Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1996
Filmbuch des Jahres

Hanns Zischler
Kafka geht ins Kino
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996
166 S. (48 DM)
ISBN 3-498-07659-0

Hanns Zischler:
Kafka geht ins Kino

Der Autor und Schauspieler Hanns Zischer (*1947) hat sich auf eine detektivische Spurensuche gemacht und die Kino-Welt von Frank Kafka erforscht.

Die für mich schönste Rezension des Buches stammt von dem Filmpublizisten Ralph Eue und wurde für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Ich zitiere:

„Käme sein Gegenstand aus dem Bereich der Elektronik, man würde Hanns Zischler einen Hacker heißen können. Da sein Sujet aber Kafka ist, präziser: dessen Kinobesuche während der Jahre zwischen 1908 und 1913 in Prag, Verona und Paris, erscheint mir die Bezeichnung Dekodierer treffender. Gemeint ist das Dekodieren nicht in seiner modischen Konnotation, sondern im sprachwissenschaftlichen Sinn – wo der Begriff schlicht jegliche verstehende Tätigkeit des Hörers oder Lesers beim Sprech- bzw. Lesevorgang bezeichnet.

In Kafka geht ins Kino erzählt Zischler das Abenteuer eines detail-versessenen Recherchierens, erlebt als Privatforscher während der vergangenen zwei Jahrzehnte ‚im Schatten von Dreharbeiten‘ (u. a. Filme von Wenders, Akerman, Thome, Chabrol, Vilsmaier und Godard). Seine Untersuchungen beziehen sich primär auf die Tage-bücher und Briefe Kafkas sowie auf dessen z. T. gemeinsam mit Max Brod verfaßte Reiseaufzeichnungen. Wenig Bezüge gibt es auf die Prosa, gar keine auf Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka, die in der (gegenüber der deutschen geringfügig ausführlicheren) französischen Ausgabe von Kafka geht ins Kino als nachsynchronisiert bezeichnet werden. Andere Quellen, aus denen sich das Buch speist: die mémoire sauvage von Archivaren und Sammlern in Prag, Verona, Mailand, München, Berlin und Paris – das sind die Schauplätze, die ein quasi kubistisches Porträt von Kafka als Kinogänger erstehen lassen.

Kafka gehörte nicht zur Phalanx jener Schriftsteller, die auszogen, das Kino zu erobern. Im Gegensatz zu Schnitzler, Hauptmann und anderen war Kafka nicht im geringsten am Film als möglichem Arbeitsfeld (und Einkommensquelle) interessiert. Es ist kein Zufall, daß er in dem berühmten 1914 von Kurt Pinthus herausgegebenen Kinobuch fehlt. Kinogehen war für Kafka eher die Domäne noktambuler Abenteuer: ‚Im Kino gewesen. Geweint. Lolotte. Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung . . . Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.‘

Kafka stellte sich dem Kino als einem Medium der ‚automatisierten Unruhe‘, dem zu begegnen ihn selber zum Medium – durchaus im spiritistischen Sinn – machte. Mit der Methode möglichst direkter Transposition (‚erregt flackerndes Stenogramm‘) versuchte er die affektiven Spuren, welche das Erleben des Kinogeschehens in ihm zurückließen, festzuhalten (‚Festhalten!, als wäre der Zuschauer überfallen und beraubt worden, und rufe hilfesuchend nach der arretierenden Schrift.‘). Erstaunlich an Kafkas Beobachtungen: Nie gerät ihm die Handlung eines Film in den Blick, bloß einzelne ‚genau erinnerte Sekundenbilder‘. Er will das einzelne Bild festhalten, abnehmen, von der Leinwand förmlich abreiben (wie Archäologen dies von Inschriften tun), ohne allerdings die illusionäre Tiefe aufgeben zu müssen.

Anhand eines einzelnen Films (Die weiße Sklavin) bzw. einer kaum fünf Sekunden dauernden Sequenz daraus legt Zischler dar, was es mit Kafkas genauen Erinnerungen auf sich hat – wie Anverwandlung zur Verwandlung und schließlich zur Fälschung führte. Und : wie Kafka, nachdem er eine Szene bis zur Kenntlichkeit entstellt hatte, darüber auch seine eigene mächtige Fiktion eines realen Geschehens kommunizierte.

