Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Dezember 2009

Werner Sudendorf (Hg.):
Erich Kettelhut
Der Schatten des Architekten
Belleville, München 2009
484 S., 58 €
ISBN 978-3-936298-55-0

Werner Sudendorf (Hg.):
Erich Kettelhut.
Der Schatten des Architekten

Dieses Buch hat so spezielle Qualitäten, dass ich ausnahmsweise die Spielregel außer Kraft setze, keine Publikationen der Deutschen Kinemathek zum „Buch des Monats“ zu machen. Eine Fotokopie des Manuskripts der Kettelhut-Memoiren lag dreißig Jahre im Archiv der Kinemathek. Die Bedeutung für die Werkgeschichte des Films der Weimarer Republik war bekannt, aber es bedurfte einer großen Anstrengung, den Text in einer angemessenen Form zu edieren. Werner Sudendorf, der Leiter der Sammlungen, hat sich das zugemutet und damit gleichzeitig verschiedene Türen zu den Beständen seiner Abteilung geöffnet. 365 Abbildungen dokumentieren beeindruckende Archivalien: Zeichnungen, Plakate, Szenenbildentwürfe, Fotos. Dass alles im Original Farbige auch farbig abgebildet ist, gibt dem Buch eine zusätzliche Dimension des Reichtums und der Anschaulichkeit.

In einer editorischen Vorbemerkung schildert Sudendorf eher lakonisch seine Bearbeitungsschritte. Er hatte es mit einem Manuskript von insgesamt 1.400 Seiten zu tun, in dem Kettelhut sein Leben von der Geburt bis zum Jahr 1945 beschreibt. Mit rund 800 Seiten ist die Zeit der Weimarer Republik das Zentrum. Auf diese Periode konzentriert sich auch die Publikation, in der die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Erich Pommer in den Mittelpunkt gestellt wird. Kettelhuts oft etwas umständlichen Sprachduktus hat der Herausgeber vereinfacht. Nun ist es – wenn man die Filme jener Zeit in Erinnerung hat – wirklich ein Vergnügen, das Buch zu lesen.

Geschrieben wurde der Text in den Jahren 1973/74, fünf Jahre später starb der Autor 85-jährig. Sein Erinnerungsvermögen ist bewundernswert. Detailliert und akribisch schildert er die Abläufe im Produktionsprozess einiger der wichtigsten deutschen Filme. Auf 80 Seiten erfahren wir aus nächster Nähe, mit welcher Besessenheit Fritz Langs Gestaltungsideen beim NIBELUNGEN-Film (1923) handwerklich umgesetzt wurden, wie viel Material und Menschenkraft notwendig waren, um Siegfrieds Kampf mit dem Drachen Dramatik und visuelle Spannung zu verleihen. In unserem digitalen Zeitalter klingen manche Arbeitsschritte umständlich. Aber sie waren oft mit Erfindungen verbunden, ohne die sich bildliche Wirkungen damals nicht hätten herstellen lassen. Das Zusammenspiel zwischen Raum, Licht und Kamera hatte in den deutschen Studios Mitte der zwanziger Jahre Weltniveau. Das lässt sich auch an Kettelhuts Darstellung der METROPOLIS-Produktion nachvollziehen. Wie schon beim NIBELUNGEN-Film arbeitete Kettelhut mit dem älteren und verantwortlichen Architekten Otto Hunte, dem Baurealisator Karl Vollbrecht und der Kostümbildnerin Aenne Willkomm zusammen. Die Zukunftsvision auf verschiedenen Ebenen, mit der Oberstadt und den „Ewigen Gärten“ der Reichen, dem Moloch und der Herzmaschine als Zentrum der Arbeit und den dunklen Arbeiterkasernen in der Tiefe, war für die Architekten eine Herausforderung. Es wurde parallel in mehreren Ateliers gearbeitet, die Auseinandersetzungen zwischen dem perfektionsbesessenen Lang und dem eigensinnigen Hunte spitzten sich immer wieder zu. So übernahm Kettelhut eine spezielle Rolle, das Motto des Films variierend: „Mittler zwischen Lang und Hunte muss der Kettel sein.“ Und „Kettel“ beschreibt erstaunlich uneitel, wie ihm das gelungen ist.

DIE NIBELUNGEN und METROPOLIS sind natürlich die Kernstücke des Buches. Aber auch die 15 anderen, kürzeren Filmerinnerungen lesen sich wunderbar: zum Beispiel die erste Zusammenarbeit mit Lang bei DR. MABUSE, die Hilfeleistungen für Walter Ruttmann bei BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (wie man am besten die Kamera versteckt), die effektive Studionutzung bei Joe Mays ASPHALT und die technologischen Raffinessen für F.P.1 ANTWORTET NICHT (Regie: Karl Hartl).

Das Buch enthält zu Beginn ein Interview von Gerhard Lamprecht mit Erich Kettelhut aus den späten fünfziger Jahren, am Ende ein umfangreiches Werkverzeichnis mit vielen zusätzlichen Abbildungen und eine Filmografie von Erich Kettelhut und seiner späteren Frau Aenne Willkomm (mit 24 Kostümentwürfen). Es ist ein Schlüsselwerk zur deutschen Filmgeschichte, weil der Blick hinter die Kulissen anschaulich, sachlich und ohne überflüssige Anekdoten erfolgt. Nirgends hat man bisher mehr über den Erfindergeist und das Handwerk der deutschen Filmarchitektur der zwanziger Jahre lesen können. Also verneige ich mich vor dem Autor, danke dem Herausgeber, der dem Autor ein selbstloser Helfer war, und verbeuge mich wieder einmal vor dem Verleger Michael Farin, der immer wieder Bücher macht, an denen er nichts verdient. Außer unseren Respekt.