57 erhielt die CDU/CSU 54,3 % der abgegebenen Stimmen, die SPD 34 %, die FDP 8,3 %. Schauplatz des Films ist Coburg im bayerischen Oberfranken, eine historische Stadt mit 40.000 Einwohnern. Ihre malerische Kulisse wird optisch kaum genutzt. Durch zwei Tondokumente konkretisiert Fassbinder die Zeit genauer als das Drehbuch: in der ersten Hälfte des Films ist eine Adenauer-Rede vom November 1956 zu hören, die sich auf den Aufstand in Ungarn bezieht, am Ende – in einer gezielten Analogie zur ehe der maria braun – eine Rundfunkreportage vom Fußballweltmeisterschaftsspiel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Schweden im Sommer 1958. Deutschland verlor das Spiel und der Verteidiger Juskowiak wurde vom Platz gestellt. Aber nicht als zeitgeschichtliche Konkretisierung werden die beiden Tondokumente wichtig genommen, sondern als atmosphärische Symbole. Adenauers Stimme ist das akustische Unterfutter für eine zentrale Dialogstelle der Protagonisten des Films, in der es um die Moral der Gesellschaft geht. Und die Fußballreportage signalisiert einen Niedergang: vom Weltmeister 1954 (in die ehe der maria braun) zum Verlierer 1958

Der Film lola handelt von einer Frau – Marie-Louise, genannt Lola – , einer Sängerin, die in einem Bordell arbeitet, ohne Vater aufgewachsen ist (er fiel bei Stalingrad), die ein uneheliches Kind hat und sich vom örtlichen Bauunternehmer aushalten lässt. Und der Film handelt von einem Mann – von Bohm – , der als Baudezernent neu in die Stadt kommt, moralische Prinzipien hat und sich in Marie-Luise verliebt, ohne von ihrer Lola-Existenz zu wissen. Aus der Perspektive dieser beiden Figuren, die am Ende heiraten, wird das Außen- und Innenleben der Stadt betrachtet. Bordell und Rathaus sind die beiden Hauptschauplätze, wo es um Fragen der Moral und Methoden der Korruption geht.

Um die Konflikte zuzuspitzen, greifen zwei weitere Männer in die Handlung ein: der Bauunternehmer Schuckert, der die Stadt beherrscht, Lolas Stammkunde ist und mit dem Baudezernenten sein Spiel treibt, und der städtische Angestellte Esslin, der ein Idealist ist, in der Bordellkapelle das Schlagzeug spielt, Lola verehrt und von Bohm die Augen öffnet. Der Film zeigt den Zusammenbruch der Ethik und Moral des Baudezernenten als Folge einer illusorisch-grenzenlosen Liebe. Signum der fünfziger Jahre ist das totale Arrangement: Der Bauunternehmer erhält die Genehmigung für ein zwielichtiges Großprojekt, der Baudezernent bekommt die geliebte Hure zur Frau, die Hure bekommt vom Bauunternehmer das Bordell geschenkt – und am Hochzeitstag bedankt sie sich dafür auf ihre Weise, während der Ehemann glücklich spazieren geht. Ein sarkastisches Ende.

Fassbinders inszenatorischer Zugriff hat das eher melodramatische Sujet in eine Komödie verwandelt: ironisch bis zum Zynismus, aber allen Figuren eine Ambivalenz lassend. In der Rezeption hat das zu manchen Irritationen geführt, weil die stilistischen Brechungen als künstlerische Schwächen definiert wurden.

Zur Produktionsgeschichte gehört, dass Josef von Sternbergs Film der blaue engel von 1930 der Ausgangspunkt des Projektes war. Aber Fassbinder, der sich für diesen Stoff sensibilisieren ließ, interessiert sich nicht sonderlich für die wilhelminische Zeit, er wollte die Geschichte unbedingt in den fünfziger Jahren ansiedeln. Damit war ein Verzicht auf das Schulmilieu verbunden. Als Symbolfigur für den Wiederaufbau wurde nun ein Baudezernent in den Mittelpunkt gestellt. Von der Struktur des blauen engel ist dann nicht mehr viel übrig geblieben. Nur der Grundkonflikt ist noch da – die Leidenschaft eines seriösen Bürgers für eine unseriöse Frau – und der Name dieser Frau ist Lola.

