12. Februar 2012
Helke Misselwitz
Text für die Publikation „Die Frauen von Babelsberg“
Die Neugierige
Sie kam, mit ihren großen Augen, neugierig und tatendurstig nach Babelsberg. Helke Misselwitz war 31 Jahre alt, als sie 1978 ihr Regiestudium an der „Hochschule für Film und Fernsehen der DDR“ begann. Sie hatte sieben Jahre in verschiedenen Funktionen beim Fernsehen der DDR in Adlershof und Johannisthal gearbeitet, einen Test als Ansagerin nicht bestanden, weil sie offenbar dazu neigte, ihre Mundwinkel spöttisch noch oben zu ziehen, wurde im Jugendfernsehen angestellt und wollte mehr, vor allem: „richtige“ Filme machen. Das konnte man, wenn man von einer Institution an die Filmhochschule delegiert wurde, dort lernen. Die Rückkehr wurde vorausgesetzt, die Festanstellung zugesichert. Aber Helke Misselwitz ging ihren eigenen Weg.
Sie studierte – im gleichen Jahrgang wie Herwig Kipping, Thomas Heise und Petra Tschörner – vier Jahre in Babelsberg und experimentierte mit Bildern und Tönen. Ihre Übungsfilme hießen Verstecke, Ein Leben, Haus. Frauen. Ihre schriftliche Diplomarbeit ist ein Blick in die deutsche Geschichte: „Das Frauenbild im faschistischen deutschen Film – die Abhängigkeit seiner Darstellungsweise von der jeweiligen politischen Taktik, untersucht an ausgewählten Filmbeispielen des ‚Dritten Reiches’“. Ihr Diplomfilm Die fidele Bäckerin hatte den Arbeitstitel „Heil Hitler, ein Brot“, war ein halblanger Spielfilm mit drei großen DDR-Schauspielerinnen: Bärbel Bolle, Margit Bendokat und Käthe Reichel, eine „politische Trivialgroteske“ aus den letzten Kriegsjahren in Berlin. Über die Arbeit an dem Film und das Studium an der HFF hat Helke Misselwitz einen sehr persönlichen Text verfasst: „Gedanken zum Diplomfilm, aufgeschrieben nach der Rohfilmabnahme“ (in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Nr. 3, 1982). Neben dem Dank an die Hochschule formuliert sie einen Vorwurf: „Man geht zu wenig auf die Belange des einzelnen Studenten ein, kennt zu wenig seine Persönlichkeit, seine ihm eigene, unverwechselbare Sicht auf die Welt und arbeitet nicht gezielt mit ihm. Ein Schüler-Meister-Prinzip sollte das Ausbildungsprogramm bestimmen.“ Vielleicht ein Blick in die eigene Zukunft.
Eine Rückkehr zum DDR-Fernsehen, wie sie eigentlich erwartet wurde, kam für Helke Misselwitz nach dem HFF-Abschluss nicht in Frage. Sie wollte unabhängig sein, auch wenn dies mit Risiken verbunden war. Es gab kleinere Aufträge vom DEFA-Studio (Kino-Vorfilme), und wenn keine Aufträge kamen, kellnerte sie oder wusch Teller in der Mitropa.
Mitte der achtziger Jahre wurde Helke Misselwitz Meisterschülerin an der Akademie der Künste der DDR. Ihr Mentor: Heiner Carow. Sie realisiert 1987 ihren bekanntesten Dokumentarfilm: Winter adé. Der metaphorische Titel verbindet sich unvorhersehbar mit dem Ende der DDR zwei Jahre später. Misselwitz begibt sich in ihrem Film auf eine lange Reise vom Süden in den Norden ihres Heimatlandes, von Zwickau nach Usedom, um zu erfahren, wie andere Frauen gelebt haben, wie sie leben möchten. Sie trifft auf die Werbeökonomin Hillu (42), die unverdrossen um Anerkennung kämpft, auf die Brikett-arbeiterin Christine (37), die tapfer eine geistig behinderte Tochter großgezogen hat, auf die beiden Punkmädchen Anja und Kerstin (16), die an keine Perspektive glauben, auf Margarethe (85), die gerade Diamantene Hochzeit feiert und feststellt, dass sie den falschen Mann geheiratet hat, auf die Heimerzieherin Banni (55), die Kinder aus gestörten Familienbeziehungen betreut. Die Gespräche und die Nebenbeibeobachtungen auf der Reise (Kamera: Thomas Plenert, gedreht in Schwarzweiß) fügen sich zu einem berührenden, beeindruckenden DDR-Bild, weil Helke Misselwitz neugierig ist und zuhören kann. Dafür gab es 1988 in Leipzig eine „Silberne Taube“ und eine Festanstellung im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Im DDR-Fernsehen durfte Winter adé allerdings nicht gezeigt werden.
