Texte & Reden
15. Mai 1982

Konrad Wolf (1925-1982)

Nachruf für die Zeitschrift Filme

Das ist nicht so leicht zu begreifen, dass Konrad Wolf, der größte Filmregisseur seines Landes, der DDR, tot ist. Er war 56 Jahre alt. Er hat zwischen 1955 und 1980 14 Filme gemacht. Er war Präsident der Akademie der Künste der DDR, auch Mitglied des Zentralkomitees der SED; er hatte Einfluss. Wenn man seine Filme, seinen Einfluss und den Rest der Filmproduktion der DDR kennt, dann ist wirklich kaum zu ermessen, was das bedeutet: dass Konrad Wolf tot ist.

Sein Lebenslauf war wahrhaftig nicht typisch deutsch: Geboren in Hechingen (Württemberg). Sohn des jüdischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf. Kindheit in Stuttgart. Mit den Eltern und dem älteren Bruder Markus emigrierte Konrad Wolf, achtjährig, in die Sowjetunion. Er besuchte die Grund- und Mittelschule in Moskau.

Wenn ich mein Leben rekonstruiere, dann finde ich während der Emigration in der Sowjetunion, wohin ich durch meine Eltern 1934 kam, und wo ich die für mein Leben entscheidenden Eindrücke empfing, insbesondere drei Quellen meines späteren Werdeganges. Mein Vater hatte durch sein dramatisches Schaffen natürlich Einfluss auf mich. Aber dieser Einfluss war, glaube ich, nicht allein entscheidend. Weder mein Vater, noch ich, noch andere Angehörige hatten den Ehrgeiz, dass sein Meisterzepter in der Familie weitergegeben werde. Aber frühzeitig besuchte ich Theater und kam mit Künstlern in Berührung.

Der zweite, wesentlichere Antrieb war Gustav von Wangenheims 1935/36 in der sowjetischen Emigration gedrehte Film KÄMPFER mit der Rolle, die ich in diesem Film erhielt und in der ich mich eigentlich selbst spielen konnte: ein Kind, das in einer Familie bewusster Kommunisten heran­wächst. Ich war damals etwa zehn Jahre, und das Erlebnis wirkte auf mich, wie es auf jeden anderen Jungen gewirkt hätte, der in einem Film mitspielen darf. Als der Film in Moskau anlief, war ich ungeheuer stolz. Zu den Nachmittagsvorstellungen stellte ich mich in demselben Pullover, den ich im Film trug, vor das Kino, so dass man mich erkennen musste.

Ich wurde ein fanatischer Kinobesucher. Und es gab keinen Film, den ich nicht einige Male gesehen hätte. Ganz besonders angetan – und darin erblicke ich die dritte Quelle – hatte es mir TSCHAPAJEW. Ich erfand zahlreiche Tricks, um nicht immer wieder Karten kaufen zu müssen. Und stets von neuem war ich begeistert von der grandiosen Attacke Tschapajews nach dem Angriff des Totenkopfregiments. Gleiche Wirkung hatten auf mich WIR AUS KRONSTADT und die Maxim-Trilogie. Diese künstlerischen Jugenderlebnisse haben sich mir tief eingeprägt.

Mit 17 Jahren wurde Konrad Wolf Soldat der Roten Armee.

Ich habe den Krieg in einer kämpfenden Einheit der Sowjetarmee mitgemacht, vom Kaukasus bis Berlin. Wir kamen über Bernau, Oranienburg, Potsdam. Dort wurde der Ring um Berlin geschlos­sen. Wir gingen weiter nach Westen zur Elbe. Die sogenannte Stunde Null – die war in Premnitz. Da wurde ich in den Stab der 1. Belorussischen Front abkommandiert. Er lag irgendwo im Osten von Berlin. Ich hatte nur den Marschbefehl und musste zu einer bestimmten Stunde dort sein. Bis Spandau nahmen mich noch Militärfahrzeuge mit. Aber dann war es hoffnungslos, niemand wusste, wie durch Berlin überhaupt durchzukommen sei. Alles war eine Ruine. Minen gingen hoch, Zeitzünder. Ich hatte eine Handkarte, bin die Heerstraße langgelaufen, zum Reichskanzler­platz, zum Tiergarten. Panzer waren eingegraben, es  brannte, Leichen lagen da. Man musste immer mehr Umwege machen, je näher man dem Zentrum kam. Vom Alex dann weiter die Frank­furter runter, nach Lichtenberg. Der Marsch vom Morgen bis in die Nacht war der Kontrapunkt zur Siegesfeier. Chaotische Eindrücke.

