Aufbruch ins Jetzt

Vorwort

I. Das Oberhausener Manifest. „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Am 28. Februar 1962 erklärten 26 Filmemacher während der Westdeutschen Kurzfilmtage ihren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Das „Oberhausener Manifest“ gilt als Initialzündung für den Aufbruch einer jungen Generation, die sich durch die französische Nouvelle Vague und das englische Free Cinema ermutigt fühlte, für radikale Veränderungen in der Filmproduktion die Verantwortung zu übernehmen. Inzwischen sind fast sechzig Jahre vergangen. An den Veränderungen waren nicht nur die Unterzeichner des Manifests beteiligt, sondern viele Filmschaffende in allen Gewerken dieses Mediums, vor und hinter der Kamera, mit sichtbarem, hörbarem, künstlerischem und finanziellem Anteil an den Innovationen.

II. Heute (1) Wie erleben sie – wenn sie noch am Leben sind – das Jetzt? Was haben sie in den vergangenen Jahrzehnten zu den Veränderungen beigetragen? Gehörten sie, aufs Ganze gesehen, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern? Der Fotograf Beat Presser hat 56 Teilhaber des Neuen Deutschen Films aus den verschiedensten Bereichen befragt und fotografiert. Wie sehen sie das, was in all’ den Jahren passiert ist? Das wird uns in diesem Buch präsentiert. Das Vorwort ist ein Blick zurück in die Filmgeschichte mit ein paar faktografischen Reminiszenzen.

III. Filmpolitik. Nach dem Oberhausener Manifest gab es zahlreiche politische Entscheidungen, die dem Neuen Deutschen Film zugutekamen. 1965 wurde das „Kuratorium junger deutscher Film“ gegründet, das zunächst mit einer Zuwendung des Bundes und später mit Mitteln der Länder Erstlingsfilme mit bedingt rückzahlbaren Darlehen förderte. Frühe Nutznießer waren Alexander Kluge, Edgar Reitz, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Ula Stöckl. Im November 1966 vereinten sich junge Produzenten zu einer „Arbeitsgemeinschaft“, der bald 60 Mitglieder angehörten, die ihre Interessen gemeinsam vertreten konnten. Im Januar 1968 trat das erste „Filmförderungsgesetz“ in Kraft, das auf der Basis einer Kinoabgabe für die Basisfinanzierung neuer Produktionen sorgte. Im April 1971 wurde in München nach dem Vorbild des Verlags der Autoren der „Filmverlag der Autoren“ gegründet. Zu den ersten Gesellschaftern gehörten Hark Bohm, Michael Fengler, Veith von Fürstenberg, Hans W. Geißendörfer, Peter Lilienthal und Wim Wenders. Die erste Produktion des Filmverlags der Autoren war Furchtlose Flieger von Martin Müller und Veith von Fürstenberg. Selbstorganisation und filmpolitische Unterstützung haben den Aufbruch abgesichert.

IV. Ausbildung. Als das Oberhausener Manifest verkündet wurde, gab es noch keine spezielle Filmausbildungsstätte in der Bundes-republik. Den Beginn machte am 1. Oktober 1962 die Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo die Dozenten Alexander Kluge, Edgar Reitz und Detten Schleiermacher mit anfangs fünf Filmstudenten eine eigene Klasse einrichteten, die schließlich zum „Institut für Filmgestaltung e.V.“ wurde und bis 1966 bestand. Absolventinnen waren Claudia von Alemann, Jeanine Meerapfel und Ula Stöckl, die sich gern an die Zeit erinnern. Im September 1966 wurde die „Deutsche Film- und Fernseh-akademie Berlin“ gegründet, sie existiert bis heute. Zu den ersten Studentinnen gehörte Helke Sander. Ein Jahr später eröffnete in München die „Hochschule für Fernsehen und Film“; Wim Wenders war ein Student des Jahrgangs A.

