Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juli 2014

Paul Duncan / Jürgen Müller (Hg.)
Film Noir
100 All-Time Favorites
Taschen Verlag, Köln 2014
688 S., 39,99 €
ISBN 978-3-8365-4353-8

Paul Duncan / Jürgen Müller (Hg.):
Film Noir.
100 All-Time Favorites

Mit mehr als drei Kilo ist es ein Schwergewicht unter den Büchern über den Film Noir. Papierqualität und Fotos sind hervorragend, auch die Texte haben Substanz. So wird einem wichtigen Genre des Hollywood-Kinos und des internationalen Films noch einmal Tribut gezollt. Auch wenn zum Film Noir schon vieles, eigentlich fast alles gesagt und geschrieben wurde, kann mit einem neuen Buch noch ein Mehrwert geschaffen werden. In diesem Fall – publiziert vom Taschen Verlag in Köln – entsteht er vor allem durch die Abbildungen. Sie erscheinen, wie so oft bei diesem Verlag, auf schwarzer Fläche. Die Schrift ist weiß. Und die Fotos, mit allen Zwischentönen, haben das, was man physische Präsenz nennen kann, oder: die Tiefe des Abgrunds, die diesem Genre angemessen ist.

Anlässlich einer Retrospektive in Wien 2005 hat Fritz Göttler so schön und provokativ über den Film Noir nachgedacht, dass ich ihn hier gleich erstmal zitiere: „Die tiefste Einsamkeit. Die schwärzesten Nächte. Die brutalsten Morde. Die verrückteste Liebe. Der gemeinste Verrat… Wenn’s um den Film Noir geht, ist alles ultimativ, das Genre definiert sich heutzutage vor allem über Superlative, über Absolutheitsansprüche. Besonders gern wird über Fetische kommuniziert, über traumhafte Situationen. Das Kettchen an Barbara Stanwycks Fuß, wenn sie die Treppe hinabsteigt vor den trägen Augen des Versicherungsagenten Fred MacMurray, in Double Indemnity. Die Materialisierung in flirrender Mittagssonne von Jane Greer vor den nicht minder müden Augen von Robert Mitchum, in einer mexikanischen Bar in Out of the Past. Die schlafverklebten Augen, wenn Dana Andrews, der unter dem Bild der toten Laura/Gene Tierney eingepennt ist und diese nun leibhaftig vor ihm steht… (…) Eigentlich ist Film Noir, als Begriff, seit langer Zeit tot, totbenutzt wie ähnlich geläufige Termini: surreal, existentialistisch, postmodern. Wie diese ist Noir benutzerfreundlich, sagt alles und beschwört noch jede Menge diffuser Echos dazu. Ein Schicksal, das man schon voraussehen konnte, als Anfang der Siebziger Paul Schrader den Film Noir nicht als Genre, sondern als Stil definierte, in seinen ‚Notes on Film Noir’. Er hat das nicht als Filmhistoriker getan, sondern als Filmemacher in spe. Bis heute sind Schraderfilme die reinsten, in ihrer Reinheit atemraubendsten Exempel des Neonoir: American Gigolo, Light Sleeper, Auto Focus. (…) Es ist die Weite, die den Film Noir am Leben gehalten hat, nicht als festes Korpus von Filmen, sondern als eine Stimmung, ein Zeitgefühl. Eine der großen Strömungen des 20. Jahrhunderts, parallel zu Surrealismus, Existenzialismus, Postmoderne. Die enge Verwandtschaft zum alten Europa kommt nicht nur von den Taufpaten – das Genre wurde nach dem Weltkrieg von französischen Filmhistorikern benannt und mit einem ersten Panorama versehen – sondern auch von den Filmemachern. Die europäischen und besonders die deutschen Flüchtlinge haben die ganzen Schrecken in die Filme eingebracht, an denen sie in Amerika mitarbeiten durften, und die Traumata der vorhergehenden Jahrzehnte dazu, von Caligari nach Hollywood.“ (Süddeutsche Zeitung, 10.3.2005).