Und ich sagte mir, es gibt nichts in der Welt, was das jemals wieder zum Leben erwecken kann. Das wird eine Steinwüste bleiben. Es war auch Genugtuung dabei. Ich war in Majdanek, in Sachsenhausen, ich habe Warschau während des Aufstandes und danach erlebt. Berlin war für mich Sinnbild dessen, wo das alles herkam, das Leid, die Millionen Toten, der Wahnsinn, der Fanatismus. Berlin war keine Stadt mehr, es war ein Leichnam. Später dachte ich, es sei vielleicht gut, wenn aus diesem Berlin eine Art Mahnmal würde, zur Abschreckung. Ich unterschätzte natürlich maßlos den Lebenswillen von Menschen.

1945 wurde Konrad Wolf vorübergehend Stadtkommandant von Bernau, dann gehörte er zu den Begründern der Berliner Zeitung, wurde Theaterreferent in Sachsen-Anhalt und war schließlich für Jugend- und Studentenfragen im Ostberliner „Haus der Kultur der Sowjetunion“ zuständig. Bis es ihn, 1949, danach drängte, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Er bestand überraschend die Aufnahmeprüfung am Staatlichen Allunionsinstitut für Kinematographie in Moskau. Seine wichtigsten Lehrer waren der Eisenstein-Assistent Grigori Alexandrow und der Cutter Schikorow.

Er beobachtete Joris Ivens bei den Dreharbeiten zu FREUNDSCHAFT SIEGT 1951 in Berlin und assistierte Kurt Maetzig 1953 beim ersten Thälmann-Film. 1952 war er Staatsbürger der DDR geworden. Seine Filmografie beginnt mit dem Diplomfilm EINMAL IST KEINMAL (1955).

Erinnerungen.

An Sonja Sutter. Sie war Lissy, eine Zigarettenverkäuferin, die 1932 einen jungen Angestellten heiratet. Der Mann (Horst Drinda) wird arbeitslos. Geht 33 zur SA. Damit beginnt für die Familie der wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufstieg. Ein Schockerlebnis – die Ermordung ihres Bruders durch die Nazis – trennt Lissy von ihrem Mann und führt sie auf einen eigenen Weg. lissy war der erste Film von Konrad Wolf, den ich gesehen habe. Damals, 1958, war die DDR für mich ein unbekanntes Filmland. Und LISSY, in der BRD mit mäßigem Erfolg gezeigt, war zunächst Geschichtsunterricht: über das Verhältnis des Kleinbürgertums zum Faschismus. Aber ich erinnere mich vor allem an das Gesicht von Sonja Sutter, an die Hoffnungen / Verzweiflungen, die darin zu entdecken waren. So konkret hatte ich bis dahin von der Geschichte meines Landes im Kino nichts erfahren.

Und dann die Blicke von Sascha Kruscharska, der Jüdin Ruth, in STERNE. Ein Gesicht hinter Stacheldraht. Misstrauen gegenüber einem deutschen Leutnant, den sie um Hilfe für eine gebärende Mutter bittet. Gespräche, aus denen sich Vertrauen entwickelt. Aber er kann sie schließlich nicht vor dem Transport nach Auschwitz retten. In meiner Erinnerung sind auch: Bilder, die Würde und Moral ausdrücken. sterne entstand 1958/59.

Erinnerungen an DER GETEILTE HIMMEL (1963/64). An die Geschichte einer Trennung: Die Studentin Rita verzichtet auf ein privates Glück mit dem Chemiker Manfred, der 1961 als Republikflüchtling die DDR verlässt. Rita bekennt sich zu ihrem Staat. Sie tut das freilich nicht ohne Widersprüche, und der Film fügt – aus ihrer Perspektive – Erlebnisse und Erfahrungen der Protagonistin frag­mentarisch und assoziativ zusammen. Damals, drei Jahre nach dem 13. August 1961, war dies ein herausfordernder, das Selbstbewusstsein eines schwer zu liebenden Staates formulierender Film, überladen mit Bildsymbolen, angestrengt in den Lyrismen eines die Geschichte kommentierenden Textes, fast fehlbesetzt mit der blassen Renate Blume als Rita. Christa Wolfs Erzählung und Konrad Wolfs Film haben mich damals sehr beschäftigt, beunruhigt. Ich habe es vermieden, den Film seither wiederzusehen.