Zur Filmregie kam man vor der Gründung der Filmhochschulen auf unterschied­liche Weise, zumeist durch einen Quereinstieg. Hier ein paar Beispiele: Alexander Kluge war Rechtsanwalt, verfasste literari-sche Texte und assistierte durch Vermittlung von Adorno Fritz Lang beim Indischen Grabmal. Er drehte zuerst den Kurzfilm Brutalität in Stein (1961). Sein erster Spielfilm mit dem symbolischen Titel Abschied von gestern (1966) ist ein wegweisendes Werk. – Edgar Reitz begann ein Studium, gründete eine Studiobühne, assistierte als Dramaturg, Kameramann und Cutter bei verschiedenen Filmfirmen, drehte ab 1958 Kurz- und Industriefilme und realisierte mit Mahlzeiten 1966 seinen ersten Spielfilm. – Reinhard Hauff brach sein Studium ab, hatte seine Lehrzeit als Assistent bei Michael Pfleghar im Unterhaltungsbereich der Bavaria, wechselte 1969 zum Dokumentarfilm und drehte 1970 seinen ersten Kinofilm: Mathias Kneißl; zu den Darsteller/innen gehörten Eva Mattes, Hanna Schygulla und Rainer Werner Fassbinder. – Bernhard Sinkel, ausgebildeter Jurist, leitete Anfang der 70er Jahre das Archiv des Spiegel, gründete mit Alf Brustellin, Edgar Reitz, Ula Stöckl, Nikos Perakis und Alexander Kluge die „Unabhängige Licht-spiel-Manufaktur“ (U.L.M.) und drehte mit Lina Carstens die Komödie Lina Braake oder die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat, uraufgeführt beim Forum der Berlinale 1975. – Rudolf Thome studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte, schrieb ab 1962 Filmkritiken für die Süddeutsche Zeitung, arbeitete ab 1966 als Kreditsachbearbeiter bei einer Bausparkasse und drehte 1968 seinen ersten Spielfilm: Detektive. Zu den wichtigsten Pflichten eines Regisseurs gehört der sparsame Umgang mit Geld. Auch Peter Lilien-thal war nach dem Abitur drei Jahre lang als Bankangestellter tätig, bevor er an der Hochschule der Künste in Berlin studierte und in die Film- und Fernsehwelt wechselte.

V. Frauen. Zu den 26 Unterzeichnern des Oberhausener Manifests gehörte keine Frau. Dennoch hatten Frauen als Regisseurinnen und in den verschiedenen Gewerken einen hohen Anteil an der Entwicklung des Neuen Deutschen Films. Als Regis­seurinnen sind vor allem Claudia von Alemann, Jutta Brückner, Jeanine Meerapfel Elfi Mikesch, Ulrike Ottinger, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckl und Margarethe von Trotta von großer Bedeutung. Sie haben selbstbestimmt um Inhalte und Formen ihrer Filme gekämpft, mussten sich in einer männerdominierten Branche behaupten. Fünf der Genannten haben eine Filmhochschule absolviert. Jutta Brückner hat erst in Politik-wissenschaft promo­viert, bevor sie über das Drehbuchschreiben zur Regie kam. Nach zwei Dokumentarfilmen realisierte sie 1980 ihren ersten Spielfilm: Hungerjahre. Elfi Mikesch und Ulrike Ottinger wurden als Fotografinnen ausgebildet, ihre späteren Filme – dokumen-tarisch wie fiktiv – sind eigenwillig in der Bildsprache. Ohne sie wäre der Neue Deutsche Film sehr viel ärmer. Helma Sanders-Brahms war ab 1965 Fernsehansagerin beim WDR, hospitierte bei Corbucci und Pasolini, drehte 1969 ihren ersten Kurzfilm, Angelika Urban, Verkäuferin, verlobt, und 1974 ihren ersten Kinofilm: Unter dem Pflaster ist der Strand. Margarethe von Trotta war zunächst als Darstellerin im Neuen Deutschen Film präsent, bei Herbert Achternbusch, Rainer Werner Fassbinder, Reinhard Hauff, Klaus Lemke, Volker Schlöndorff. Sie wurde Co-Autorin von Volker Schlöndorff, dann Co-Regisseurin und realisierte mit Das zweite Erwachen der Christa Klages (1977) ihren ersten eigenen Film.