Am 26. August 1911 notierte Kafka in sein Tagebuch: ‚Ich erinnere mich noch genau an das Kinematographenstück Die Weiße Sklavin, in dem die unschuldige Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird.‘ Die Filmsequenz ist in dieser Form keineswegs existent. Gewiß gibt es zwei Männer, diese passieren aber, ohne den geringsten Wort-, Blick- oder Körperkontakt mit der jungen Heldin, nur von rechts nach links das Bild.

Sehr wohl existent war dagegen eine Dame namens Angela Rehberger, der Max Brod auf einer gemeinsam – ebenfalls Ende August 1911 – mit Kafka unternommenen Reise von Prag über München nach Mailand offene Avancen machte und der man als Dora Lippert in dem von Brod und Kafka konzipierten (aber Fragment gebliebenen) Roman ‚Richard und Samuel‘ begegnen kann. Tatsächlich drängte Brod, um sich gemeinsam die Umsteigezeit in München zu vertreiben, jene Frau Rehberger dazu, sich auf eine abendliche Stadtbesichtigung per Taxi zu begeben. Kafka, dem die Nachstellungen Brods peinlich waren, verzerrte sie ins Phantastische – sowohl in der Erinnerung an das genannte Kinematographenstück wie in dem Romanfragment. In vertrackter Deutlichkeit, so Zischler, verwandelt Kafka die Männer, die den Gang der Frau zum Taxi kreuzen, in Häscher, ja Zuhälter und betritt selbst – in dieser Verwandlung – die Szenerie. ‚Die Peinlichkeit der Nötigung zur nächtlichen Fahrt ist durch den Kunstgriff der Übertragung der realen Scham in die irreale Schamlosigkeit des Kinos abgestreift . . . Sobald diese kunstvolle Doppelbelichtung einmal fixiert ist, kann die Taxifahrt, die wie ein mechanisches Uhrwerk, wie ein Projektor abschnurrt, die peinliche Wirklichkeit hinter sich lassen – und Kinema werden. Pures kinetisches, kinematographisches und graphematisches Vergnügen, Genuß der reinen, ungetrübten Passivität, in der die Körper und Sinne der drei Reisenden durch die regenschwere, illuminierte Nacht befördert werden. Was sie sehen sind unsichtbare Sehenswürdigkeiten, und was sie hören ist das Schnurren des Apparats im Kinematographen.‘

Ganz falsch wäre es aber nun, Die Weiße Sklavin (1910) zum Schlüsselfilm für Kafka herzurichten. Ebensowenig kann der Film Die Herzensbrecherin (1913), welcher in seinen Briefen an die Verlobte Felice Bauer eine im Verschweigen und Auslassen vielsagende Rolle spielt, als solcher gelten. Und auch nicht das Filmdokument Shiwath Zion (1920) über den Aufbau von Palästina, worin Kafka seinem eigenen ekstatisch und angsterfüllt empfundenen Wunsch fortgehen zu wollen begegnet: ‚Es ist immer wieder darüber spekuliert worden, welche Filme Kafkas Schreiben näher oder ferner beeinflußt haben . . . Die von ihm gestreiften und gelegentlich festgehaltenen Bilder stehen in keinem unmittelbar erkennbaren Zusammenhang zu seiner Prosa. Ja, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wollte er diese Bilder aus seiner Prosa heraushalten .‘

So legt Kafka geht ins Kino verschiedene Spuren frei, ‚wildert‘ zwischen biographischer Forschung, Wahrnehmungspsychologie, Kultur-geschichtsschreibung, Filmarchäologie und Literaturwissenschaft. Angereichert ist das Buch mit wunderbaren Abbildungen, die den Text, gleichsam nach musikalischen Gesichtspunkten ausgewählt, wie Obertonfrequenzen umspielen.“

Ralph Eue in: Süddeutsche Zeitung, 13./14. Juli 1996