Texte & Reden
15. Mai 1965

Sowjetunion/Film

Text für die Zeitschrift Film über eine Sowjetische Filmwoche

Stalin auf der Sünderbank und Chruschtschow im Schwitzbad

Es wäre gewiss leichtsinnig, aus dem Verleihangebot sowjetischer Filme in der Bundesrepublik – also aus vier oder fünf Titeln im Jahr – auf den Zustand jener anderen Produktionen der UdSSR zu schließen, die wir nicht zu sehen bekommen. Das Bild, das wir uns machen können, ist notwendig fragmentarisch und provisorisch; es wird von Importeuren, Verleihern und auch vom Interministeriellen Ausschuss manipuliert. So sind es schlichte Vorurteile, wenn dem sowjetischen Film nur formaler Konservativismus und ideologische Verklemmungen nachgesagt werden, obwohl selbst in der Bundesrepublik ein Dutzend Gegenbeispiele bekannt sein sollten: der einunvierzigste, die ballade vom soldaten und der klare himmel von Grigori Tschuchrai, wenn die kraniche ziehen und ein brief, der nicht ankam von Michail Kalatosow, gestohlenes leben von Alexej Batalow, das haus, in dem ich lebe von Segel/Kulid-shanow, aloschkas liebe von Tumanow/ Choukine, liebe mit 16 von Juli Karasik, neun tage eines jahres von Michail Romm, iwans kindheit von Andrej Tarkowski, die lebenden und die toten von Alexander Stolper.

Diese Filme sind nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) entstanden und wurden auch mit jener „Tauwetter“-Vokabel versehen, die seit 1957 als Metapher jeder kulturpolitischen Liberalisierung im Ostblock gebräuchlich ist. Die Regisseure dieser Filme haben zwar keine neuen inhaltlichen oder formalen Kategorien gefunden; sie schildern meist Episoden aus dem letzten Krieg oder aus der sowjetischen Gegenwart. Doch Indizien einer Erneuerung lieferten die behandelten Themen und Konflikte. Der krieg war plötzlich nicht mehr der heroische Kampf für Kommunismus und Vaterland, sondern ein fragwürdiges und unmenschliches Unternehmen. Das Schicksal auch des Einzelnen wurde wichtig; es war nicht mehr mit der Bewährung des Kollektivs identisch, ja, die Reduktion auf das Private schien gelegentlich mit der sozialistischen Ideologie gar nicht mehr vereinbar. Es fand Kritik statt: an der Führung der Roten Armee, an allzu dogmatischen Funktionären, an Stalin. Der große Diktator wurde – oft ohne namentlich genannt zu werden – zum Sündenbock.

Im vergangenen Jahr hörten wir aus Moskau vom ungewöhnlichen Erfolg eines Films, der mit besonderer Schärfe Dogmatismus und Terror während der Stalin-Ära anprangern sollte. die stille, ein zweiteiliges Mammutwerk von Wladimir Bassow, war jetzt innerhalb einer „Woche des sowjetischen Films“ in Westberlin zu sehen. Die politischen imp0likationen der stille – und sie allein machen die Bedeutung des Films aus – sind hinter einer betulich und erfindungsarm erzählten Geschichte verborgen. Es handelt sich um ein Familiendrama aus den Jahren 1945 – 1956. Der junge Offizier Sergej kehrt aus dem Krieg heim zu Vater und Schwester. Zusammen mit einem Freund immatrikuliert er sich am Moskauer Institut für Erdöltechnik. Er verliebt sich in eine verheiratete Frau und gerät gleichzeitig in Konflikte mit einem Kriegskameraden, dem er seine Feigheit an der Front nicht nachsehen will. Als sein Vater, ein aufrechter Altbolschewik, von missgünstigen Nachbarn denunziert und eines Nachts verhaftet wird, verschweigt Sergej das Ereignis im Institut. Er wird daraufhin von der Hochschule verwiesen und auf eine Bohrstation am kaspischen Meer geschickt. Dort erlebt er zusammen mit Braut, Schwester und Freund das zweifache Happyend: eine erfolgreiche Bohrung während des XX. Parteitags.

Auf die beiden großen Momente des Films, die Verhaftung des Vaters durch den Staatssicherheitsdienst und die Relegationssitzung im Institut, war man in Berlin bestens vorbereitet. Sie hatten sich als Schlüsselszenen bis hierher herumgesprochen. Wieviel Mut da investiert worden ist, können wir freilich nicht ermessen. Es wird ja eindeutig festgestellt, dass die Bestraften – Vater und Sohn – Opfer des puren Dogmatismus und einer gemeinen Denunziation geworden sind. Die Eiferer und Opportunisten, die das zu verantworten haben – darunter ein Parteisekretär -, werden allerdings nicht als direkte Handlanger der Obrigkeit definiert. Von Stalin ist nur einmal die Rede, und die damals obligaten Porträts sind nirgends zu entdecken. Neutralisierend wirkt die symbolische Schlussapotheose: die verleiht den gezeigten Ereignissen eine historische Dimension und lässt zeitkritische Ambitionen gar nicht erst aufkommen.

