Texte & Reden
01. August 1980

Joris Ivens

Text für die Zeitschrift Filme

Der Umgang mit Film und mit Menschen

Der Handwerker

In dem Film de brug (die brücke, 1927/28) sieht man, wie eine Hebebrücke funktioniert. Es ist die Eisenbahnbrücke über die Maas bei Rotterdam. Der mittlere Teil der Brücke wurde in regelmäßigen Abständen durch eine Mechanik hochgehoben, damit die großen Schiffe durchfahren konnten. Dann wurde das Brückenstück wieder gesenkt und die Züge fuhren darüber hinweg. Der Film hat keine Zwischentitel, er zeigt alles in seinen Bildern.

Der Film nähert sich seinem Thema, der Brücke, in drei Schritten: Wir sehen zunächst eine Bauzeichnung der Brücke, also das, was der Erbauer sich als Brücke vorgestellt hat, dann die Brücke, wie sie ist, in einer Totalen und einer Halbtotalen, und dann sehen wir die Kamera, mit der die Brücke gefilmt wird. Es ist eine Kinamo mit Federwerk und drei Objektiven; ihr Magazin fasst 25 Meter Film, bei circa 20 Bildern pro Sekunde Aufnahme- beziehungsweise Wiedergabe-Geschwindigkeit sind das 60 Sekunden Film. Das Federwerk läuft aber, korrekt aufgezogen, höchstens 25 Sekunden. Die einzelnen Einstellungen in de brug dauern also höchstens 15 Sekunden, oft nur vier bis fünf. Der ganze Film dauert, richtig vorgeführt, zwölf Minuten und zwanzig Sekunden.

Der Film ist das, was man eine Bewegungsstudie nennt: eine Übung, in der Bewegungen von Objekten und Bewegungen der Kamera durch die Montage des aufgenommenen Materials in Beziehung gesetzt werden. In de brug sind kaum Menschen zu sehen. Einmal bedient ein Mann einen Hebel, ein anderer klettert eine Brückentreppe hinauf und schaut von oben hinunter. Im Mittelpunkt steht die Brücke.

de brug ist, abgesehen von einem kleinen Familienstreifen, der erste Film von Joris Ivens. Ich erkenne darin Ivens als Handwerker. Er ist ein Lehrling der besten Sorte. Sparsam und sorgfältig im Umgang mit dem Material, phantasievoll und doch präzise in der Konstruktion, neugierig. In der Literatur gilt de brug als Avantgarde-Film. Es ist für einen Lehrling eine große Auszeichnung, einen Avantgarde-Film gemacht zu haben.

Der große alte Mann

In der Geschichte des Dokumentarfilms gibt es vier Regisseure, die mir überlebensgroß vorkommen. Robert Flaherty, Amerikaner, geboren 1884, hat 1922 den ersten langen Dokumentarfilm gedreht: nanook of the north; er ist 1951 gestorben. Dsiga Wertow, Russe, geboren 1896, hat von 1920 bis 1934 den sowjetischen Dokumentarfilm revolutioniert; er ist 1954 gestorben. John Grierson, Engländer, geboren 1898, hat von 1931 bis 1939 die englische Dokumentarfilmschule geschaffen; er ist 1972 gestorben. Joris Ivens, Holländer, geboren 1898, hat von 1930 bis 1980 in aller Welt bewegende, parteiliche Dokumentarfilme gemacht. Ivens ist 81 Jahre alt. Im Juni war er in Westberlin. Es ist schön, ihn zu sehen, mit ihm zu reden, ihm zuzuhören. Aber wenn man sich „Auf Wiedersehen“ sagt, dann fragt man sich beklommen, ob man sich wirklich noch einmal wiedersieht.

Diskrete Montage

Dokumentarfilme waren bis 1960 weitgehend Stummfilme, die aufwendig synchronisiert wurden. Als Töne hören wir oft: Musik, Kommentar, Geräusche; selten: Originalsprache. Wenn Leute reden, die man dabei im Bild sieht, sind es meist Redner, also Politiker. Die Reden wurden im Schneideraum mit den Bildern vom Reden synchronisiert. Seit diese Arbeit durch die Erfindung der tragbaren Synchronton-Kameras leichter geworden ist, dürfen in Dokumentarfilmen nicht nur Redner reden. In den stumm aufgenommenen Dokumentarfilmen der dreißiger und vierziger Jahre spielt der Ton eine wichtige Rolle (auf die Spitze getrieben haben das die Nazis in der Kriegswochenschau).