Das Klima in Fassbinders lola, und damit bin ich bei meinem zentralen Interesse, wird bestimmt von den Farben des Films. Er ist in Fujicolor gedreht, also einem System, das grellere und leuchtendere Töne ermöglicht als beispielsweise Kodacolor. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Darstellung von Gert Koshofer Color. Die Farben des Films, erschienen 1988 anlässlich einer Retrospektive zur Geschichte des Farbfilms im Rahmen der Berliner Filmfestspiele. Fassbinder hatte auch die ehe der maria braun (Kamera: Michael Ballhaus) auf Fujicolor gedreht, mit sehr intensiven Blautönen, wenig gelb und grün, sehr vorsichtig im Umgang mit Mischfarben. Das Rot war akzentuiert vor allem in Kostümdetails: eine Mütze, ein Schal, eine Rose. Teilweise wirkte das wie eine Rekonstruktion der Bilderwelt jener Jahre zwischen 1945 und 1954, eine Verknüpfung zwischen Authentischem und Fiktionalem war offenbar auch beabsichtigt. Anton Kaes hat in seinem zitierten Essay sehr detailliert auf die komplexe Verbindung verschiedenster Zeichen (auch Toninformationen) in der ehe der maria braun hingewiesen.

Lola ist in der Verwendung der Farbe zweideutiger, spielerischer und vor allem ironischer. Fassbinder schrieb dazu: „Kameramann Xaver Schwarzenberger und ich haben uns vorher eine komödiantische Farbdramaturgie ausgedacht, wie man sie sonst nur in Horrorfilmen sieht.“ Damit entstand eine eigene artifizielle Gestaltung, die sich vom Drehbuch löst, ohne mit der erzählten Geschichte zu konkurrieren.

Ein ironisches Farbspiel entwickelt sich schon im Vorspann: Wir sehen – schwarzweiß – Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Kopf nachdenklich auf eine Hand gestützt, neben einem zeitgenössischen Tonbandgerät (Marke: Grundig). Den linken Bildrand dekorieren die deutschen Nationalfarben schwarz-rot-gold. Freddy Quinn singt das Lied „Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong…“ und synchron mit der Melodie fließt der Schriftzug LOLA in den Farben rosa, rot, violet, grün über das Adenauerbild. Die Credits werden – wie in der ehe der maria braun – in einem Zwölfzeilenrhythmus in den genannten Farben eingeblendet, fügen sich wie ein Puzzle zusammen, bilden ein Muster, verweigern sich aber gleichzeitig einer direkten Informationsrezeption. Immer wieder wird auch später im Film die Farbe als Störfaktor gegen eine Eindeutigkeit, gegen eine pure Realitätswiedergabe eingesetzt. Sie treibt ein Verwirrspiel von Anfang an.

Ich beschreibe zwei Szenen (eine davon will ich auch zeigen).

1. Die erste Szene – in Lolas Garderobe – beginnt mit einer Großaufnahme: Lolas Haare, ein monochromes Bild in Rotbraun, ein blauer Zimmerhintergrund, alles zunächst im Spiegel, dann im direkten Kamerablick. Esslin, der kleine Angestellte und der große Moralist, zitiert Rilke, spricht vom Verstand und von der Seele. Immer sind – wenn polarisierte Begriffe, Personen oder Welten aufeinander treffen – zwei Farben als Spannungsverhältnis im Bild, vor allem: blau und rot.

Von Anfang an sind die Gesichter in lola Projektionsflächen für Farben. Der menschlichen Haut, die sonst immer als Maßstab für die „Natürlichkeit“ der Farbe gilt, fehlen hier die realen Nuancen. Farben sind Masken auf den Gesichtern: blau, rosa, rot, gelb. Wie im Karneval, wo die Menschen außer sich sind, wenn sie sich verkleiden, schminken, maskieren.

