Texte & Reden
15. Januar 1959

Wenn die Kraniche ziehen

Referat

Aus der umfangreichen sowjetischen Filmproduktion der letzten Jahre sendet Moskau zuweilen ein besonders gelungenes Exemplar in die westlichen Kinoländer und beweist damit, dass die Nachfolger von Eisenstein, Pudowkin und Dowshenko noch nicht in alle den Kolcho-sen-Balladen und balalaikaumrauschten Idyllen erstickt sind. In der Reihe diese Auserwählten kamen 1957 die kraniche zu uns, der Film, der Presse und Publikum bisher am meisten bewegte, der abseits der kommunistischen Ideologien zu stehen scheint.

Die reine Handlung des Films ist nicht neu oder gar sensationell. Berichtet wird die Geschichte der Verlobten Veronika und Boris, die durch den Krieg getrennt werden. Während sie den täuschenden Werbungen seines Bruders erliegt, fällt er an der Front. Als die Soldaten nach dem Krieg zurückkommen, steht sie voller Hoffnung am Bahnhof, doch sie wartet vergebens.

Aus dem sowjetischen Alltag des Zweiten Weltkriegs wird ein indi-viduelles Schicksal erzählt, das nicht im Gleichklang mit dem Schicksal der Allgemeinheit verläuft, sondern kontrapunktisch zu ihm. Dieser Alltag ist ungeschminkt, unverstellt, keineswegs propagandistisch verklärt – die Hauptstadt und die sibirischen Lager mit ihren Menschen, guten und weniger guten, sogar schlechten. Erstmals wird gezeigt, dass es in der Sowjetunion in dem 1941 beginnenden Kampf um Leben und Tod auch Drückeberger, Schieber, Kriegsgewinnler und ehebrecherische Frauen gab. Es sieht alles genauso aus wie in den Ländern des Kapitalismus. Und das Thema – junge Menschen im reißenden Strom der Zeit – gilt nicht nur für Russland, sondern für alle Länder, über die das Verhängnis des Krieges hereinbrach. Die vom Schicksal nicht zur Vollendung bestimmte Liebe zwischen Boris und Veronika könnte stellvertretend für die unglücklich Liebenden in aller Welt stehen, deren Liebe an Kriegen, Schlagbäumen, Paragraphen oder politischen Ressentiments unserer Zeit scheitern musste.

Nach zahllosen Filmversionen des „sozialistischen Realismus“ scheint nun die Wendung zum „psychologischen Realismus“ stattgefunden zu haben. Endlich nimmt ein sowjetischer Film einmal die private Schuld eines einzelnen Menschen wichtig. Es fragt sich nun, ob wir, wenn wir den Gehalt des Films auf dieses rein menschliche Thema reduzieren, nicht den Film einfach auf unsere Weltanschauung umkopieren, denn neben dem menschlichen Versagen der Veronika steht ohne Zweifel ihr Versagen gegenüber der sowjetischen Gesellschaftsordnung. Der Film selbst könnte uns eine Berechtigung dazu geben, dass wir ihm eine prokommunistische Tendenz absprechen: er wagt nämlich Fragen zu stellen, die dem in Russland praktizierten historischen Materialismus eigentlich unbequem sein müssten. Was ist Schicksal? Ist es das Spiel überwirklicher Kräfte mit dem Menschen? Ist es vielleicht Gott? Bestimmen wir den Ablauf der Ereignisse oder werden wir von ihm bestimmt? Wenn die in unglücklicher Ehe mit dem Bruder des gefallenen Boris vereinsamte Veronika in ihrer Verzweiflung fragt „Was ist eigentlich der Sinn unseres Lebens?“ und auf diese entscheidende Frage keine Antwort erhält, scheint der Film einen bemerkenswerten Charakter zu offenbaren. Überhaupt stellt der Film viele Fragen, wahrscheinlich, weil es wohl gerade in Russland so viele unbeantwor-tete Fragen gibt. Viele dieser Fragen werden denn auch nicht beantwortet, aber das ist weniger entscheidend als die Tatsache, dass so mutig und nachdrücklich gefragt wird.

