Texte & Reden
22. Januar 1965

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER (1965)

Text für die Stuttgarter Zeitung

Als Joachim Herz, Leipziger Operndirektor und begabtester Felsenstein-Schüler, daran ging, den „Fliegenden Holländer“ für den Film einzurichten, kannte er genügend missglückte Opernfilme, um es besser zu machen. Was italienischen Regisseuren bei Verdi („Aida“, „Rigoletto“) und Puccini („Tosca“, „Madame Butterfly“) nicht gelungen war, versuchte Herz erstmals bei Wagner: die konsequente Umgestaltung einer Oper in einen Film. Er wollte „aus der Musik Bilder erfinden, die dann so wirken, als wäre die Musik zu den Bildern erfunden worden“. Bevor er das Wagnis der Verfilmung einging, hatte Herz den „Fliegenden Holländer“ bereits in Ostberlin, Leipzig und Moskau für die Bühne inszeniert. Aus den Überlegungen, die er dort angestellt, aus den Erfahrungen, die er gesammelt hatte, bereitete der Regisseur das aufwendige DEFA-Projekt theoretisch bis ins Detail vor. In der Praxis ergaben sich dann ungeahnte Schwierigkeiten, die beträchtliche Summen verschlungen haben. Bei der DEFA glaubte man schließlich, von Herz ein Kuckucksei eingehandelt zu haben. Doch nun ist ein ansehnlicher Vogel daraus entschlüpft.

Der Film – „nach Richard Wagner“ – unterscheidet sich nicht nur in dramaturgischen Einzelheiten von seiner Vorlage, er ist auf weite Strecken eine selbständige Interpretation. Natürlich erzählt auch er die Liebesgeschichte zwischen Senta, der Tochter des norwegischen Seefahrers Daland, und dem fliegenden Holländer. Doch Wagners romantische Grundgedanken – der Zusammenstoß zwischen Menschenwelt und Geisterwelt, die Erlösung durch den Liebestod – sind zugunsten einer realistischen Idee aufgegeben worden. Joachim Herz hat zusammen mit dem Szenenbildner Harald Horn ein Drehbuch verfasst, das die Handlung säuberlich in zwei Sphären sortiert: in Sentas Leben und Sentas Traum. Das Mädchen leidet unter der kleinbürgerlichen Enge des Fischerdorfes und träumt sich in eine Liebesbegegnung mit dem Holländer hinein. Während bei Wagner doch tatsächlich Realität und Märchen zusammenstoßen, verlegt Herz das Erscheinen des Holländers in die Phantasie des Mädchens.

Um die beiden Ebenen gegeneinander abzusetzen, wurde eine durchgehende Rahmenbildung erfunden, die sich formal von den Traumszenen unterscheidet. Die realen Vorgänge in Sentas Welt sind in abgedecktem Normalformat aufgenommen, die Phantasieausbrüche teilen sich in üppiger Totalvisionsbreite mit. Die Bildgrößen sind gleichzeitig symbolisch gemeint: der Enge des Dorfmilieus steht Sentas weltoffener Traum gegenüber. In der ersten Sequenz ist die Grundidee am schönsten verwirklicht: Wenn sich der Vorhang öffnet, erklingt nicht gleich die Ouvertüre. Senta sitzt zunächst in ihrer Kammer und liest in der Chronik die Sage vom fliegenden Holländer. Von draußen hört man es stürmen, Senta lauscht, und ganz sacht setzt sich der Wind in musikalische Schwingungen um. Da stellen sich bei Senta die ersten Traumbilder ein, die Leinwand fließt auseinander, und die Ouvertüre füllt den Raum. So wirkt die Musik nicht als Zugabe des Produzenten, sie entsteht notwendig aus einer spezifischen Situation.

Im Film wechseln ständig Traum und Realität. Die Übergange – teils rhythmisch geschnitten, teils sorgsam aus- und eingeblendet – sind der Musik angepasst. Auch die Bilderfindungen richten sich nach dem Ton der Szene. Natürlich wirken die Holländer-Auftritte in ihrer bizarren Phantastik und ihrem lyrischen Melos überzeugender als die etwas dürren Szenen in Sentas Umwelt. Um die Visionen zu vertiefen, wurden wallender Nebel und furchterregende Masken eingesetzt. Fast etwas fade nimmt sich das neue Finale aus, das sich auf Wagners Dresdner Schluss ohne Erlösung beruft: Senta geht, auf schmaler Leinwand, am brausenden Meer entlang in Richtung aufgehende Sonne. Da wurde die formale Konsequenz allzu weit getrieben.

Sänger und Darsteller sind in diesem „Fliegenden Holländer“ nicht identisch. Zu sehen gibt es Schauspieler, die dem Charakter von Rolle und Stimme entsprechen sollte. Bei der Senta Anna Prucnals, einer bildhübschen polnischen Musikstudentin, ging die Gleichung auf. Fred Dürens Holländer wirkt dagegen etwas unterbelichtet, so dass er niemanden bis in den Traum verfolgen dürfte. Die Stimmen hat sich Herz in seinem Leipziger Opernhaus ausgeliehen, nur Sentas sehr jugendlicher, biegsamer Sopran  (Gerda Hannemann) stammt aus Magdeburg. Der Ton wurde im Playback-Verfahren den Bildern nachgereicht. Die Musikaufnahmen mit dem Gewandhausorchester und dem Leipziger Opernchor (Dirigent: Rolf Reuter) sind trotz des technisch komplizierten Vier-Kanal-Magnet-Ton-Verfahrens vorzüglich gelungen. Die Brillanz der Wiedergabe hängt allerdings von der Ausrüstung der Lichtspieltheater ab. So stellt dieser Film auch technische Probleme besonderer Art, denn nur wenige Kinos in der DDR sind in der Lage, ihn einwandfrei vorzuführen. In Ostberlin rechnet man mit dem Interesse der Bundesrepublik. Gegen Wagner – wenn auch in eigenwilliger Verpackung – dürfte der Interministerielle Ausschuss kaum Einwände haben.

Stuttgarter Zeitung, 22. Januar 1965, Filmseite. Überschrift „Die Erlösung findet nicht statt“.