Es gibt Gewerke, die sich ziemlich fest in Frauenhand befinden (Schnitt, Kostüm) und solche, die dort sehr gut aufgehoben sind (Kamera, Ausstattung, Produktion). Als Darstellerinnen von Haupt- und Nebenrollen (nicht eigentlich ein „Gewerk“) sind Frauen natürlich aus der Filmszene nicht wegzudenken. Man kann bei Irm Hermann, Eva Mattes und Hanny Schygulla durchaus von „Stars“ in Fassbinder-Filmen sprechen. Und ohne Angela Winkler wären Jagdszenen aus Niederbayern oder Die verlorene Ehre der Katharina Blum ganz andere Filme.

1979 haben sich über 80 „Filmarbeiterinnen“ auch mit einem eigenen „Manifest“ zu Wort gemeldet. Sie forderten damals 50 % aller Mittel für Filme, aller Arbeits- und Ausbildungsplätze, aller Gremiensitze. Unterzeichnet haben auch Jutta Brückner, Erika Gregor, Jeanine Meerapfel, Elfi Mikesch, Ulrike Ottinger, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms und Ula Stöckl. Vierzig Jahre später ist die Quotenfrage noch immer aktuell.

VI. Themen. Stilistisch und thematisch ging der Neue Deutsche Film natürlich eigene Wege. Inspirationen kamen von der französischen Nouvelle Vague und auch vom britischen Realismus. Es wurden andere Geschichten erzählt, und wenn es um die deutsche Geschichte ging, wurde sie anders erzählt. Beispielhaft sind dafür Abschied von gestern von Alexander Kluge, Die Ehe der Maria Braun und Berlin Alexander-platz von Rainer Werner Fassbinder, Hungerjahre von Jutta Brückner. In die Geschichten fließen persönliche Erfahrungen einer Generation ein, die unter den Kriegsfolgen zu leiden hatte und Fragen nach der Zukunft stellt. Die Suche nach einer eigenen Identität wird ein wich-tiges Thema, zum Beispiel in Neun Leben hat die Katze von Ula Stöckl, Deutschland, bleiche Mutter von Helma Sanders-Brahms oder Im Lauf der Zeit von Wim Wenders. Sexualität, auch Homosexualität, wird nicht mit Dirndlkleid und Lederhose verknüpft, sondern mit neuen Erzählweisen, die weit entfernt vom Voyeurismus sind. Rebellen in Filmen von Roland Klick (Deadlock) oder Klaus Lemke (Rocker) erleben Niederlagen, stehen wieder auf und suchen weiter nach ihrem Platz in der Welt. Und wenn sich ein Thema nicht fiktionalisieren lässt, kann es vielleicht dokumentarisch gezeigt werden. Diese Form gewinnt in den 60er Jahren – auch im Zusammenhang mit der Studentenbewegung – zunehmend an Bedeutung. Es sei hier erinnert an Herbst der Gammler von Peter Fleischmann, Brecht die Macht der Manipulateure von Helke Sander, Land des Schweigens und der Dunkelheit von Werner Herzog, Tue recht und scheue niemand von Jutta Brückner, Der 24. Stock von Rosa von Praunheim, Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film von Hellmuth Costard und das Gemeinschaftsprojekt Deutschland im Herbst.

VII. Festivals. Als das Oberhausener Manifest unterzeichnet wurde, gab es nur wenige Filmfestivals in der Bundesrepublik. Das älteste, die Berlinale, wurde 1951 gegründet. Ihr erster Leiter, Alfred Bauer, war bis 1975 im Amt. 1970 musste er erleben, dass der Wettbewerb abgebro-chen wurde, weil sich die Jury über den Film o.k. von Michael Verhoe-ven zerstritt. 1977 übernahm Wolf Donner die Berlinale-Leitung und verlegte das Festival in den Winter, 1980 folgte Moritz de Hadeln als Direktor, 2001 Dieter Kosslick (bis 2019). Der Neue Deutsche Film war im Wettbewerb sehr präsent. 1971, im zwanzigsten Jahr der Berlinale, wurde auf Initiative von Erika und Ulrich Gregor das „Internationale Forum des Jungen Films“ gegründet. Dort erlebten zahlreiche Werke des Neuen Deutschen Films ihre Premiere.