Am Anfang des neuen Noir-Buches stehen Paul Schraders „Notizen zum Film Noir“ aus dem Jahr 1972, die Fritz Göttler oben erwähnt. Ihnen folgen ein Essay über „Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen in Orson Welles’ THE LADY FROM SHANGHAI“ von Jürgen Müller und Jörn Hetebrügge und eine Einführung von Douglas Keesey in den „Neo-Noir“. Damit ist der Leser/die Leserin beim Thema angekommen.

Die Filmauswahl ist weitgehend akzeptabel. Der Bogen spannt sich von Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) bis zu Nicolas Winding Refns DRIVE (2011). Etwa ein Drittel der Titel stammt aus den Jahren 1944 bis 1950, der klassischen Zeit des Film Noir. Aus Deutschland kommen nach dem CALIGARI noch Fritz Langs M (1931) und, deutsch-schweizerisch, ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG (1958) von Ladislao Vajda. Italien und Frankreich sind natürlich stärker vertreten. Zu den 100 ausgewählten Filmen gibt es auf jeweils vier bis acht Seiten die Reproduktion des Plakates, Cast und Credits, einen kurzen, aber präzise formulierten Text zum Film und viele Abbildungen. Zu den Autorinnen und Autoren gehören Ulrich von Berg, Ulrike Bergfeld, Philip Bühler, Paul Duncan, F. X. Feeney, Robert Fischer, Katja Kirste, Petra Lange-Bernd, Olaf Möller, Eckhard Pabst, Lars Penning, Stephan Reisner, Burkhard Röwekamp, Alain Silver, Markus Stauff, Rainer Vowe.

Übers Buch verteilt und jeweils einem Film zugeordnet sind 100 kleine Kästen mit speziellen Informationen über 86 Personen (37 Regisseure, 14 Autorinnen und Autoren, 20 Schauspieler, sechs Schauspielerinnen, fünf Kameramänner, ein Komponisten, ein Cutter) und 14 Themen. Sie sind nicht im Inhaltsverzeichnis erschlossen, sondern nur im Personenregister. Ich nenne die 14 Themen: Boxen im Film Noir, Detektivfilme, Dokumentarischer Noir, Einsamkeit / Melancholie / Entfremdung, Femme fatales, Filme des deutschen Expressionismus, Film-Psychopaten, Japanischer Noir, Journalismus und Film Noir, Liebende auf der Flucht, Neo-Noir, Noir-B-Movies, Polizisten im Noir, Die Schwarze Liste.

Um den Horizont der 100 ausgewählten Filme zu erweitern, listen die Herausgeber im Anhang weitere 900 Filme auf. Dass hier nur Langs METROPOLIS, nicht aber Siodmaks VORUNTERSUCHUNG oder Peter Lorres DER VERLORENE und kein Film von Dominik Graf genannt wird, zeigt, dass so eine 1000er-Liste wenig Sinn macht, wenn man ihr nicht ein erklärendes Fundament gibt.

Interessant ist ein Vergleich des Buches aus dem Taschen-Verlag mit dem Reclam-Band zum Film Noir aus der Genre-Reihe, erschienen 2008, herausgegeben von Norbert Grob. Dort werden insgesamt 71 Filme analysiert. Nur 24 davon finden sich auch im jetzt publizierten Buch. Andererseits sind einige klassische Noirs in den Reclam-Bänden „Kriminalfilm“ (18) und „Thriller“ (14) enthalten. So spürt man immer wieder, dass die Genregrenzen fließend sind. Es geht hier auch nicht um ein geschlossenes Ordnungssystem, sondern um Merkmale, um Orientierung, um inhaltliche und formale Verbindungen.

Und um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: „Film Noir“ aus dem Taschen Verlag ist vom Gewicht her das Gegenteil eines Taschenbuches. Man braucht eigentlich einen Rucksack, um es zu transportieren.

Titelfoto: Dorothy McGuire in THE SPIRAL STAIRCASE (1945) von Robert Siodmak.