Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Dezember 2021

Stefan Jung / Marcus Stiglegger (Hg.)
Berlin Visionen
Filmische Stadtbilder seit 1980
Berlin, Martin Schmitz Verlag 2021
370 S., 24,00 €
ISBN 978-3-927795-91-4

Stefan Jung / Marcus Stiglegger (Hg.):
Berlin Visionen.
Filmische Stadtbilder seit 1980

Wie wurde die Stadt Berlin in Spielfilmen, Dokumentarfilmen und Serien der vergangenen vierzig Jahre gezeigt? Zwanzig Texte vermitteln das breite Spektrum der Darstellung in ausgewählten Beispielen. Stefan Jung und Marcus Stiglegger haben den Band zur filmischen Topographie Berlins herausgegeben.

Ihre Einleitung beginnt mit einem Zitat aus dem Film CHRISTIANE F. – WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO (1981): „Überall nur Pisse und Kacke, man muss nur genau hinsehen – egal wie neu und großzügig von Weitem alles aussieht. (…) Und hier leb‘ ich, seit ich sechs bin. Ich hab‘ die Nase voll!“ Der Beschreibung von Ulrich Edels Film folgen Reflexionen über die filmische Darstellung des Raums und Hinweise zur Struktur des Buches.

„So kalt wie Eis – Das Berlin der 1980er“ heißt das erste Kapitel mit vier Texten. Michael Fleig analysiert den Film POSSESSION (1981) von Andrzej Zulawski: „Tote Orte, erzeugter Raum und groteske Körper“. – Adina Lauenburger fragt, ob SOLO SUNNY (1980) von Konrad Wolf wirklich ein Stadtfilm ist. „Um einen Berlin-Film handelt es sich angesichts der genauen Zeichnung seiner Milieus allemal.“ – Nicolai Bühnemann beschäftigt sich mit dem Film KALT WIE EIS (1981) von Carl Schenkel: „Leben und Sterben in der Mauerstadt“. – Bei Marcus Stiglegger geht es um Eckhart Schmidts ALPHA CITY (1985): „Ich habe seit über zwei Jahren kein Tageslicht gesehen“. Wir sind in der Mitte der Stadt angekommen.

Zweites Kapitel, „Transfer/räume“, fünf Texte. Sebastian Selig beschreibt Ausblicke vom Dach der West-Berliner Schneekugel: das Europa-Center im Kino, beginnend mit den Spionagefilmen THE QUILLER MEMORANDUM (1966) von Michael Anderson, FUNERAL IN BERLIN (1967) von Guy Hamilton, A DANDY IN ASPIC (1968) von Anthony Mann und Laurence Harvey. Er erinnert an den Royal Palast als Sehnsuchtsort und an Filme der 80er Jahre, in denen das Europa-Center präsent war. – Heiko Nemitz befasst sich mit dem Film HERR LEHMANN (2003) von Leander Haußmann nach dem Roman von Sven Regener: „Vom Ende des topographischen Sonderraums Kreuzberg“. – Maurice Lahde flaniert mit uns durch das Nachwende-berlin in Pia Frankenbergs Film NIE WIEDER SCHLAFEN (1992). – Marcus Stiglegger und Stefan Jung sehen Berlin als Sehnsuchtsort im Kino der 1990er, speziell in LOLA RENNT von Tom Tykwer und ANGEL EXPRESS von RP Kahl. – Daniel Kothenschulte würdigt den Film DER SCHÖNE TAG (2001) von Thomas Arslan, in dem der Migrationshintergrund eine Rolle spielt.

Drittes Kapitel, „Berlin Calling – Sound & Vision“, zwei Texte. – Frank Castenholz äußert sich zu zahlreichen Filmen über Westberlin zwischen Post Punk und Retro-Exploitation: „Kaputniks auf Speed“. – Christian Hißnauer richtet seinen Blick auf BERLIN CALLING (2008) von Hannes Stöhr. In beiden Beiträgen geht es um Atmosphäre, Musik, Ton und das Unsichtbare im Sichtbaren.