In Mannheim gab es seit 1952 die „Kultur- und Dokumentarfilmwoche“, die ab 1961 als „Internationale Mannheimer Filmwoche“ vor allem das europäische Autorenkino im Blick hatte und zahlreiche Neue Deutsche Filme präsentierte. In Oberhausen rief der Volkshochschuldirektor Hilmar Hoffmann 1954 die „West­deutschen Kurzfilmtage“ ins Leben, die 1962 auch der Verkündungsort für das „Oberhausener Manifest“ waren.

Zum wichtigsten Treffpunkt für die Akteure des Neuen Deutschen Films wurden die Filmtage in der fränkischen Stadt Hof, die 1967 Heinz Badewitz gegründet hat. „Home of Film“ nannte Wim Wenders später den Schauplatz. Man traf sich dort Ende Oktober, zum Programm gehörte ein Fußballspiel der Filmemacher gegen den Ortsverein.

1973 fand in Berlin das „Erste Internationale Frauenfilm-Seminar“ statt, veranstaltet im Kino Arsenal der „Freunde der Deutschen Kinemathek“. Unter Leitung von Claudia von Alemann und Helke Sander wurden neuere Filme zur Situation der Frau analysiert.

Nach vielen Querelen um ein Münchner Filmfest organisierten die westdeutschen Filmemacher ihr eigenes Festival im September 1979 in Hamburg, das Reinhard Hauff koordinierte. Es wurde, 17 Jahre nach dem Oberhausener Manifest, „eine Art Bilanz“ gezogen, der Kernsatz der „Hamburger Erklärung“ hieß: „Die Stärke des deutschen Films ist seine Vielfalt“. Unterzeichnet haben über 60 Filme­macher/innen, darunter Hark Bohm, Rainer Werner Fassbinder, Peter Fleischmann, Hans W. Geißendörfer, Reinhard Hauff, Werner Herzog, Alexander Kluge, Thomas Mauch, Jeanine Meerapfel, Rosa von Praunheim, Edgar Reitz, Helma Sanders-Brahms, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Michael Verhoeven und Wim Wenders.

Das erste Münchner Filmfest fand im Juni 1983 statt. Das war bereits ein Jahr nach dem Ende des Aufbruchs und dem Tod von Rainer Werner Fassbinder.

Die drei bedeutendsten internationalen Filmfestspiele finden in Cannes, Berlin und Venedig statt. Wer dort eine Goldene Palme, einen Goldenen Bären oder einen Goldenen Löwen gewinnt, wird weltweit wahrgenommen. Das gelang in Cannes Volker Schlöndorff 1979 mit Die Blechtrommel und 1984 Wim Wenders mit Paris, Texas, in Berlin Peter Lilienthal 1979 mit David, Rainer Werner Fassbinder 1982 mit Die Sehnsucht der Veronika Voss und Reinhard Hauff 1986 mit Stammheim, in Venedig Alexander Kluge 1968 mit Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, Margarethe von Trotta 1981 mit Die bleierne Zeit, Wim Wenders 1982 mit Im Lauf der Zeit und Alexander Kluge im gleichen Jahr für sein Lebenswerk.

VIII. Filmpreise. Der Deutsche Filmpreis (früher „Bundesfilmpreis“) wird seit 1951 in verschiede­nen Kategorien für künstlerische Leistungen vergeben. Die höchste Auszeich­nung ist das „Filmband in Gold“ (heute: die Goldene „Lola“). Der erste Triumph für den Jungen Deutschen Film fand 1966 statt: Volker Schlöndorff erhielt Filmbänder in Gold für Dreh-buch und Regie seines Debütfilms Der junge Törless. Im darauffol-genden Jahr wurde Alexander Kluge mit Filmbändern in Gold für Herstellung und Regie des Films Abschied von gestern ausgezeichnet, seine Schwester Alexandra wurde beste Hauptdarstellerin. In den folgenden Jahren wächst der Anteil des Neuen Deutschen Films an Auszeichnungen in allen Kategorien.

