Texte & Reden
14. Juni 1980

Klaus Wildenhahn 50

Text für die Zeitung Vorwärts

 

Ein Lebenslauf, bedingt exemplarisch: In Bonn geboren, in Berlin aufgewachsen, mittelständisch erzogen. Nach dem Krieg eingestimmt auf amerikanische Populärkultur, Swing und Jazz. Abitur, ein Studium wurde begonnen, abgebrochen. Drei Jahre im Ausland – und dann der Einstieg ins Fernsehen. Norddeutscher Rundfunk, Hamburg, 1959.

Klaus Wildenhahn, heute wohl der bedeutendste Dokumentarfilm-macher in der Bundesrepublik, hat klein angefangen: als Assistent bei der Fernsehlotterie „Ein Platz an der Sonne“. Gedreht wurden Werbe-spots. Für eine Lehrzeit war diese einjährige Episode zur kurz und skurril. Dann wurde Wildenhahn Realisator in der „Panorama“-Redaktion unter Paczensky, Proske und später Kogon. Er lernte ein Handwerk: mit Bildern umzugehen und Widersprüche zu erkennen. „Ich war ein relativ unpolitischer Mensch“, sagt Wildenhahn, „und ich habe durch die journalistische Arbeit bei ‚Panorama’ eine sehr genaue und radikale Grunderfahrung gemacht an den Brennpunkten der damaligen Adenauerschen Bundesrepublik, wo meine Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Vorgänge gelenkt wurde.“ „Panorama“ selbst war damals ein Brennpunkt: der praktizierte Widerstand gegen Hofbericht-erstattung. Das hat Aufsehen erregt, denn respektloser Journalismus hat in diesem Land eigentlich keine Tradition. Wildenhahn war drei Jahre bei „Panorama“.

Anfang der sechziger Jahre wurden im NDR wichtige realistische Filme zur deutschen Geschichte und Gegenwart hergestellt, zum Beispiel anfrage, wilhelmsburger freitag, der augenblick des friedens, ein tag, preis der freiheit. Leiter des Fernsehspiels und Regisseur dieser Filme war damals Egon Monk. Er holte Wilden-hahn 1964 in sein Ressort und ließ ihn Dokumentarfilme machen. Später übernahm Dieter Meichsner die Leitung der Hauptabteilung NDR-Fernsehspiel. Wildenhahn ist dort fest angestellt als Redakteur; er soll pro Jahr einen Dokumentarfilm abliefern. 16 Dokumentarfilme hat er bisher für den NDR gemacht, einige haben mehrere Teile. Von 1968 bis 1972 hat Wildenhahn außerdem als Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin gearbeitet und zusammen mit Studenten dort vier Filme gemacht.

Mein ausführlicher Hinweis auf Wildenhahns institutionellen Hintergrund, besonders auf den NDR, ist über die aktuelle Situation dieses Senders hinaus wichtig. Als Dokumentarfilme, die politisch und künstlerisch Bestand haben, begreife ich nicht die Berichte von offiziösen Ereignissen oder die 44-Minuten-Filme, die im Fernseh-jargon Features genannt werden und jedes beliebige Thema in ihren Griff kriegen; Dokumentarfilme sind, denke ich, Chroniken des Alltags, sie zeigen, wie Menschen arbeiten und leben in ihren kollektiven Zusammenhängen; Dokumentarfilme sind parteiliche Aufnahme und Montage sozialer Konflikte, nicht arrangiert vom Filmautor, sondern genau beobachtet und mit Respekt vor den Menschen aufgezeichnet. Solche Dokumentarfilme – und das hat Wildenhahn von Anfang an begriffen – funktionieren nicht auf dem kommerziellen Markt. Sie brauchen als materielle Voraussetzung so etwas wie die öffentlich-rechtliche Anstalt, die frei ist von finanziellem Gewinninteresse. Und sie brauchen die Aufgeschlossenheit fortschrittlicher oder wenigstens liberaler Redakteure. Dass, abgesehen vom NDR, eigentlich nur noch vom „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF Dokumentarfilme ermöglicht werden, sagt viel über den Zustand unserer Fernsehanstalten aus.

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Klaus Wildenhahns Filme seit 1965: bayreuther proben – eine woche avantgarde für sizilien – smith, james o. (zweiteilig) – john cage – 498, third avenue – in der fremde – heiligabend auf st. pauli – harlem theater – der reifenschneider und seine frau – institutssommer – dffb-wochenschau ii und iii – tagesspiegel (zweiteilig, nur ein Teil gesendet) – der hamburger aufstand oktober 1923 (dreiteilig) – harburg bis ostern – die liebe zum land (zweiteilig) – der mann mit der roten nelke – emden geht nach usa (fünfteilig) – tor 2 – der nachwelt eine botschaft. Nur der letzte Film ist in Farbe.