2. Eine Schlüsselszene: Lola und von Bohm haben einen Ausflug gemacht, in einer Kapelle einen Kanon gesungen – eine Situation, die komisch ist, wenn man über sie nachdenkt, aber sehr anrührend, wenn man sie sieht – , sie sitzen am Abend in Lolas Auto. Es ist dunkel draußen. Lola warnt vor der Stadt: wo es ein Inne- und ein Außenleben gebe. Lola und von Bohm werden durch Kamerablicke und durch Farben getrennt, er in Blau getaucht, sie in Hellrot, und wenn sie in einem Bild zu sehen sind, stoßen die beiden Farben in der Mitte aufeinander. Als die Beiden das Auto verlassen, um sich zu trennen, und sie sich zum ersten Mal küssen, blendet sie der Scheinwerfer eines Busses – aber im gelben Licht sind sie endlich vereint, auch wenn sie weiter denn je von einander entfernt sind. So erzählen die Farben in lola immer auch eigene Geschichten parallel zum inszenierten Drehbuch.

Wenn Lola von einem Innen- und einem Außenleben redet, von Korruption und doppelter Moral, dann weiß sie, wovon sie spricht. Schließlich ist sie Mittäterin und Medium. Aber Fassbinder negiert mit seiner Farbdramaturgie, dass es einen wirklichen Unterschied gebe zwischen dem Leben im bürgerlichen Rathaus und im unbürgerlichen Bordell. Er sorgt für eine Identität der Farben in beiden Milieus. Wenn Tag und Nacht, Außen- und Innenwelt von den handelnden Personen als Widerspruch erlebt werden, wird dies durch die Farben konterkariert, die in den Tagbildern so irreal sind wie im Scheinwerferlicht des Nachtlokals. Das Kolorit der fünfziger Jahre wird magisch koloriert. Das Licht, das die jeweilige Dekoration illuminiert, bringt zum Vorschein, dass es die gleichen bürgerlich-restaurativen Figuren sind, die im Bordell und im Rathaus das deutsche Provinzleben der fünfziger Jahre verkörpern.

In der ersten Hälfte des Films, wenn von Bohm noch seine moralische Identität hat, wird mit einem Farbspiel ein deutsches Synonym für Naivität plausibel gemacht: Blauäugigkeit, dargestellt mit einem Farbbalken im Gesicht, der gleichzeitig auch als Maske gedeutet werden kann. Später, wenn der Baudezernent in seine inneren und äußeren Konflikte verstrickt ist, fehlt dieses Signal. Immer wieder werden mit den Farben solche Hinweise gegeben oder Assoziationen ausgelöst, die bis zum Klischee gehen. Ihre Entsprechung haben diese Farbspiele in den Musikzitaten, die aus Schlager- und Volksliedmotiven ironisch-distanzierende Muster bilden.

Die Episoden des Films sind optisch (und akustisch) durch stark akzentuierte Blenden getrennt: Das Bild verschwimmt dann jeweils in eine extreme Unschärfe, deren Höhepunkt ein tiefes Blau bildet, das musikalisch akkordiert wird. Auch dies schafft Distanz, betont das Fragmentarische der erzählten Geschichte und pointiert den Erzählrhythmus.

Es ist vielleicht deutlich geworden, dass sich in all dem, was ich zu den Farben in lola gesagt habe, eine Haltung des Regisseurs zur dargestellten Zeit ausdrückt. Sie ist nicht in verblichenen, verschleierten, verschatteten Farben wiedergegeben, sondern in aggressiven, aufdringlichen, geschmacklosen Tönen. Nicht sanft, sondern schrill, schreiend, grell. Nicht als etwas abgeschlossenes, zu dokumentierendes stellen sich die fünfziger Jahre für Fassbinder dar, sondern als offen in ihren Folgen bis in unsere Zeit.

Gleichwohl ist noch eine andere Dimension des Films zu beachten. Fassbinder ging es in der Farbstilisierung, in seinem Bestehen auf extremer Künstlichkeit nicht nur um eine Haltung zu den fünfziger Jahren, sondern auch um seine Haltung zum Kino. Er hat sich immer gegen die Dogmen des engen Fernsehrealismus zur Wehr gesetzt, etwa mit seiner Serie acht stunden sind kein tag gegen die so genannte „Berliner Schule“ von Ziewer und Lüdcke/Kratisch opponiert. Und lola ist ein Kinofilm. Die Irrealität seiner Farben weist ausdrücklich darauf hin, dass lola ein kinematographischer Artefakt ist, kein Abbild der dargestellten Zeit, keine einfache Rekonstruktion, die zeigt, wie es damals wohl tatsächlich war, sondern eine Darbietung im Kino.