Mit dem Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises wurden Ulrich Gregor (2003), Mario Adorf (2004), Reinhard Hauff (2005), Alexander Kluge (2008), Michael Ballhaus (2012), Barbara Baum (2015), Hark Bohm (2018) und Margarethe von Trotta (2019) ausgezeichnet. Einige unserer Filmemacher/innen dürfen noch auf ihn hoffen.

Als höchste internationale Auszeichnung gilt der Oscar, der in jedem Jahr von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences verliehen wird. Es gibt eine eigene Kategorie für den besten fremdsprachigen Film. Als erster deutscher Film wurde 1980 Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff in dieser Kategorie mit einem Oscar ausgezeichnet.

IX. Akademien. Die Berliner Akademie der Künste, königlich-preußisch gegründet 1696, neu institutionalisiert 1954, bekam 1984 eine Sektion für Film- und Medienkunst. Ihr erster Direktor war Peter Lilienthal. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Ulrich Gregor, Reinhard Hauff, Edgar Reitz, Helke Sander, Volker Schlöndorff, Marga­rethe von Trotta und Wim Wenders. Alexander Kluge ist Mitglied der Sektion Literatur.

Auch die Bayerische Akademie der Schönen Künste hat seit 2010 eine Sektion Film- und Medienkunst. Ihr erster Direktor war Edgar Reitz, sein Nachfolger wurde 2015 Bernhard Sinkel.

Seit 2003 gibt es die Deutsche Filmakademie mit Sitz in Berlin. Seit 2005 wählen ihre inzwischen fast 2.000 Mitglieder nach vorheriger Nominierung die Preisträger des „Deutschen Filmpreises“ in allen Kategorien. Ehrenmitglieder der Deutschen Filmakademie sind u.a. Barbara Baum, Hark Bohm, Reinhard Hauff, Roland Klick, Alexander Kluge und Edgar Reitz.

X. Internationalität. Die meisten Akteure des Neuen Deutschen Films stammen aus der Bundes­republik, leben und arbeiteten hier. Aber man kann den Horizont leicht erweitern. Peter Lilienthal, geboren in Berlin, emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach Uruguay, kehrte 1956 mit einem Stipendium nach Deutschland zurück, wurde beim Südwestfunk in Baden-Baden für Regie und Produktion ausgebildet und drehte seinen ersten Kinofilm 1969: Malatesta. Seine Filme sind thematisch von Internationalität geprägt. – Jeanine Meerapfel, geboren in Buenos Aires, wurde in Argentinien zur Journalistin ausgebildet, kam 1964 nach Deutschland, studierte am Institut für Filmgestaltung in Ulm, arbeitete als Filmkritikerin und drehte 1981 ihren ersten Spielfilm: Malou. In ihren Filmen spielt die Suche nach kulturellen Wurzeln eine große Rolle. – Volker Schlöndorff, geboren in Wiesbaden, machte sein Abitur in Paris, studierte dort Volkswirtschaft und Politische Wissen-schaft (mit Staatsexamen), besuchte kurz die Filmhochschule IDHEC und assistierte bei Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais. Sein erster Spielfilm war 1965 die Robert Musil-Verfilmung Der junge Törless. Er hat in Deutschland, Frankreich und den USA Filme realisiert. – Wim Wenders, Absolvent der Münch­ner HFF, hatte Ende der 70er Jahre die Hoffnung, mit Hilfe von Francis Ford Coppola in Hollywood Karriere zu machen, aber viele Konflikte haben das verhindert. Seine Filme führten uns thematisch Bis ans Ende der Welt und erzählen Geschichten In weiter Ferne, so nah!. – Werner Herzog hat sich autodidaktisch in das Filmmetier eingearbeitet. Sein erster Spielfilm, Lebens­zeichen, spielt auf einer griechischen Insel während des Weltkriegs, wo die Hauptfigur den Verstand verliert. Hinter der Kamera stand Thomas Mauch, im Schneideraum saß Beate Mainka-Jellinghaus. Herzog hat in aller Welt gedreht, vor allem in Lateinamerika. Insbesondere zu erwähnen ist dabei Walter Saxer als Produktionsleiter. An die vielen dort ansässigen namenlosen Mitarbeiter, die vor Ort hervorragende Arbeit geleistet und dem Neuen Deutschen Film in Lateinamerika insgesamt zur Geltung verholfen haben, sei an dieser Stelle auch gedacht.