Bei näherer Betrachtung müssen wir allerdings feststellen, dass es dem Film nicht gelingt, seine Fragen auf wesentliche Punkte zu konzen-trieren, er gelangt nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, weil er sich in seinem Grundthema mit der sowjetischen Gesellschaft einig weiß. Berücksichtigen wir bei einer Interpretation des Films das Herstellerland und das Ziel, das die sowjetische Kunst verfolgt, die im Dienste der proletarischen Klasse oder des Kollektivs wirkt, so erhalten wir bei einer Aufschlüsselung ungefähr folgendes Bild:

Im Mittelpunkt des ganzen Films steht das Schicksal von Veronika. Alle anderen Figuren interessieren nur solange, wie sie mit Veronika im Zusammenhang stehen. Der Film rückt also das individuelle Schicksal eines Menschen in den Mittelpunkt, er richtet den Blick des Zuschau-ers auf den einzelnen Menschen, vor dessen persönlichem Maßstab sich alle allgemeinen Werte relati­vieren müssen, so zum Beispiel der Krieg, zu dem sich Boris freiwillig meldet. Dieser Maßstab identifiziert sich jedoch mit dem des Kollektivs im gleichen Maße, in dem Veronika eben diesem Kollektiv zugehörig wird.

Zunächst jedoch ist sie Individuum. Sie arbeitet nicht in der Fabrik, liebt ihren Boris und hat kein Verständnis dafür, dass er freiwillig in den Krieg ziehen will. Aber die Liebe des Boris zu ihr – und Boris ist ein Glied der Proletarierklasse, denn er arbeitet und kämpft für sie – verbindet auch sie mit der Klasse. Sie entschließt sich, in einer Rüstungsfabrik zu arbeiten. Dann verliert sie ihre Eltern, ihre indivi-duelle Herkunft, das, was sie an Liebe in diesem Krieg noch hatte, denn von Boris hört sie ja nichts mehr, seine Liebe lebt nur noch in ihrer Erinnerung.

Mit dem Verlust der Eltern und deren Liebe, in der Veronika noch Individuum war, fällt sie der Klasse anheim, dargestellt in der Familie des Boris: Die Schwester ist als die arbeitende Frau dem Manne gleichberechtigt, die Großmutter ein letzter Rest von Tradition, der notwendig ist für die Augenblicke, in denen sich die Glieder des Kollektivs noch als Individuen fühlen, wie eben in der Liebe. Die Schwester aber, als Verkörperung der vollkommenen Klassenfrau, braucht die Großmutter eigentlich nicht. Später, in Sibirien, ist die Großmutter gar nicht mehr da; wo die Klasse im letzten Einsatz steht, ist für die Reste der Tradition kein Platz. Der Vater kennt seine Aufgabe in der Gesellschaft, denn er geht nach dem Abschied des Sohnes früher als sonst zu seiner Arbeit: jetzt heißt es, sich besonders einsetzen, mitkämpfen, denn die Klasse kämpft. Eine Mutter, die ihre Kinder liebt, die das Leben einer Familie in Friedenszeiten in ihren Händen hält, gibt es in dieser Familie nicht. Aber die Klasse kennt auch die Kunst, sie nimmt sie in ihren Dienst im Lazarett in Sibirien, sie pflegt sie sogar, und so muss der zweite Sohn ein Künstler sein, ein Individuum, das, als es sich der Gesellschaftsordnung entgegenstellt, hinweggejagt werden muss. Dieser Familie also, die die Klasse darstellt, wird Veronika ausgesetzt. Sie soll in der Klasse leben, die ihr den Sinn und Wert ihres Lebens geraubt hat, denn was wir wert sind, wissen wir doch nur, sind wir doch nur aus der Liebe eines anderen Wesens zu uns.

