Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Februar 2017

Margit Tröhler, Jörg Schweinitz (Hg.)
Die Zeit des Bildes ist angebrochen!
Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. 1906–1929
Berlin, Alexander Verlag 2016
768 S., 34,90 €
ISBN 978-3-89581-409-9

Margit Tröhler, Jörg Schweinitz (Hg.):
Die Zeit des Bildes ist angebrochen!.
Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. 1906–1929

In Frankreich, einem Geburtsland des Films, wurde früh über die Möglichkeiten des neuen Mediums nachgedacht und geschrieben. Eine historische Anthologie mit Texten aus den Jahren 1906 bis 1929 haben Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz im Alexander Verlag herausgegeben. 60 Beiträge sind hier versammelt, in denen Intellektuelle, Schriftsteller, Regisseure und Filmkritiker auf höchst unterschiedliche Weise ihre Visionen zum Ausdruck bringen.

Frühe Texte über den Film und das Kino haben den Reiz, dass sie noch ambivalent sind, visionär oder skeptisch, hoffnungsvoll oder misstrauisch. Aber es dominieren die positiven Erwartungen. Sie machen neugierig, als noch nicht abzusehen ist, wo die Reise hingeht. Der Titel des Buches – „Die Zeit des Bildes ist angebrochen“ – zitiert den Regisseur Abel Gance (1889-1981) mit einem Text aus dem Jahr 1928, der schon 1912 gefragt hat: „Was ist der Kinematograph?“. Von Gance stammt der Film NAPOLEON (1927), der den Zuschauern erstmals die Möglichkeiten der Breitwand und der Dritten Dimension vor Augen führte.

Die sechzig Beiträge des Buches stammen von dem Romancier und Journalisten Louis Aragon, dem Filmkritiker Juan Arroy, dem Anwalt und Kinobetreiber Edmond Benoit-Lévy, dem Philosophen Henri Bergson, dem Dichter und Journalisten Riciotto Camudo (7), dem Schriftsteller Blaise Cendrars, dem Regisseur René Clair (2), dem Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau (2), der Schriftstellerin Colette (3), dem Autor und Regisseur Louis Delluc (6), dem Schriftsteller Fernand Divoire, der Regisseurin und Schriftstellerin Germaine Dulac (4), dem Physiker François Dussaud, dem Filmemacher und Schriftsteller Jean Epstein (2), dem Arzt und Kunsthistoriker Élie Faure, dem Regisseur Henri Fescourt, dem Regisseur Louis Feuillade (2), dem Regisseur Abel Gance (2), dem Schriftsteller Rémy de Gourmont, dem Maler und Graphiker Marcel Gromaire, der Sängerin und Schauspielerin Georgette Leblanc, dem Maler und Filmemacher Fernand Leger (2), dem Regisseur Marcel L’Herbier, dem Architekten Robert Mallet-Stevens, dem Schriftsteller und Kritiker Léon Moussinac (2), dem Naturwissenschaftler Felix Poli, dem Filmkritiker Paul Ramain, dem Schriftsteller und Philosophen Jules Romains, dem Maler und Designer Leopold Sturzwage, dem Psychophysiologen Édouard Toulouse, dem Regisseur Robert Vernay (2), dem Komponisten Émile Vuillermoz (3) und dem Fotografen Léon-Robert Demachy, der auch unter dem Pseudonym „Yhcam“ publizierte.

Der Zeitraum – 1906 bis 1929 – ist klug gewählt, er beginnt mit den ersten reflektierten Überlegungen zum Kino und endet mit dem Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Die ersten Jahre der bewegten Bilder auf dem Jahrmarkt und im Varieté sind hier ausgelassen. Es geht um die Legitimierung des Films in der Konkurrenz mit den anderen Künsten, nachdem die ersten ortsfesten Kinematographen-Theater eröffnet sind und das Label „Film d’Art“ von der Firma Pathé ins Spiel gebracht worden ist. Thematisiert wird der gesellschaftliche, erzieherische und künstlerische Nutzen der Kinematographie. Natürlich bringt der Erste Weltkrieg – auch im internationalen Austausch der Filme – unvorhersehbare Störungen, die aber relativ schnell überwunden werden. Die interessantesten Texte stammen aus den zwanziger Jahren. Der umfangreichste Beitrag dokumentiert eine „Sammlung von Traktaten“ von Jean Epstein aus dem Jahr 1921: „Bonjour cinéma“. Ich zitiere daraus eine Passage:

„Die Großaufnahme verändert das Drama durch den Eindruck der Nähe. Das Leiden ist in Reichweite. Wenn ich den Arm ausstrecke, berühre ich Dich, Intimität. Ich zähle die Wimpern dieses Leidens. Ich könnte den Geschmack seiner Tränen kosten. Noch nie hat sich ein Gesicht auf diese Weise über das meine gebeugt. Es bedrängt mich aus großer Nähe, und ich folge ihm Stirn an Stirn. Wir sind nicht einmal durch einen Lufthauch getrennt; ich verschlinge es. Es ist in mir wie ein Sakrament. Maximale Sinnesschärfe des Sehens.“ (S. 331). Auch viele andere Texte überraschen durch ihre Empathie und ihre Metaphern.

Rund 100 Abbildungen in guter Qualität ergänzen und konkretisieren die Texte. Beispielhaft ist wieder der Epstein-Text, der sich in seiner Illustrierung dem Original annähert.

Das Herausgeber-Duo Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz ist an der Universität Zürich für die Filmwissenschaft zuständig. Beide haben einschlägige Publikationen vorzu­weisen, Tröhler zum Beispiel „Offene Welten ohne Helden. Plurale Figurenkonstel­lationen im Film“, Schweinitz das Buch „Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914“. Sie haben neben einer gemeinsamen Einleitung jeweils einen umfangreichen individuellen Essay verfasst. Tröhler äußert sich zu einigen Topoi im französischen Diskurs zum Kino („Elixier und Relais des Geistes der Moderne“), bei Schweinitz geht es um filmtheoretische Diskurse in Frankreich und Deutschland („Berührungen paralleler Welten“).

Es gibt interessante Parallelen zwischen dem Buch „Die Zeit des Bildes ist angebrochen!“ und der amerikanischen Publikation „The Promise of Cinema. German Film Theory, 1907-1933““, herausgegeben von Anton Kaes, Nicholas Baer und Michael Cowan. Sie war mein Filmbuch des Monats Mai 2016 (the-promise-of-cinema). Auch hier handelte es sich um eine historische Anthologie, die allerdings stärker mit theoretischen Überlegungen verbunden war.

In beiden Fällen gibt es Projekt-Websites:

www.film.uzh.ch/zeit-des-bildes

www.thepromiseofcinema.com

Mehr zum Buch von Töhler und Schweinitz auf der Seite des Alexander Verlages: 377-Die_Zeit_des_Bildes_ist_angebrochen.html