XI. RWF. Er war eine Schlüsselfigur des Neuen Deutschen Films. Die Bilanz seines Schaffensrausches von 1968 bis 1982: 24 Kinofilme, 15 gelegentlich mehrteilige Fernsehspiele und -filme, zehn Theaterstücke. Er war Regisseur, Autor, Produ­zent, oft auch Haupt- oder Nebendar-steller und Cutter (unter dem Pseudonym Franz Walsch). Wenn Alexander Kluge der Kopf des Neuen Deutschen Films war, wäre Rainer Werner Fassbinder der Bauch. Bei der Trauerfeier auf dem Münchner Südfriedhof fragte Hanna Schygulla: „Wer wird nun all die Geschichten erzählen?“ Harry Baer, Michael Ballhaus, Peter Berling, Michael Fengler, Irm Hermann, Eva Mattes, Hanna Schygulla, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben, rufen in diesem Buch zur Erinnerung an Rainer Werner Fassbinder auf.

XII. Fernsehen. Als das Oberhausener Manifest 1962 verkündet wurde, gab es in der Bundes­republik nur ein Fernsehprogramm: das öffentlich-rechtliche „Erste Deutsche Fernsehen“. Das „Zweite Deutsche Fernsehen“ nahm mit Verzögerung seinen Betrieb auf, weil zunächst das sogenannte „Adenauer-Fernsehen“ verhindert werden musste, um eine juristisch abgesicherte Sendeanstalt zu etablieren. Offizieller Sendebeginn des ZDF war der 1. April 1963. Ab 1964 gingen die Dritten Programme der Länder auf Sendung, die einen speziellen Kulturauftrag hatten. Die Akteure des Neuen Deutschen Films haben fast alle eng mit dem Fernsehen zusammengearbeitet. Vor allem „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF und die Dritten Programme haben den Nachwuchs gefördert, aber auch die Fernsehredaktionen der großen Sender WDR, BR, NDR waren für eine Zusammenarbeit aufgeschlos-sen. 1974 regelt erstmals ein Film-Fernseh-Abkom­men die Kooperation zwischen Kino und Fernsehen. Sie ist in der Bundes­republik noch heute so eng wie in kaum einem anderen europäischen Land. Die Gründung der Privatsender RTL, SAT1 und PRO7 1984 hatte für den Neuen Deutschen Film keine Bedeutung mehr.

XIII. Gewerke. Einer/eine führt Regie. Oft hat er/sie auch das Dreh-buch geschrieben. Neun Regisseurinnen und 19 Regisseure hat Beat Presser fotografiert und interviewt. Für die Bildsprache sind der Kameramann/die Kamerafrau verantwortlich, die von einer Assistenz unterstützt werden. Drei Kameramänner (Michael Ballhaus, Jürgen Jürges, Thomas Mauch) und zwei Kamerafrauen (Elfi Mikesch und Ulrike Ottinger, die auch Regie führen) sind im Buch präsent. Der Ton wird synchron aufgenommen (dafür war u.a. Martin Müller zuständig). Gedreht wird im Studio und außen. Vor der Kamera agieren Schau-spielerinnen und Schauspieler, Beat Presser hat vier Frauen und acht Männer ausgewählt: Irm Hermann, Eva Mattes, Hanna Schygulla, Angela Winkler, Mario Adorf, Harry Baer, Christian Doermer, Burkhard Driest, Roger Fritz, Bruno Ganz, Tilo Prückner und den Musikanten Bruno S.. Für die Realisierung der Räume gibt es Film-architekten und Ausstatter (Beispiel: Ulrich Bergfelder), für die Beklei-dung der Darstellerinnen und Darsteller Kostümbilderinnen (Barbara Baum, Gisela Storch-Pestalozza). Und damit bei der Montage die Anschlüsse stimmen, muss jemand für Script/Continuity sorgen; früher nannte man den Beruf „Script Girl“. Im Buch repräsentiert diese Tätigkeit Anja S. Zäringer, die häufig auch Produktionsleiterin war und über ein hervorragendes Gedächtnis verfügt. Sie hat für Werner Herzog, Herbert Achternbusch, Eckhart Schmidt und Ulrike Ottinger gearbeitet. Im Schneideraum sitzen vorwiegend Frauen (Beispiel: Beate Mainka-Jellinghaus). Als noch nicht digitales Material am Computer montiert wurde, war die Tätigkeit am Schneidetisch relativ mühselig, das Berufsbild hat sich inzwischen sehr verändert. Wenn der Film montiert ist, geht ein Komponist (Beispiel: Jürgen Knieper) an die Arbeit; wenn vorhandene Musik verwendet wird, müssen die Reche geklärt werden. Organisatorisch und finanziell wird jedes Filmprojekt von Produzen-tinnen und/oder Produzenten begleitet. Beim Neuen Deutschen Film lagen Regie und Produktion oft in einer Hand, für die Abwicklung wurden untergeordnete „Produktionsleiter/innen“ engagiert. Aber vor allem Peter Berling, Michael Fengler, Molly von Fürstenberg (mit der Firma „Olga Film“) und Joachim von Vietinghoff haben sich mit Produktionen des Neuen Deutschen Films große Verdienste erworben. Filmarbeit ist Teamarbeit. Auch das macht dieses Buch deutlich.