Für spanish earth (spanische erde, 1937) haben Joris Ivens (mit seiner Kinamo) und John Ferno (mit einer Eyemo und einer Debrie) in Spanien die Bilder aufgenommen. Die Töne haben sie in Amerika hergestellt: Hemingway hat einen Kommentar geschrieben und gesprochen, Marc Blitzstein und Virgil Thompson die Musik komponiert. Ivens hat die Geräusche kompiliert, orientiert an Wahrnehmungen, die er in Spanien gemacht hatte. So sind die Töne des Bombardements nicht

Töne von Bombardements, sondern Geräusche aus einem Spielfilm, Erdbeben-Geräusche aus William Van Dykes san francisco von 1936, die von Ivens noch zusätzlich synthetisiert wurden. Auch die Bilder wurden diskontinuierlich aufgenommen: Die Flugzeuge, die über einem Dorf die Bomben abwerfen, wurden an einem anderen Tag gedreht als das Dorf während des Bombardements. Und innerhalb des Bombardements gibt es eine kurze Einstellung: Blick aus dem Bomben-schacht eines Flugzeugs nach unten – das einzige Bild aus der Perspektive des Feindes, über dessen Aufnahme in den Film Ivens und seine Cutterin Helen van Dongen in Streit gerieten.

In der spontanen Wahrnehmung fallen all die Elemente durch die Montage in eins: Wir empfinden eine Authentizität, die das Resultat einer von Ivens künstlerisch rekonstruierten Authentizität ist. Die Mittel deren er sich bediente, waren auf der Höhe der Technik der Zeit. Dreißig Jahre später: Der Krieg in le dixseptième parallele (der 17. breitengrad), ist anders aufgenommen, anders montiert.

Ivens nennt die Montage von the spanish earth „diskret“. Man sieht die Greuel des Krieges nicht direkt, sondern vermittelt durch Bewegungen und Gesichter der Menschen. Der Kommentar sagt nicht „Die verfluchten Faschisten haben das und das gemacht“, er sagt nur: „Drei Junkers-Maschinen kamen hier vorbei.“ Die Musik brüllt nicht. Ivens: „Keine Propaganda“.

Der Propagandist

Später, in den vierziger und fünfziger Jahren, aber auch Propaganda. Zum Beispiel in power and the land (USA 1940) und in das lied der ströme (DDR 1954).

In power and the land (Produktion: U.S. Departement for Agriculture) sieht man die Arbeit auf der Farm der Familie Parkinson in Ost-Ohio. Zunächst gibt es noch keine Elektrizität. Landarbeit und Hausarbeit sind schwer, verlangen den vollen körperlichen Einsatz vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Das sehen wir sehr genau, circa 25 Minuten lang. Dann kommt die Elektrizität nach Ost-Ohio – auch zu den Parkinsons. Wir sehen, wie beschlossen wird, die Gegend zu elektrifizieren, und wie die Leitungen verlegt werden (fünf Minuten). Und dann wird (zehn Minuten) gezeigt, wie es bei Parkinsons zugeht, als die neue Energie da ist. Sie haben plötzlich einen elektrischen Herd, ein Radio, fließendes Wasser, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, ein Bügeleisen, verschiedene Landwirtschaftsmaschinen. Am Ende sitzt die Familie lächelnd beim Abendessen, das aus dem elektrischen Backofen kommt.

