01. August 1965
DER SCHWARZE PETER (1965)
Filmkritik für die Zeitschrift Film
Plädoyer für die Jugend
Kolin, eine Stadt 50 Kilometer hinter Prag, im Sommer 1963. Es ist Montagmorgen, kurz vor acht. Der Leiter einer Verkaufsstelle durchquert geschäftig seinen Laden, lässt das Personal ein und öffnet schließlich für die Kundschaft. Während sich die Verkäuferinnen für die Arbeit umziehen, plappern sie über das Wochenende, über die Männer im allgemeinen und über den „Neuen“, der heute seine Stelle antreten soll, im besonderen. Peter, 16 Jahre alt und gerade der Schule entwachsen, lässt sich auf dem Weg zur Lehrstelle Zeit. In der Verkaufsstelle wird ihm schließlich eine undankbare Aufgabe übertragen: „Bei uns ist Selbstbedienung… Wir schenken unseren Kunden volles Vertrauen. Natürlich gibt es immer wieder einige, die von Zeit zu Zeit gewissermaßen etwas klauen, verstehst Du? Und Deine Aufgabe wird es sein, unsere Kunden gut zu überwachen. Du musst Deine Augen überall haben. Natürlich so, dass keiner von den Kunden merkt, dass er bewacht wird. Glaub’ nicht, das sei etwas Ehrenrühriges. Keine Spur… Du verhinderst einfach, dass jemand in Versuchung geführt wird zu stehlen.“
Peter macht sich an die Arbeit. Er beobachtet, von seinem Chef gelegentlich zurechtgewiesen, die Kunden und verhält sich dabei nicht gerade geschickt. Die erste Verfolgung eines „Diebes“ ist denn auch prompt ein Schlag ins Wasser.
Die Sequenz, mit der Milos Forman seinen Film eröffnet, deutet bereits das Thema an, das später nur variiert und differenziert wird: Spannung und Entfremdung zwischen den Generationen. Peter fühlt sich in der neuen Umgebung höchst unwohl; er macht vieles falsch, obwohl er sich offensichtlich Mühe gibt; seine Unsicherheit erwächst aus dem Widerspruch zwischen seinen idealen Vorstellungen und der Aufgabe, die ihm zugeteilt wird. Der Verkaufsstellenleiter handelt dagegen nur auf Grund von Erfahrungen; er rotiert wie jeden Morgen durch den Laden, absolviert Gewohnheiten und hält Peter einen Monolog voll logischer Kapriolen. So stellt Forman die Attitüden der Alten dem Bewusstsein der Jungen gegenüber, das für eine endgültige Orientierung noch offen ist.
Das in den ersten Szenen angekündigte Thema überträgt Forman dann auf den Vater-Sohn-Konflikt. In vier Szenen setzt er entsprechende Akzente. Als Peter von seinem ersten Arbeitstag reichlich irritiert nach Hause kommt, bietet ihm der Vater einen wortreichen Kanon von Lebensregeln, angereichert mit dem allseits bekannten Erziehervokabular und endend in der schlichten Forderung: „Also streng dich gefälligst an und werde Chef!“ Von einem Tanzabend heimgekehrt, wird Peter von den Eltern über seinen Umgang mit Freunden und Freundinnen ausgehorcht. Als Bettlektüre bietet ihm der Vater schließlich ein Aufklärungsbuch an. Doch Peter hat das längst gelesen. – Peter hat als Prämie für die Verkaufsstelle drei Kunstdrucke vom Bahnhof abgeholt, darunter die Venus von Giorgione. Als er von den Objekten seines Transports zu Hause berichtet, reagiert die Mutter moralisch entrüstet: „Den ganzen Tag reden sie von sozialistischer Erziehung, und dann lassen sie Peter solche Schweinereien spazieren fahren.“ Der Vater entwickelt dagegen aus einem Experiment mit der Kitschmadonna in der Wohnküche seine kleinbürgerliche Kunsttheorie: „Sieh dir diese Augen an. Das ist höchste Schönheit, was? Ich stelle mich hierhin: sie sieht mich an. Ich stelle mich hierhin: sie sieht mich immer noch an. Das ist Kunst! Das soll heute erstmal einer malen!