Lola, der Film über die späten fünfziger Jahre, entstand 1981. Zehn Jahre zuvor, im August 1971, hat Fassbinder den Film händler der vier jahreszeiten gedreht. Es war sein achter Kinofilm und sein erster über die fünfziger Jahre. Die Zeit ist nicht konkret fixiert, sie dringt durch die Ausstattung, die Kostüme und durch das Klima der Handlung in den Film ein. Auch durch seine Farben, die anders aussehen als in lola.

händler der vier jahreszeiten ist ein sozialkritisches Melodram. Gezeigt wird das Scheitern einer Existenz. Der Obsthändler geht an den Frauen zugrunde, die ihn immer nur zu ihrem Objekt machen: seine Mutter, seine Schwester, seine Frau. Auf den Mangel an Liebe kann er nur mit Gewalt antworten, die er am Ende gegen sich selbst wendet. Er trinkt sich zu Tode.

Die Geschichte wird weitgehend aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt. Schauplätze sind: Hinterhöfe, Straßen, Wohnungen, eine Kneipe, ein Krankenhaus, eine Markthalle, ein Friedhof. Der Anteil der Außenszenen  ist größer als in lola. Sie sind durch die Farben kaum stilisiert, sondern verhältnismäßig realistisch gestaltet. Die Obstfarben – Birnengrün, Pflaumenblau – , das vage Sonnenlicht, die hellen Häuser, der Dunst der Straße, das Grün der Bäume fügen sich zu einem differenzierten Farbspektrum mit Pastelltönen, die nicht ironisieren, aber auch keine Bedrohung der Figuren bewirken.

Die Tristesse des Alltags, das kleinbürgerliche Elend, die dumpfe Beschränktheit der Adenauer-Ära sind ausgemalt in den Innenszenen: in den Wohnungen, in der Gaststätte. Nicht die Räume haben hier Farben, sondern Vorhänge an den Fenstern, Teppiche auf dem Fußboden, Sofabezüge, Tischtücher, Lampenschirme. Die Farben riechen nach ihrer Zeit. Es ist ein Rot, ein Blau, ein Gelb der frühen Synthetik, der Kunststoffe, die das Holz, das Leinen, die Naturstoffe in den fünfziger Jahren ablösen. Bilder wie aus dem damaligen Warenhauskatalog. In dieser Szenerie stauen sich die menschlichen Spannungen, die aggressiv, mitleidlos und sich selbst quälend ein wirkliches Zusammenleben unmöglich machen. Hierin werden die Sprachfiguren und Verhaltensmuster der handelnden Personen zum Melodram: mit den großen Gefühlen, den dramatischen Gebärden, dem Pathos zwischen Leben und Tod, den Zufällen, Symbolen und Klischees. Dabei ist der gesellschaftliche Kontext auf sehr direkte Weise abgebildet, ist die Adenauer-Ära auch ohne Adenauer-Bild oder -Ton erkennbar. Zeitkolorit sind gesprochene Sätze, die an die Nachkriegszeit erinnern, wie „Die Guten, die draußen blieben, und die Schlechten, die heimkehren.“ Zeitkolorit sind die Requisiten und vor allem die Kostüme: Kleider, Hosen, Hemden, Röcke, Schürzen, kariert, geblümt, einfarbig. Verpackungen der Figuren in der Norm der Zeit.

Einzig Hanna Schygulla als intellektuelle Schwester des Obsthändlers trägt individuelle Farben. In einem dunkelroten Kleid liegt sie in einer Szene auf dem Sofa, ihre Nichte im blauen Kleid so im Arm haltend, dass sie ein Farbkreuz bilden, ein Hinweis auf das spätere Ende des Obsthändlers, der im Krankenhaus mit dem Tode ringt. Später kreuzen sich ähnlich lila Lichtstrahlen auf dem Fußboden. Allerdings ist Fassbinder in der Verwendung von Farbsymbolen oder in ihrer Kodierung zu Bedeutungen sehr zurückhaltend. Er benutzt die Farben lieber atmosphärisch. Will mit ihnen emotionalisieren oder distanzieren.

Noch in den fünfziger Jahren, in denen die beiden Fassbilder-Filme spielen, war die Farbe im Kino an die nicht-realistischen Genres gebunden: Musical und Märchen, Kostümfilm und Trickfilm, Abenteuerfilm und Western, in Deutschland auch: Heimatfilm. Für die realistischen Filme war die Farbe damals zu teuer. Die Fiktionalisierung von Wirklichkeit geschah in Schwarzweiß.

