Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Mai 2015

David Steinitz
Geschichte der deutschen Filmkritik
edition text + kritik, München 2015
326 S., 30 €
ISBN 978-3-86916-409-0

David Steinitz:
Geschichte der deutschen Filmkritik

David Steinitz (*1984), Filmkritiker der Süddeutschen Zeitung, hat seine Dissertation an der Ludwig-Maximilian-Universität in München über die „Geschichte der deutschen Filmkritik“ geschrieben. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Das ist ein großes Thema, dessen Bearbeitung sich bisher niemand zugetraut hat. Die Lektüre ist spannend, die Struktur des Textes erscheint einleuchtend, der Dualismus von ästhetischer und ideologischer Kritik kommt immer wieder zum Vorschein. Der notwendigen Zuspitzung und Verknappung sind natürlich viele Namen zum Opfer gefallen. Aber es geht in diesem Buch weniger um Personen, sondern mehr um Positionen. Und in dieser Hinsicht gibt es jetzt ein Stück Basisliteratur.

2015.SteinitzDavid Steinitz gehört seit 2010 zu den Mitarbeitern in der Feuilletonredaktion der SZ. Er hat Politikwissenschaft an der LMU und Kulturjournalismus an der HFF München studiert. Ich lese seine Texte gern, weil sie informativ und sachkundig sind, die komplexe Entwicklung des Films im Auge behalten und sich jeweils konkret auf einzelne Filme einlassen. Also: weil sie meine Erwartungen an eine Filmkritik erfüllen.

Zu seinem Buch. Im ersten Kapitel wird die Bedeutung der „Kritik“ definiert: Kant, Hegel, Marx, Adorno. Dann geht es in die Anfangszeit der Filmkritik, um die Verteidigung des Kinos als Kunstform, um die ersten Film-Fachzeitschriften und das Ende der frühen Filmkritik mit dem Ersten Weltkrieg. Natürlich setzen die politischen Phasen die Pflöcke: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, die Dekaden von den 50ern bis zu den 80ern in der Bundesrepublik; ein eigenes Kapitel ist der Filmkritik in der DDR gewidmet, auch die kirchliche Filmkritik wird speziell analysiert. Das Schlusskapitel handelt, etwas genereller, von der Filmkritik im digitalen Zeitalter, in dem die Printmedien an Bedeutung verlieren.

Die einzelnen Kapitel werden jeweils mit einer Beschreibung der Situation der Filmindustrie eröffnet, ihren technischen und ökonomischen Gegebenheiten, der Macht der Produzenten, Verleiher und Kinokonzerne, von der sich zumindest die überregionale Filmkritik unabhängig fühlt. NS-Zeit und DDR werden in diesem Zusammenhang eigenständig bewertet. Steinitz sichert sich durch viele Zitate ab, die ihn als fleißigen Nutzer der Filmliteratur ausweisen; es dominieren in diesem Zusammenhang Sabine Hake, Siegfried Kracauer, Klaus Kreimeier, Eric Rentschler, Heide Schlüpmann, aber das Autorenspektrum ist auch darüber hinaus beeindruckend groß.

Persönlich haben mir die Kapitel über die Filmkritik der Weimarer Republik und die Filmkritik der Achtzigerjahre am besten gefallen. Im Weimar-Kapitel werden viele Grundsatzfragen behandelt und deutsche Spezifika thematisiert: Filmkritik vs. Theaterkritik, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Filmkritik, die Unterscheidung zwischen ästhetischer und soziologischer Kritik, die Veränderungen durch den Tonfilm, der Gang vieler Autoren jüdischer Herkunft ins Exil (hier werden auch einzelne Namen genannt). Im Achtzigerjahre-Kapitel nutzt Steinitz intensiv die Publikation „Die Macht der Filmkritik“ (1990 herausgegeben von Norbert Grob und Karl Prümm), er konfrontiert die Positionen von Gertrud Koch und Karsten Witte mit den Anschauungen von Andreas Kilb und Claudius Seidl und setzt Frieda Grafe ein eigenes Denkmal. Das bringt auch Personen ins Spiel und nicht nur theoretische Standorte.

Im Kapitel über die Nachkriegszeit (inklusive der Fünfzigerjahre) werden zumindest vier Personen individuell gewürdigt: Siegfried Kracauer und Lotte Eisner als Vorbereiter und Wegweiser, Gunter Groll und Enno Patalas als Antipoden. Die Konfrontation der „feuilletonistischen“ und der „ideologischen“ Filmkritik in den 50ern und der „politischen Linken“ mit der „ästhetischen Linken“ in den 60ern ist natürlich für die Geschichte der deutschen Filmkritik essentiell. Aber ich vermisse dann doch eine kurze Charakterisierung der Filmkritik in den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen, mir fehlen Namen wie Helmut de Haas, Brigitte Jeremias, Karl Korn, Uwe Nettelbeck, Karena Niehoff, Georg Ramseger, Hans-Dieter Seidel, Heinz Ungureit oder Wilfried Wiegand, und es fehlen mir Hinweise zum Beispiel auf Brigitte Desalm, Marli Feldvoß oder Hans Helmut Kirst. Und es ist eine merkwürdige Charakterisierung, Hans C. Blumenberg als einen „gefühlsbetont schreibenden“ Autor zu bezeichnen.

Aber (siehe oben) man muss wohl akzeptieren, dass hier auf einer eher generellen Ebene definiert wird und deshalb die individuellen Charakterisierungen zu kurz kommen. So hat es auch eine Logik, dass es kein Personenregister gibt, aber eine umfangreiche Bibliografie. Und wenn man alle Anmerkungen und Quellenangaben summiert, kommt man auf die stattliche Zahl von 1.192. Der Autor hat es sich also nicht leicht gemacht.

Schön ist im letzten Kapitel die Würdigung von Michael Althen, der in der deutschen Filmkritik Maßstäbe gesetzt hat.

Keine Abbildungen. Mit einem Vorwort von C. Bernd Sucher, Leiter des Aufbaustudiengangs Theater-, Film- und Fernsehkritik an der Theaterakademie München.

Vor fünf Jahren erschien übrigens ein vergleichbares Buch in den USA: „The Complete History of American Film Criticism“ von Jerry Roberts (Santa Monica Press).