Die Bilder zeigen, wie sympathisch die Familie ist. Der Film hat außerdem viel Kommentar und sehr viel Musik. Wenn das jüngste Kind im Bild ist, hört man im Orchester deutlich die Piccolo-Flöte. Acht Sekunden ist auch ein Geräusch zu hören: ein Wetterbericht aus dem neuen Radio. Auch diese Töne sind synthetisch, aber sie wirken im Film sehr original. Das Wichtigste ist der Kommentar. Er spricht viel von dem aus, was man sieht. Er sagt aber nicht, wie viel Schulden die Parkinsons am Ende haben. power and the land ist ein mittel-mäßiger Propagandafilm.

das lied der ströme (Produktion: DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme in Zusammenarbeit mit dem Weltgewerkschaftsbund) ist ein schlechter Dokumentarfilm. Auch dieser Film besteht vor allem aus Musik und Kommentar, obwohl man Bilder aus vielen Ländern der Erde sieht. Der Kommentar (Text: Vladimir Pozner) ist pathetisch, die Montage symphonisch. Der Film stellt sich so in den Dienst einer Sache, dass einem Zweifel an der Sache kommen können.

Der Poet

Ivens hat fünfzig Jahre lang politische Dokumentarfilme gemacht. Sein erster Film war eine experimentelle Übung, sein zweiter Film ein stummes Gedicht: regen (1929). Helen van Dongen, die Cutterin, hat 1932 von diesem Film eine gute Tonversion mit Musik von Lou Lichtveld hergestellt. Die Poesie der stummen Fassung ist aber noch intensiver. Ivens hat viele Tonfilmgedichte gemacht, die so schön sind, dass nicht zu verstehen ist, warum sie hierzulande fast unbekannt sind. Von den Filmen la seine a rencontre paris (1957), a valpa-raiso (1963) und pour le mistral (1965), die besonders schön sind, gibt es in der Bundesrepublik keine Kopien.

Die China-Filme

Über den Zyklus comment yukong deplaca les montagnes (wie yü gung die berge versetzte, 1973-75) hat Peter Nau ein sehr schönes Heft der Filmkritik gemacht (Nr. 239, November 1976). Ivens heute, zu den Filmen und der Situation in China befragt: „Wenn man solche Filme macht, nimmt man ein bestimmtes Risiko in Kauf. Als die Kulturrevolution in China in Gang war, haben wir dort viel gesehen und in unseren Filmen gezeigt. Die jetzigen Veränderungen bedeuten nicht, dass die Filme schlecht sind oder wir schlecht gearbeitet haben. Die Filme sind historische Dokumente geworden. Die Geschichte geht weiter, und es ist das chinesische Volk, das seinen eigenen Weg geht – der vielleicht nicht der Weg ist, den Marceline und ich uns vorgestellt haben.“

Der Pädagoge

In den China-Filmen kann man sehen, dass die Kameraarbeit unter-schiedlich ist. Die Aufnahmen in der generatorenfabrik sind unkonzen-trierter als in der apotheke. In der apotheke wurde später gedreht. Kameramann war immer Li Tse-Hsiang. Er hatte vor der Arbeit mit Joris Ivens und Marceline Loridan noch nie mit Synchronton gedreht und wusste nicht, wie man mit der 16mm-Kamera auf der Schulter umgeht. Er war gewohnt, stumm vom Stativ zu drehen, hatte also auch kein Gefühl für Geräusch und Sprache in der Aufnahmesituation. Außerdem wollte er nicht einsehen, dass es sinnvoll sein soll, das Filmmaterial an die Beobachtung von Alltäglichem zu verschwenden. Es fiel ihm schwer, lange Einstellungen durchzuhalten.

Drei Monate haben Ivens/Loridan mit ihm gearbeitet, geredet, geübt. Zigtausend Meter Film waren unbrauchbar oder nur bedingt zu verwenden. Marceline war verzweifelt und schlug vor, den Kamera-mann zu wechseln. Doch Ivens blieb hart: „Das Problem wird bei einem anderen Kameramann das gleiche sein. Wir müssen mit ihm klarkommen, ihn verändern.“ Die Kamera wurde von Film zu Film besser.

Das Vorbild

„Dokumentarfilm ist alles, was zwischen Wochenschau und Spielfilm liegt.“ Oder: „Es gibt nicht eine Sorte Dokumentarfilm. Wenn mich Leute fragen ‚Ist das ein Dokumentarfilm?’, dann kann ich ihnen eigentlich nur sagen, ob ich es für einen guten oder einen schlechten Film halte.“ Oder: „Es gibt keine Regeln – alles ist möglich.“ Ist für einen, der fünfzig Jahre lang selbstkritisch Filme gemacht hat, wirklich alles möglich?