Und dann, 1968, Jaecki Schwarz als der junge Konrad Wolf: ICH WAR 19, die Geschichte eines Deutschen, der 1945 als Soldat der Roten Armee in seine Heimat zurückkehrt. Es ist nicht so wichtig, wie eng die episodische Geschichte dieses Films der Autobiografie von Wolf folgt – wichtig ist, dass die Genauigkeit im Detail die Bilder reich und lebendig gemacht hat, dass diese Bilder ihren poetischen Rhythmus aus überraschenden Bewegungen entwickelten, dass der Film seine Neugier auf die Menschen damals in Deutschland erfahrbar gemacht hat, indem er seine Hauptfigur auch als Beobachter zeigt: der junge Soldat lernt ein Land kennen in einer extremen Situation, die, je nach dem, als Niederlage oder als Befreiung erfahren wird. Die Blicke von Jaecki Schwarz sind oft nachdenklich, irritiert, auch zornig. Und in der Erinnerung gibt es überraschende Momente der Heiterkeit und des Glücks.

MAMA, ICH LEBE (1976) – das war die Geschichte von vier jungen Deutschen, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft die Seiten wechseln und als Rotarmisten in extreme Entscheidungszwänge geraten. Ein ruhiger, melancholischer Film, bei dem die Gesichter verschwimmen in den Farben der Landschaft. Das waren noch einmal, wie in den zwölf vorangegangenen Filmen, Bilder des Kameramannes Werner Bergmann, der die visuelle Sprache der Filme von Konrad Wolf mit­geprägt hat: experimentierfreudig, in den frühen Filmen gelegentlich prätentiös und pathetisch, in den späteren Filmen flexibel, beweglich, frei von aufdringlichen Konstruktionen. In MAMA, ICH LEBE gibt es einen wunderschönen musikalischen Verweis. Das Volkslied vom schwarzen Raben, der über dem Schlachtfeld kreisend auf seine Beute wartet – das hat auch TSCHAPAJEW gesungen.

Schließlich: Wolfs letzter Film, auch einer seiner erfolgreichsten, SOLO SUNNY (1979/80). Die Erinnerung an Renate Krößner als unangepasste Schlagersängerin: spontan, widerspenstig, individuell. Wie sie ihr Glück sucht und mit ihrer Selbstverwirklichung Schwierigkeiten hat. Wie das aus der Atmosphäre des Hinterhofs am Prenzlauer Berg und der Tingeltangel-Provinz der DDR in Bildern (Kamera: Eberhard Geick) physisch begreifbar wird. Und wie in dieser Tristesse auch wieder Momente der Heiterkeit und des Glücks entstehen.

Die anderen, hier nicht erinnerten Filme von Konrad Wolf waren: GENESUNG (1955), SONNENSUCHER (1957/58, uraufgeführt 1972), LEUTE MIT FLÜGELN (1960), PROFESSOR MAMLOCK (1960/61), DER KLEINE PRINZ (1966, Fernsehfilm), GOYA (1970/71), DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974). Ein letztes Projekt, eine Dokumentarfilmserie über Ernst Busch, werden andere vollenden müssen.

14 Filme von Konrad Wolf. Was hat mich auf jeden einzelnen so neugierig gemacht, was verbindet sie für mich? Dass sich Geschichte in Geschichten darstellt, die nicht von fertigen, eindeutigen, guten oder bösen Menschen handeln. Dass die Geschichten „offen“ sind, dass ich mich zu ihnen verhalten kann: zu ihren Protagonisten, zu ihren Bildern. Dass die Erzählstruktur meine Phantasie ernst nimmt. Und dass ich den Humanismus dieser Filme ernst nehmen kann. Die Filme haben mich seit 1958 begleitet. Jetzt ist Konrad Wolf tot. Das ist schwer zu begreifen.

Filme, Nr. 13, 15. Mai 1982