Was der stille zudem an formalem Elan fehlte, besaßen andere Titel im Programm der Filmwoche. einführung ins leben (1963) von Igor Talankin erinnert in seinen besten Szenen an iwans kindheit. Auch hier wird kunstvoll ein Jugendschicksal aus dem Krieg erzählt. Der halbwüchsige Held kommt 1941 während der Evakuierung von Leningrad aufs Land, wird später in einer Flugzeugfabrik beschäftigt und schlägt sich schließlich wieder nach Leningrad durch. Auf seinem Weg begegnet der Junge Menschen unterschiedlicher Qualität, die von heroischen Posen weitgehend befreit sind. Der Film verdirbt sich kritische Wirkungen allerdings durch seine bildlichen Manierismen. Die Vorliebe Talankins für extravagante Einstellungen und poetische Metaphern manifestiert sich dabei nicht als eigenständiger Stil. Inhalt und Form fallen hier insofern auseinander, als das Wohlgefallen am optischen Raffinement oft der Einsicht in die Konflikte im Wege steht.

Der originellste Beitrag zur Filmwoche stammte von Sergej Jutkewitsch: eine Verfilmung von Majakowskis schwitzbad (1962). Die Reaktion auf diesen Film in Berlin war nicht weit von der Überraschung bei Kabahidzes hochzeit in Oberhausen entfernt: Hier wie dort stellte sich eine neue Erfahrung mit der russischen Komik ein. Jutkewitsch hatte „Das Schwitzbad“ bereits für die Bühne inszeniert und suchte für den Film nach eigenen formalen Möglichkeiten. Er fand sie in einer sehr reizvollen Kombination von Puppen- und Zeichentrickfilm mit gespielten und dokumentarischen Szenen. Die methodischen Spannungen werden mit spürbarer Freude am Gag aufgelöst. Bereits in der Erfindung der Puppen hatte Jutkewitsch eine glückliche Hand. Je nach ihrer psychologischen und gesellschaftlichen Funktion wurden die Figuren aus unterschiedlichem Material gefertigt: der Bürokrat Pobedonossikow in seiner starren Unbeweglichkeit ist aus poliertem Eichenholz. An Stelle der Ohren geht ein Loch quer durch seinen Kopf. Dort, wo sonst das Herz sitzt, trägt er eine Aktenschublade. Momentalnikow, eine Verkörperung des Katzbuckelns, besteht aus einem Drahtgeflecht. Er kann sich in seiner Geschmeidigkeit anpassen. Auch die anderen Hauptfiguren – der Sekretär Optimistiko, der angelsächsische Besucher Pont Keach, der Maler Belvedonski, die Dolmetscherin Messaliancowa, der Erfinder Tschudakow samt seinen beiden Freunden – sind bereits in der Wahl und Verarbeitung des Materials charakterisiert. Einen besonderen Gag leistete sich Jutkewitsch mit der Figur der „phosphoreszierenden Frau“, einer Künderin der Zukunft: er belebte dafür eine Gouache von Picasso.

Ebenso wichtig wie das Personal  ist seine szenische Umwelt. Die Dekorationen spiegeln bis ins Detail das Bewusstsein der Figuren wider – in der Möblierung, in den Apparaturen, in den farblichen Nuancen. Jutkewitsch hat Majakowski in einzelnen Episoden erneuert: Statt einer Parodie auf das Agitprop-Theater sieht man eine brillante Satire auf den Revuefilm. Für zeitkritische Hinweise wurde eine Szene aus der „Wanze“ eingefügt. Das Ende des Films füllen Dokumentaraufnahmen aus Kriegs-, Nachkriegszeit und Gegenwart. Zweimal ist das Chruschtschow im Bild – was in Berlin ironischen Applaus provozierte. Die letzte Sequenz des Films, die aus der Reise in die Zukunft propagandistisches Kapital schlägt, passt freilich nicht in die Konzeption der Satire und fällt auch formal ab. Dennoch enthält der etwa einstündige Film von Jutkewitsch (in CinemaScope und Farbe) so viel Vorrat an Kritik, dass er in der Sowjetunion keine offiziöse Gegenliebe fand. Mit dem Etikett „formalistisch“ versehen, wird er von öffentlicher Diskussion sorgsam ferngehalten.