Noch einmal wird Veronika Individuum, als sie sich während des Bombenangriffs zu dem Bruder von Boris flüchtet. Diese Szene ist, wie mir scheint, ein Kernstück des Films. In dem Augenblick des Bombenangriffs kommt für Veronika die äußerste Bedrohung des Lebens. Ein Christ würde hier beten, um durch die Verbindung zu Gott als Individuum gesichert zu sein gegen das unpersönliche Toben der Elemente. Für Veronika gibt es keinen Gott mehr, es gibt nur die Klasse, die den Krieg führt, einen Krieg, der von ihr nicht nur die größten Opfer verlangte, sondern jetzt auch ihr Leben bedroht, ihre Existenz vollkommen auslöschen will, und es gibt den Bruder dessen, der auch Glied der Klasse ist und sie, obwohl sie ihn liebte, verlassen hat, dem Toben dieses Krieges ausgesetzt hat. Und da flüchtet sie sich zu dem, der sie als einzelne einzig durch seine Liebe stärken kann, ihr in ihrer Auflehnung gegen das, was zuviel von ihr fordert, beistehen kann. Aber sie merkt, dass sie Verrat begangen hat, sie sieht, dass der einzelne sie nicht retten kann. So widmet sie sich wieder dem Dienst für die Klasse, indem sie als Krankenschwester im Lazarett tätig ist. Doch die Klasse scheint sie zu verstoßen, die Liebe zu jenem Künstler, Außenseiter, ist für sie unmoralisch, denn Moral ist die Moral der Klasse. Da will sie ihre Existenz auslöschen, aber sie wird durch das kleine Kind auf der Straße gerettet und den übergeordneten Lebensaufgaben zurückgegeben. In der Schlussszene kehrt Veronika dann glücklich vollends in den Schoß der Klasse ein, statt der Liebe zu einem einzelnen, Boris, liebt sie nun alle, die in dem großen Krieg gekämpft haben, das Kollektiv. Das bedeutet also einen Sieg der Proletarierklasse, das Opfer des Individuums zu Gunsten der Allgemeinheit. Das müssen wir bei der Betrachtung des Films wohl beachten.

Dass dieser russische Film überhaupt Fragen nach der menschlichen Existenz stellt, dass zuweilen um der Wahrheit willen ein kausal-mechanisches Denkschema beiseite geschoben und eben jenen Fragen ohne politisch-philosophische Scheuklappen nachgespürt wird, ich glaube, das ist schon mehr, als wir im Allgemeinen von einem sowjetischen Film erwarten können, das darf man bei einem Lande, dessen Filme sonst von einem fatalen sozialistischen Optimismus getragen werden, fast als sensationell bezeichnen.

Unter der umsichtigen, bei aller Liebe zum Detail doch stets das Ganze übersehenden Regie von Mikhail Kalatosow spielen zumeist junge, unbekannte Darsteller. Ihren entscheidenden Akzent hat die Rollen-besetzung in der Veronika von Tatjana Samoilowa. Weitab von aufgesetztem Pathos und großen Gesten agiert sie in einer fast absoluten Identifikation mit einer differenzierten Aus­druckskraft, die vom Innig-Verhaltenen bis zum leidenschaftlichen Ausbruch reicht.

