Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
November 2009

Anton Kaes:
Shell Shock Cinema
Weimar Culture and the Wounds of War
Princeton University Press, Princeton and Oxford 2009
312 S., 25 Euro
ISBN 978-0-691-03136-1

Anton Kaes:
Shell Shock Cinema.
Weimar Culture and the Wounds of War

Wenn man vom Kino der Weimarer Republik spricht, dann sind damit fünfzehn der wichtigsten Jahre des deutschen Films gemeint. Die Zeit ab 1918 verbindet sich mit den Namen Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Georg Wilhelm Pabst, Carl Mayer, Erich Pommer – um nur die Prominentesten der Kreativen zu nennen. Der Anfang war das Ende des Ersten Weltkriegs, das Ende der Machtbeginn der Nationalsozialisten. In den fünfzehn Jahren fanden eine Inflation und eine Weltwirtschaftskrise statt und der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Die politischen, ökonomischen und technischen Turbulenzen wie auch die ästhetischen Erfindungen sind von Filmhistorikern und Theoretikern schon früh gewürdigt worden. Siegfried Kracauers From Caligari to Hitler (1947) und Lotte H. Eisners L’Ecran démoniaque (1952) gelten als Klassiker der Filmliteratur, 2003 gab Thomas Koebner den Essayband Diesseits der ‚Dämonischen Leinwand’. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino heraus. Seine These: „Von Caligari führt kein Weg zu Hitler.“

Auch Anton Kaes stellt in seiner großen Untersuchung die Verbindung zwischen Caligari und Hitler in Frage. Sein Blick ist dabei aber nicht auf die angeblich so enge Verbindung zwischen dem Weimarer Kino und dem aufkommenden Nationalsozialismus gerichtet, er sucht vielmehr – und das hat eine größere Logik – in ausgewählten Filmen die Spuren des Ersten Weltkriegs. Wie wurden die Traumata der Kriegserfahrung, die erlittenen seelischen Verletzungen, die „shell shocks“ künstlerisch verarbeitet? Als Protagonist der Schule des New Historicism, die die Filmanalyse methodisch erweitert und sich ein komplexeres Bezugsfeld sucht, nutzt Kaes Forschungsergebnisse der Psychologie, der Medizin, der Literatur- und Kulturwissenschaft, um unter die Oberfläche der Filme zu gelangen. Er kommt in den sechs Kapiteln seines Buches – The War at Home / Tales from the Asylum / The Return of the Undead / Myth, Murder, and Revenge / The Industrial Battlefield – zu erstaunlichen Befunden, die uns den Zugang zu vier Klassikern des Weimarer Kinos stark erweitern: DAS CABINET DES DR. CALIGARI, NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS, DIE NIBELUNGEN und METROPOLIS. In den Geschichten, Figuren und Bildern dieser Filme lassen sich Metaphern für Traumata erkennen, die zu entschlüsseln sind und den Bezug zu Kriegserlebnissen nachvollziehbar machen, auch wenn das moderne Schlachtfeld als Szenerie nicht vorkommt. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu Fritz Lang, den NIBELUNGEN und METROPOLIS. Langs Erlebnisse im Krieg und ihre Reflexion in einem mythisch-historischen und einem utopisch-versöhnenden Drama sind substantieller Stoff für die Spurensuche des Autors Kaes. Er nutzt ihn zu einem Geflecht neuer Erkenntnisse.

Anton Kaes, 1945 geboren, Chancellor Professor of German and Film Studies an der University of California, Berkeley, beschäftigt sich seit mehr als dreißig Jahren mit dem Kino der Weimarer Republik, hat andererseits auch über den Neuen Deutschen Film publiziert. Er ist eine Leitfigur für den kenntnisreichen Umgang mit deutscher Filmgeschichte in Amerika. Mit dem Shell Shock Cinema-Buch hat er sich lange gequält, weil er etwas definitiv Neues über sein Spezialthema publizieren wollte. Das ist ihm gelungen, und auch in der äußeren Form ist es ein besonderer Band geworden: mit Abbildungen aus den Filmen, fotografiert von Gerhard Ullmann, gedruckt auf exquisitem Papier, mit einem eindrucksvollen Umschlagmotiv: der erwartungsvollen Ellen (Greta Schröder) aus Murnaus NOSFERATU. Auf eine deutsche Ausgabe des Buches wird man wohl vergeblich warten.