Zwei wichtige Filme aus der sowjetischen Gegenwart waren in Berlin noch zu sehen: Michael Romms neun tage eines jahres (1962) und das grosse erz (1963) von Wassili Ordynski. Romms Film ist ja (bei Pegasus) im Verleih, fand aber in Berlin noch kein Kino. Die Modernität von neun tage eines jahres  in der psychologischen Differenzierung der drei Hauptpersonen und im kunstvoll-nüchternen Bildstil ist bereits vor zwei Jahren, nach dem Start in der Bundesrepublik, gerühmt worden. Auch in Berlin hat es wieder überrascht, dass ausgerechnet von Michail Romm, der zusammen mit Kalatosow, Kosinzew, Jutkewitsch und Gerassimow zur älteren Generation der Regisseure zu rechnen ist, ein so kühl und frisch wirkender Film inszeniert wurde.

Ordynski gehört zusammen mit Tarkowski, Saltikow, Talankin, Danelia und Segel zu den Regiehoffnungen des sowjetischen Films. Seine außerordentliche Begabung erweist sich selbst in einer thematisch bescheidenen Arbeit. das grosse erz wurde in Berlin eindeutig unterschätzt. Ordynski liefert im ersten Teil seines Films eine brillante Reportage aus dem Milieu der Lastwagenfahrer in einer Erzgrube und erzählt zugleich die Geschichte eines Außenseiters, der dem Kollektiv Widerstand leistet. Weil er mit einem altersschwachen Laster die Norm kaum erfüllen kann und weil er schnell den Zuzug seiner Frau finanzieren will, lehnt sich der Einzelgänger gegen die Gewohnheiten der Brigade auf. Er  fährt im strömenden Regen, als die anderen feiern, und verunglückt mit einer besonders erzhaltigen Ladung. Er stirbt, die Brigade aber wird für „das große Erz“ ausgezeichnet. Ordynski stellt die Frage nach dem Anspruch des Einzelnen und beantwortet sie pessimistisch. Das Engagement für die individuelle Bewährung ist ohne jedes Pathos formuliert; nirgends steht ein Parteisekretär, der den Konflikt regulieren könnte; Institutionen werden vielmehr in Frage gestellt, weil sie der Entfaltung des Individuums im Wege stehen. Das eigentlich düstere Ende des Films wurde in Berlin – offenbar infolge mangelhafter Übersetzung – missverstanden.

Drei filmgeschichtlich bedeutende Werke hatten die sowjetische Woche, die von den „Freunden der deutschen Kinemathek“ in der Akademie der Künste veranstaltet wurde, eingeleitet. Zunächst sah man zwei Arbeiten von Dsiga Wertow: vorwärts, sowjet (1926) und der mann mit der kamera (1929). Als Beispiele des engagierten sowjetischen Dokumentarfilms sind sie noch heute eindrucksvolle Zeugnisse revolutionären Geistes. Dagegen wirkt tschapajew (1934) von Georgi und Sergej Wassiljew reichlich heroisierend. Es war im Übrigen nicht unbedingt notwendig, einen filmhistorischen Bogen zu spannen. Ulrich Gregor, der die Filmauswahl zu verantworten hatte, mag die musealen Aufgaben der Kinemathek hier etwas zu eng ausgelegt haben. Um der filmgeschichtlichen Reminiszenzen willen, die man guten Gewissens zu anderer Zeit hätte erledigen können, musste auf einige wichtige neue Filme verzichtet werden: etwa auf ich wandere durch moskau von Georgi Danelia, an deiner schwelle von Ordynski, schneegestöber von Bassow, reise in den april von Wadim Derbenjew. So blieb die Auswahl fragmentarischer als sie hätte sein können.

Gleichwohl gaben diese Tage Aufschluss nicht nur über den zeitgenös-sischen sowjetischen Film, sondern auch über eine neue Westberliner Kulturpolitik. Seit einer „Sowjetischen Filmwoche“ im März 1961 – also vor genau vier Jahren – wurden die Chancen für die Wiederholung einer solchen Informationsschau sehr gering eingeschätzt. Noch vor einem Jahr, als während der „Berlinale“ zur Woche der Kritik zwei Produktionen aus dem Osten vorgeführt werden sollten, verweigerten Bund und Berliner Senat die Zustimmung. Jetzt scheint die Freiheit vollkommen: kein Widerspruch, kein Einfluss auf das Programm, keine Auflagen. In Westberlin gab man sich progressiver als der Ostberliner Progreß-Vertrieb, denn von der einführung ins leben, vom grossen erz, von der stille oder gar vom schwitzbad will man dort nichts hören.

Film (Velber), Mai 1965, Nr. 5.