Das Ereignis dieses sehr beachtlichen Films ist die formale Ausdrucks-kraft, die expressive Macht der Bildsprache. So heißt der eigentliche Schöpfer der kraniche Sergej Urussewskij. Er hat bereits den einundvierzigsten als Kameramann betreut und beweist mit seiner Arbeit an den kranichen einen Wagemut im Formalen, wie wir ihn aus anderen russischen Filmen der jüngsten Vergangenheit nicht kennen. Urussewskij hat seine Einstellungen nicht als eine Serie statischer Bilder aufgenommen, sondern als dynamische, sich ständig verändernde Kompositionen. Ihre Form richtet sich nach der vorange-gangenen Einstellung und geht logisch präzise, in Rhythmus und Tempo ausgerichtet, in die nachfolgenden Kompositionen über. Er hat sich nicht auf eine einfache gegenständliche Ausfüllung des Bildraums beschränkt, sondern eine eigene Kompositionsmethode geschaffen, indem er Kamerastandpunkt und Aufnahmeperspektive nach der lichtmäßigen und dynamischen Aufgabenstellung auswählte. Die Grenzen der Natürlichkeit wurden dabei niemals überschritten. So verwegen die Bilder im einzelnen auch sein mögen, sie sind es nie aus Interessantmacherei, nie mit avantgardistischer Pose, nie als intellektuelles Mätzchen. Jede Szene ist hier einzig und allein konzentriertester Ausdruck dessen, was das Drehbuch sagen will. Dieser Film ist eine Bildkomposition, in der die völlige Deckung von Gehalt und Gestalt erreicht ist.

Zu den Möglichkeiten, einen Film zu verdichten, gehört die Montage. Technisch erklärt ist sie nicht nur das Zusammenfügen einzelner Filmteile beziehungsweise Bildeinstellungen, sondern auch eine gedrängte Zusammenstellung von Filmteilen durch Ineinander- und Überblenden oder Übereinanderkomponieren, das heißt, zwei oder gar drei verschiedene Szenen werden zu einem Bild zusammengefügt. Eine der eindrucksvollsten Szenen in unserem Film wurde durch eine solche Montage intensiviert.

Als Boris von einer feindlichen Kugel getroffen wird, weitet sich eine Sterbesekunde zu einem Leben aus, das nicht mehr gelebt werden, das sich nur noch in einem kurzen Traum, in flüchtigen Bildern des Gewünschten, Erhofften, Ersehnten erschöpfen kann. Mit diesem „Traumbild“ wird die grausame Kälte des Sterbens mit dem Mantel des Gefühls der Geborgenheit im Eheglück zugedeckt. Ohne dass der Szene das Furchtbare und Schreckliche ganz genommen wird, erreicht der Regisseur mit dieser Montage, dass dem Zuschauer der Anblick des nackten Sterbens genommen wird. Der Augenblick wird zur Ewigkeit erhöht, der Tod wird mit einem Schein der Verklärung umgeben. Die Montage als schöpferischer Vorgang ist damit zugleich der Weg zum Filmkunstwerk.

Es scheint mir selbstverständlich, dass bei einer Kollektivarbeit, wie sie der moderne Film notwendigerweise darstellt, eine ernsthafte Ausein-andersetzung mit dem Kommunismus nicht gelingen kann, sie muss dem Individuum, dem Außenseiter vorbehalten bleiben. Es scheint mir außerdem unmöglich, dass ein Film, der nicht der kommunistischen Ideologie angepasst ist, als ein offizieller Beitrag der Sowjetunion zu westlichen Filmfestspielen gelangen kann, die kraniche aber wurden in Cannes gezeigt (und prämiert). Mit einer bloßen Reduzie-rung auf das sehr beliebte Dreiecksmotiv – Frau zwischen zwei Männern, Versagen der Frau, Erkennen der Schuld, Läute­rung – kann man dem Film kaum gerecht werden. Es darf als unwahrscheinlich angesehen werden, dass sich ein so ambitionierter Film mit der unverbindlichen Darstellung einer Grenzsituation begnügt. Ich wage zwar nicht zu behaupten, dass meine Interpretation, die im Blick auf einen sozial-psychologischen Zusammenhang erfolgte, die einzig mögliche ist, ich halte sie jedoch, besonders auf Grund der Schluss-szene, gegenüber jeder anderen für wahrscheinlicher. Bei allen Einwendungen aber, die gegen die weltanschauliche Ausrichtung des Werkes erhoben werden können, ist die formale Ausdruckskraft nicht genug zu loben, die denn auch das entscheidende Erlebnis des Films ausmacht.

München, Ludwig-Maximilian-Universität, Januar 1959.