“ Der Sohn kapituliert. Zu guter Letzt geht die ausführlichste Gardinenpredigt über Peter nieder. Er hat nun wirklich eine Kundin beim Stehlen beobachtet, jedoch nicht gewagt, sie zu stellen. Als er das zu Hause erzählt, verliert der Vater die Geduld. Ein Freund von Peter kommt dem Vater sehr gelegen, um dem Sohn als „gutes Beispiel“ vorgehalten zu werden. Der Besucher, dem die Familienszenen zunächst eher peinlich sind, gewinnt der Situation plötzlich Reize ab und gibt sein Interesse kund. Damit sind die väterlichen Attitüden ad absurdum geführt. Der Film, der hier scheinbar abrupt abbricht, ist tatsächlich zu Ende, denn die Entfremdung zwischen Vater und Sohn, zwischen jung und alt, hat ihren äußersten Punkt erreicht. Es könnte nun ein neuer Film beginnen, in dem Peters Vater allerdings keine Rolle mehr spielt
Dem SCHWARZEN PETER wird thematische und formale Verwandtschaft zu Ermanno Olmis IL POSTO (DER JOB) nachgesagt. Der Vergleich stimmt nur insofern, als hier wie dort die Suche eines jungen Menschen nach einem Platz in der Gesellschaft dargestellt wird. Forman liefert aber nicht eine Studie konformistischer Bescheidung, wie sie Olmi für das soziologische Gefüge Italien formuliert hat, sondern ein Plädoyer für die Selbstverwirklichung der Jugend. Das wird in den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn ebenso deutlich wie in den Szenen, die unter jungen Leuten spielen, beim Baden, beim Tanzen, beim Spazierengehen, wo sich Peter zaghaft an Pavia, ein patentes Mädchen aus der Nachbarschaft heranmacht. Die Gefühls- und Gedankenwelt von Peter, Pavia und ihresgleichen wird eindeutig der Sympathie des Publikums anvertraut.
Auch mit der „Cinéma-verité“-Formel war man schnell bei der Hand, weil die lose aneinander gereihten Szenen improvisiert und authentisch wirken. In Wahrheit ist Formans Film ein Muster an Kalkulation und kunstvoller Gestaltung. Die Darsteller – es handelt sich fast durchweg um Laien – überlassen sich keineswegs einer momentanen Inspiration, sondern machen Denkweisen und Bewusstsein ihrer Rollen kenntlich. Dabei kommt dem Film zugute, dass hier Begabungen eingesetzt sind, die Spontaneität suggerieren, aber doch der künstlerischen Kontrolle des Regisseurs gehorchen. Die vorzügliche Synchronisation (hergestellt von der Ostberliner DEFA) hat, soweit möglich, den Tonfall des Originals ins Deutsche hinübergerettet.
Milos Forman ist mit jetzt 33 Jahren einer der jüngsten und zugleich talentiertesten Regisseure des tschechoslowakischen Films. Vor dem SCHWARZEN PETER hatte er nur einen mittellangen Dokumentarfilm mit Spielelementen (WETTBEWERB) inszeniert, der eine Talentprobe für Schlagersänger am bekannten Prager Semafor-Theater schildert. Zusammen mit seinem zweiten mittellangen Film, WENN DIE BLASMUSIK SPIELT, kam WETTBEWERB auch in die tschechoslowakischen Kinos. In den beiden Etüden hat Forman Methoden und Darsteller ausprobiert, die man jetzt im SCHWARZEN PETER wiedererkennt: in langen Einstellungen, in dialektisch montierten Szenen tauchen bereits Peter (Ladislav Jakim), sein Vater (Jan Ostricil) und der Freund Cenda (der inzwischen zu einigem Filmruhm gelangte Vladimir Pucholt) auf. Da die kommerziellen Chancen für Forman WETTBEWERB in Deutschland gering sind, sei er den Filmclubs ans Herz gelegt. Unterdes dreht der Regisseur seinen zweiten Spielfilm, DIE LIEBE EINER BLONDINE, den man vielleicht auch DIE BLONDE PETRA nennen könnte.
Bis dieser Film nach Deutschland kommt, sollten sich Rang und Größe von Formans Debüt bei uns herumgesprochen haben. Einen Kometenschweif von Preisen und Anerkennungen bringt DER SCHWARZE PETER ja bereits mit. So fällt es nicht weiter auf, dass die Wiesbadener Filmbewertungsstelle nur ein schlichtes „wertvoll“ hinzufügte. Was sollen auch die Alten, die dort amtieren, mit einem Plädoyer für die Jugend anfangen?
Film (Velber), August 1965, Nr. 8