XIV. Filmkritik. Die Filmkritik in der Bundesrepublik hat den Auf-bruch des Neuen Deutschen Films mit Aufmerksamkeit und Ermutigung begleitet. Das betrifft vor allem Tages- und Wochenzeitungen. Seriöse Filmzeitschriften haben in diesem Land einen schweren Stand. Immerhin gab es von 1957 bis 1984 die von Enno Patalas gegründete Zeitschrift Filmkritik, die den Neuen Deutschen Film auf hohem Niveau unterstützt hat. Paradigmatisch war hier der Streit um die politische und die ästhetische Linke Mitte der 60er Jahre. Ab 1963 hat Hans-Dieter Roos die Zeitschrift film herausgegeben, die 1965 vom Friedrich Verlag übernommen wurde und bis in die 70er Jahre existierte. In jedem Heft wurde ein Drehbuch oder ein Filmprotokoll publiziert, darunter befanden sich zahlreiche Titel des Neuen Deutschen Films. Auch die Filmzeitschriften der evangelischen und katholischen Kirche haben den Neuen Deutschen Film kritisch begleitet. Aus einer speziellen Perspektive tat dies die Zeitschrift Frauen und Film, die 1974 von Helke Sander gegründet wurde. Sie existiert unter veränderter Herausgeber­schaft bis heute und publiziert ab und an ein Heft zu einem wichtigen Thema.

XV. Gemeinschaftsprojekt. Ein kollektiver Autorenfilm dokumen-tiert im Herbst 1977 die politische Stimmung im Land: Schleyer-Ent-führung, Mogadischu, Terroristen-Tod in Stammheim. In Spielszenen und dokumentarischen Beobachtungen werden Gewalt und Gegen­gewalt, Angst und Sprachlosigkeit zum Ausdruck gebracht. Deutsch-land im Herbst war eine Gemeinschaftsarbeit von Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder, Alf Brustellin, Bern-hard Sinkel, Katja Rupé, Hans Peter Cloos, Edgar Reitz, Maximiliane Mainka und Peter Schubert. Hinter den Kameras standen u.a. Michael Ballhaus und Jürgen Jürges, im Schneideraum saß u.a. Beate Mainka-Jellinghaus, Mario Adorf und Angela Winkler gehörten zum Dar-stellerensemble. Uraufgeführt bei der Berlinale 1978. Zwei nachfol-gende Kollektivfilme, Der Kandidat (1980) und Krieg und Frieden (1982) fanden nur geringe Resonanz.