In diese Zeit fällt – ich muss das hier sagen, auch wenn es Ihnen hinlänglich bekannt ist – die wichtigste Produktionsphase des Regisseurs Douglas Sirk. Er drehte damals für Universal an die zwanzig Melodramen in Schwarzweiß und Farbe, die längst zu den Klassikern des Genres gehören. Fassbinder hat Ende 1970 in München sechs Sirk-Filme gesehen und in der Zeitschrift Fernsehen und Film im Februar 1971 einen inzwischen berühmt gewordenen emphatischen Essay darüber geschrieben. Er endet mit dem viel zitierten Satz: „Ich habe sechs Filme von Douglas Sirk gesehen. Es waren die schönsten der Welt dabei.“

Händler der vier Jahreszeiten war der erste Film, den Fassbinder nach der Beeindruckung durch Sirk und einer verhältnismäßig langen Produktionspause gedreht hat. Er hat sich später immer wieder zur Beeinflussung durch Sirk bekannt. Sie ist sichtbar in der komplizierter und artifizieller werdenden Ästhetik seiner Filme. Fassbinder sagte 1974 in einem Interview, er versuche jetzt das, was er früher mit der Sprache vermittelt habe, in die Struktur der Bilder zu legen, weil das mehr Wirkungen auf die Gefühle der Zuschauer habe.

Vor allem Sirks ungewöhnliche Farbdramaturgie, die rigoros Emotionen beschreibt und unnaturalistisch mit dem Licht operiert, wurde von Fassbinder adaptiert. Im händler der vier jahreszeiten ist das zum Beispiel in den Rückblenden zu sehen, die mit einem Blauton eingefärbt sind, wie Fassbinder ihn in all that heaven allows gesehen hat. Die beiden von mir zitierten Szenen aus lola, in denen zwei Grundfarben konfrontiert sind, folgen deutlich entsprechenden Farbsequenzen in written on the wind – den Film hatte das lola-Team Ende 1981 auch gesehen. Mehr als ich es hier kann, geht Elisabeth Läufer in ihrer Sirk-Biografie Skeptiker des Lichts (Frankfurt am Main 1987) auf das Verhältnis Sirk/Fassbinder ein.

Die Freiheit in der Verwendung von Licht und Farbe, die sich Sirk in seinen Filmen leisten konnte, war im westdeutschen Film der fünfziger Jahre nicht möglich. In Farbe wurden damals, wie erwähnt, vorwiegend Heimatfilme, musikalische Komödien oder historische Filme (wie ludwig ii.) gedreht. Es waren die gediegenen, biederen Farben von Agfacolor. Soweit die Realität jener Zeit überhaupt im Film abgebildet wurde, geschah dies in schwarzweiß. So gibt es wenig Farbfilmdokumente aus den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik. Und das Vorhandene hat auf Grund des Color fading, von dem ja besonders Agfacolor betroffen war, die damaligen Farben verloren. Auch dies, den Mangel an Farbe und den Farbverlust, thematisierte Fassbinder letzten Endes in seinen Farbfilmen über die fünfziger Jahre: durch Stilisierung (im händler der vier jahreszeiten) und einen immensen Überschuss an Farbphantasie (in lola).

Allerdings muss den neuen Farbfilmmaterialien, die sehr genau, kontrastreich und kalt die Farbrealität wiedergeben, die Irrealität durch eine phantasievolle Verwendung des Lichts abgerungen werden. Dazu eine personale Fußnote: Vier verschiedene Kameramänner (Dietrich Lohmann, Jürgen Jürges, Michael Ballhaus und Xaver Schwarzenberger) haben für Fassbinder über die Jahre gearbeitet, für das Licht war in der ganzen Zeit nur einer zuständig: Ekkehard Heinrich. Neben dem Regieassistenten Harry Baer hat Heinrich am längsten mit Fassbinder zusammengearbeitet.

Nach lola (BRD 3) drehte Fassbinder die sehnsucht der veronika voss (BRD 2). Er drehte den Film in Schwarzweiß. Weil mein Vortrag von den Farben handeln sollte, ist er damit zwangsläufig zu Ende. Vielen Dank für Ihr Interesse.

Chicago, November 1988