Viertes Kapitel, „Unknown Identy“, vier Texte. – Andreas Rauscher untersucht Berliner Thriller-Passionen und ungewisse Identitäten. Seine wichtigsten Filmbespiele stammen von David Leitch (ATOMIC BLONDE, 2017), Jaume Collet-Serra (UNKNOWN, 2011), Paul Greengrass (THE BOURNE SUPREMACY, 2004) und Brian De Palma (PASSION, 2012). – Sebastian Seidler verortet die Hauntology in Christian Petzolds GESPENSTER 2005) am Potsdamer Platz. – Johannes F. Sievert befasst sich mit der herausragenden Serie IM ANGESICHT DES VERBRECHENS (2010) von Dominik Graf: „Topographien der Seelen“. Jochen Werner wundert sich über die seltsame Abwesenheit Berlins in den Filmen von Til Schweiger.

Fünftes Kapitel, „Berlin (re)konstruieren“, fünf Texte. Sofia Glasl schildert Cynthia Beatts Umschreibung der Berliner Mauer in ihren Essayfilmen CYCLING THE FRAME (1988) und THE INVISIBLE FRAME (2009). – Christoph Müller beschreibt den Film VICTORIA (2015) von Sebastian Schipper, der uns in einer 140-Minuten-Einstellung durch Berlin bei Tag und Nacht führt. – Lothar Mikos lobt die Serie BABYLON BERLIN (2017ff) als Rekonstruktion des historischen Berlin-Bildes aus dem Geist der Filmgeschichte. – Lioba Schlösser sieht den Film SUSPIRIA (2018) von Luca Guadagninos als politischen sozialen Spiegel des Deutschen Herbstes. – Marcus S. Kleiner schließt den Band mit einem Text über die Serie 4 BLOCKS (2017-19) ab: „Die Stadt, die Gewalt und der Tod“.

Es ist erstaunlich, wie sich die zwanzig Texte zu einem Kosmos der Berlin-Visionen fügen. Natürlich gibt es Verweise auf andere Filme, die thematisch oder ästhetisch ähnlich realisiert wurden, aber wichtig sind die präzisen Beschreibungen, die sich auf die jeweils ausgewählten Filme konzentrieren und die Stadträume in eine Beziehung zur Handlung des Films setzen. Soziale Unterschiede, architektonische Besonderheiten und historische Entwicklungen werden nicht außer Acht gelassen. Das Ost-West-Verhältnis spielt eine wichtige Rolle.

Jörg Buttgereit, Gregor Erler, Pia Frankenberg, Christoph Hoch-häusler, RP Kahl, Heiner Mühlenbrock, Eckhart Schmidt, Wieland Speck und Rudolf Thome wurden drei Fragen gestellt: 1. Welches Berlin sehen wir in Ihren Filmen? Wie sieht die Stadt darin aus bzw. was von der Stadt wird explizit sichtbar gemacht? 2. Welche Orte in Berlin – die man möglicherweise auch in Ihren Filmen sehen kann – sind für Sie „typisch Berlin“ bzw. welche Berliner Orte haben für Sie persönlich eine ganz besondere Bedeutung und wie wird das sichtbar? 3. Nennen Sie einen für Sie gelungenen und/oder nicht gelungenen Berlin-Film und begründen es bitte kurz hinsichtlich der Topographie. Die Antworten zu den am besten gelungenen Filmen sind: ONE, TWO, THREE von Billy Wilder, SOMMER VORM BALKON von Andreas Dresen und die Serie 4 BLOCKS (Pia Frankenberg), DER LETZTE MANN von Friedrich Wilhelm Murnau (Eckhart Schmidt), MEN-SCHEN AM SONNTAG von Robert Siodmak und Edgar Ulmer (Rudolf Thome), VICTORIA von Sebastian Schipper (Gregor Erler), FLUG DURCH DIE NACHT von Ilona Baltrusch und DIE ENDLOSE NACHT von Will Tremper (Heiner Mühlenbrock), DEFA-Filme wie EINE BERLINER ROMANZE, JAHRGANG 45 oder SABINE KLEIST, 7 JAHRE (Christoph Hochhäusler), COMING OUT von Heiner Carow (Wieland Speck), POSSESSION von Andrzej Zulawski und die Serie DREI DAMEN VOM GRILL (Jörg Buttgereit), SOLO SUNNY von Konrad Wolf und ALPHA CITY von Eckhart Schmidt (RP Kahl). Die Begründungen sind sehr aufschlussreich.

88 Abbildungen ergänzen die Texte und zeigen Schauplätze, aber auch handelnde Personen in dramatischen Szenen. Eine Auflistung von 93 Ortspunkten im Anhang lädt zu einer Stadtrundfahrt ein.

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