XVI. Drüben. Und wie blickte man in der DDR auf den Neuen Deutschen Film? Ein halbes Jahr vor der Verkündung des Oberhau-sener Manifests wurde zwischen der Bundes­republik und der DDR die Mauer errichtet. Sie sollte den sozialistischen Staat vor dem kapitalis-tischen Nachbarstaat schützen. Die Filmschaffenden der DDR erhoff-ten sich mehr Freiheiten. Aber sie wurden von der SED enttäuscht, die in den Jahren 1965/66 einen Aufbruch verhinderte und fast eine ganze Jahres­produktion zu „Verbotsfilmen“ machte. Auch die wichtigsten DEFA-Regisseure wie Frank Beyer, Heiner Carow, Egon Günther, Gerhard Klein, Kurt Maetzig, Frank Vogel, Herrmann Zschoche waren davon betroffen. Nicht einmal Konrad Wolf, einflussreicher Präsident der Akademie der Künste der DDR, konnte das verhindern. Sein Schlüsselfilm der 60er Jahre hatte den Titel Der geteilte Himmel. Die Entwicklung des Neuen (West)Deutschen Films wurde aus der DDR mit Neugier und Neid beobachtet. Die Mauer fiel, als das Ende des Aufbruchs schon stattgefunden hatte.

XVII. Das Ende des Aufbruchs. Auf rund zwanzig Jahre datiert man die kreativste Zeit des Neuen Deutschen Films. Natürlich gibt es kein offiziell verkündetes Ende. Filmhistoriker machen gern im Jahr 1982 einen Schnitt und verbinden dies mit dem Tod von Rainer Werner Fassbinder. Die meisten Protagonisten haben weiter fürs Kino und fürs Fernsehen gearbeitet. Alexander Kluge drehte seinen letzten Kinofilm 1986 (Vermischte Nachrichten) und beteiligte sich ab 1987 an der TV-Plattform dpct, mit der er große Profite machte. Edgar Reitz realisierte ab 1982 seine wunder­bare Heimat-Trilogie. Ulrike Ottinger unter-nimmt noch immer künstlerische Weltreisen mit der Filmkamera und dem Fotoapparat (zuletzt Chamissos Schatten, zurzeit Paris Calli-grammes). Volker Schlöndorff ist auch mit 80 Jahren nicht im filmischen Ruhestand. Reinhard Hauff hat in den 1990er und 2000er Jahren als Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ein neues Profil gegeben. Jeanine Meerapfel ist Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin, Bernhard Sinkel leitet die Sektion Film- und Medienkunst der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Klaus Lemke, Rosa von Praunheim, Margarethe von Trotta, Michael Verhoeven, Wim Wenders drehen unermüdlich neue Filme. Sie befinden sich aber nicht mehr im Aufbruch, sondern im Unruhestand.

XVIII. Einige Zahlen

Jahr        Kinobesucher   Kinos           Spielfilme

1962         443 Mio                  6.327               64

1972         150 Mio                  3.171               108

1982         125 Mio                  3.598               70

1992         106 Mio                  3.630               63

2018         105 Mio                  1.673               153

Über diese Zahlen kann man lange nachdenken.

XIX. Heute (2). Wer das Jahr 1962 bewusst erlebt hat, befindet sich heute in einem anderen Zeitalter. Vor rund 30 Jahren ist die Mauer gefallen. Es gibt noch das Kino und das Fernsehen, aber junge Men-schen nutzen in der digitalen Welt längst ihre eigenen Geräte, um in den Genuss bewegter Bilder zu kommen. Wie lange es noch das Kino gibt, ist ungewiss – und auch: wie lange der Neue Deutsche Film im Gedächtnis bleibt.

XX. Beat Presser. Geboren in der Schweiz, ist er als Fotograf in der ganzen Welt unterwegs. Seit seiner engen Zusammenarbeit mit Werner Herzog in den 1980er Jahren u.a. bei Fitzcarraldo und Cobra Verde als Standfotograf und Kameraassistent fühlt er sich dem deutschen Film verbunden. In das Projekt „AUFBRUCH INS JETZT – Der Neue Deutsche Film“ hat er neun Jahre Arbeit investiert. Das hat sich gelohnt. Wie alles begonnen hat, erzählt er am besten selbst.

In: Vera Pechel (Hg.): Aufbruch ins Jetzt. Der neue Deutsche Film. Gespräche von Beat Presser. Verlag edition axensprung. Basel 2019.