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Musik, Arbeit, die deutsche Provinz, der Mittelstand, die Medien, deutsche Geschichte, Hamburg/ Ostfriesland/Ruhrgebiet, das Innere der Gewerkschaften – das sind Themen von Wildenhahns Filmen. Scheinbar Disparates erhält seinen Zusammenhang durch das, was man die „Methode“ des Filmmachers nennen kann, was ich aber lieber als Haltung bezeichnen möchte. Große Bedeutung kommt dabei den Protagonisten des Films zu. Auf ihre Bereitschaft zur Mitarbeit ist Wildenhahn angewiesen, wenn er sie über viele Wochen in ihren Lebensabläufen begleitet. Dabei – und das ist Teil jeder Verabredung – gibt es nie den Blick durchs Schlüsselloch. Privateste Bereiche bleiben tabu. Möglich werden Wildenhahns Filme durch ein kleines Team: in der Regel wird zu zweit gedreht, Wildenhahn nimmt den Ton auf und seit sieben Jahren arbeitet er mit Gisela Tuchtenhagen als Kamerafrau zusammen. Ihre gemeinsame Sensibilisierung auf das, was für den späteren Film wichtig könnte, zeigt sich in der Intensität des Materials, das sie aufnehmen.

Es werden keine Szenen gestellt, es wird keine Situation für den Film wiederholt, es werden keine Scheinwerfer aufgebaut. Es gehört zum Handwerk, die Haupt- und die scheinbaren Nebensächlichkeiten zu erfassen und unter Ausnutzung aller technischen Fähigkeiten in Bild und Ton aufzunehmen, Oft im Widerstand gegen die Norm in den Medien.

„Wir sind ja alle sehr gedrillt durch unsere Bildung, auch durch unseren politischen Hintergrund, so dass wir immer auf rationale gesellschaft-liche Momente setzen, vor allem auf die Sprache, und es ist sehr wichtig, sich dagegen zu wehren. Du musst im Dokumentarfilm große Zurückhaltung ausüben, nicht abzufragen, sondern die Leute kommen zu lassen, und wenn sie dann ihre Äußerungen machen, dass die dann richtig kommen, auch mit einer vollen emotionalen Intensität. In dem Respektieren der Personen liegt gleichzeitig der Respekt vor der gesamten Aura, auch der emotionalen Aura, die die Menschen haben. Und da darf man ihnen nichts wegschneiden, weder im Bild noch im Ton, und zu dem Ton gehört nicht nur das Reden, sondern auch das Schweigen, dazu gehören auch Arbeitsgeräusche und vieles, was eventuell wie eine Musik wirkt. Wenn das alles zusammenfließt, macht es einen Film erst vollständig.“

Damit grenzt sich Wildenhahn indirekt gegen einen Regisseur ab, der auch wichtige Dokumentarfilme gemacht hat: Eberhard Fechner; er hat fast zur gleichen Zeit wie Wildenhahn beim NDR begonnen. Fechner ist sicher der perfektere Arrangeur seines Materials (klassisch: come-dian harmonists). Aber der Erzählfluss seiner Filme ist durchgehend an Sprache orientiert. Bei Fechner reden Bürger von ihrer Vergangenheit, bei Wildenhahn drücken sich Erfahrung und Stärke vor allem von Arbeitern in ihrer gegenwärtigen Realität aus.

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Ein neuer Film ist fertig: der nachwelt eine botschaft, eine dokumentarisch-poetische Annäherung an das Ruhrgebiet. Wildenhahn erschließt die Region über einen Arbeiterdichter, Günter Westerhoff, früher Bergarbeiter, nach Zechenstilllegungen und Arbeitsunfällen heute als Schlosser tätig, zuhause in Mülheim/Ruhr. Wir hören im Film Westerhoff lesen in Veranstaltungen der IG Bergbau und Energie, wir sind bei ihm zuhause, Musik wird gemacht mit dem Bandoneon; die Kamera erforscht die Gegend zwischen Essen, Gelsenkirchen und Mülheim. Menschen sind zu sehen, Sozialgeschichte wird konkretisiert. Es ist ein sehr schöner Film, zugleich zärtlich und von drastischer Härte, mutig auch in den poetischen Bildern, die Gisela Tuchtenhagen aufgenommen hat. Wann er vom NDR ausgestrahlt wird, ist ungewiss – hoffentlich bevor der Sender kaputt ist.

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Klaus Wildenhahn wird am 19. Juni fünfzig Jahre alt. Wir müssen Acht geben, dass unser Fernsehsystem ihn nicht zum Frühpensionär macht.

Mit Respekt vor den Menschen. In: Vorwärts, 18. Juni 1980

Foto: Gisela Tuchtenhagen