Manchmal redet Ivens über das Handwerk, das er betreibt, nicht genau genug. Wenn er auf die Möglichkeit zu rekonstruieren, zu inszenieren, zu sprechen kommt (und er kommt oft darauf zu sprechen), dann verweist er auf borinage (1933). Aber er weiß, dass die vertuschte Rekonstruktion im Dokumentarfilm erst seit der Synchrontontechnik zum ästhetischen Problem geworden ist. Seit 1965 hat Ivens in seinen Filmen auch kaum noch rekonstruiert (und die wenigen arrangierten Szenen machen eher misstrauisch). Dokumentaristen, die sich auf borinage berufen, um die Methoden ihrer Arbeit zu verdecken, beschwören ein falsches Vorbild.

„Der Synchronton“, sagte Ivens jetzt zu Berliner Filmstudenten, „hat dazu geführt, dass viele junge Leute es sich sehr bequem machen. Sie machen zum Beispiel eine Geschichte über einen Grubenarbeiter, der ein interessantes Gesicht hat. Sie setzen ihn vor die Kamera und fragen ihn ein paar Sachen – so ‚Wie steht es mit dem Karl Marx?’ usw. Das reicht nicht. Du musst Deinen Kopf und Dein Herz und ich weiß nicht was bewegen, um etwas anderes zu schaffen als ein Interview mit einer Großaufnahme.“ Manchen, die sich bei uns auf Ivens berufen und glauben, Dokumentarfilme zu machen, fällt es schon schwer, ihren Arsch zu bewegen.

Der Kommunist

Ein Student der Film- und Fernsehakademie fragte: „Herr Ivens, Sie haben seit ungefähr fünfzig Jahren das Fortschreiten und die Niederlagen der internationalen Arbeiterbewegung aus unmittelbarer Nähe erlebt. Ich wüsste gern von Ihnen ganz persönlich: Halten Sie den Fortschritt der Arbeiterbewegung, halten Sie das Prinzip des Sozialismus für etwas, was sich durchsetzen wird in der Zukunft? Glauben Sie ganz persönlich daran?“

Ivens antwortete: „Ich weiß nicht, ob ich darauf antworte. Vielleicht heute Abend bei einem Bier. Ich kann nicht in fünf Minuten antworten auf eine Frage, die so wichtig ist, die uns alle so bewegt. Ich akzeptiere es sehr, dass Du das fragst, und gerade jemanden, der das fünfzig Jahre mitgemacht hat, fragst ‚Was denkst Du davon?’ Aber ich habe nicht die Weisheit gepachtet. Und ich kann eigentlich nur sagen: Ich bleibe im Kampf.“

Der Internationalist

Ivens, in Holland geboren, lebt in Paris. Gefilmt hat er in Holland, in der UdSSR (mehrfach), in Belgien, in Spanien, in den USA (mehrfach), in Kanada, in Australien, in der CSSR, in Bulgarien, in Polen, in der DDR (mehrfach), in Frankreich (mehrfach), in Italien, in Mali, in Kuba, in Chile, in Vietnam (mehrfach), in Laos, in China (mehrfach). Wo er gefilmt hat, hat er oft Monate oder Jahre gelebt. Es wird immer schwerer, an den internationalen Brennpunkten Dokumentarfilme zu machen, sagt Ivens. Die politischen Demarkationslinien verlaufen undeutlicher. Produktion und Distribution sind schwieriger geworden. Und das Fernsehen? „Wenn Sie dort sagen, dass Sie einen Film über Afghanistan machen wollen, dann läuft nichts. Fürs Fernsehen machen die Reporter in drei oder vier Tagen einen Bericht. Natürlich keinen Dokumentarfilm. Aber wenn Sie nach drei Monaten mit einem wirklich guten Dokumentarfilm über Afghanistan kommen, würde der vom Fernsehen nicht genommen, weil das Thema erledigt ist.“ Nach einem Land gefragt, in dem er jetzt gern einen Film machen würde, nennt Ivens Eritrea.

Ivens hat von der Stadt Florenz den Auftrag angenommen, einen Film über die Stadt Florenz zu machen. Er wird einen Film über die Menschen in Florenz machen.

Filme, Nr. 4, August 1980