Ihre Filme der Wendezeit – Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (1989, über eine Kohlenhandlung auf dem Prenzlauer Berg, geleitet von einer Frau) und Sperrmüll (1990, über eine Punk-Band, die auf den seltsamsten Gegenständen Musik macht) – sind authentische Momentaufnahmen eines Zeitenwechsels, ohne dies pathetisch zu kommentieren.
In den Neunzigern engagierte sich die – wie alle anderen DEFA-Angestellten inzwischen entlassene – Filmemacherin für den Schutz des DDR-Filmerbes und für die Rechte der Kreativen, aber es gab allenfalls Kompromisse, zum Beispiel mit der späteren Etablierung der DEFA-Stiftung. Misselwitz gründete zusammen mit Thomas Wilkening eine der ersten privaten Filmfirmen in Ostdeutschland und wagte – sieben Jahre nach ihrem Babelsberger Abschlussfilm – den Wechsel in die Fiktion. Aber sie zog sich dafür nicht in den Schutz des Studios zurück, sondern drehte vor Ort, und der Ortsname ist auch der Titel des Films: Herzsprung (1992). Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau in der Umbruchszeit, die sich nach dem Tod ihres Mannes in einen Afrikaner verliebt, der in einem Imbisswagen an der Autobahn arbeitet. Sie wird am Ende erstochen, als sie ihren Freund schützen will. Das Drama um Orientierungslosigkeit und Rassismus hat die Kraft eines Debütfilms und lebt vor allem durch die Präsenz der Schauspieler (Claudia Geisler, Günther Lamprecht, Eva-Maria Hagen) und die Bilder von Thomas Plenert.
Vier Jahre später folgt der zweite Spielfilm: Engelchen (1996). Wieder erzählt Helke Misselwitz eine verstörende Liebesgeschichte: wie die vereinsamte Fabrikarbeiterin Ramona sich in einen polnischen Zigarettenschmuggler verliebt, der ein Doppelleben führt; sie wird schwanger von ihm, erleidet eine Frühgeburt, das Baby stirbt, und sie stiehlt in ihrer manischen Sehnsucht nach Glück ein Ersatzbaby. Das Ende ist ein düsterer Traum. All dies spielt unter dem Himmel von Berlin, rund um den Bahnhof Ostkreuz, auf Hinterhöfen und in Milieus, in denen man schwer leben kann. Wieder hat Thomas Plenert die Bilder gemacht, und die Hauptdarstellerin Susanne Lothar, erst kurz vor Drehbeginn gefunden, zeigt auf schmerzhafte Weise Traumata und Hoffnungen einer einsamen Frau.
Im Herbst 1997, als ENGELCHEN ins Kino kam, wurde Helke Misselwitz Regie-Professorin an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Noch war die Schule auf die alten Villen am Griebnitzsee verteilt, die sie aus ihrer Studentenzeit kannte. Vier Jahre später erfolgte der Umzug ins neue große Gebäude auf dem Studiogelände, Adresse: Marlene-Dietrich-Allee 11. Misselwitz ist eine engagierte Lehrerin. Sie nahm sich nur wenige Auszeiten für eigene Projekte. 2000 drehte sie zwischen Frankfurt und Stettin den Dokumentarfilm Fremde Oder, 2004 rund um die Berliner Friedrichstraße Quartier der Illusionen. Einen dritten Spielfilm hat es bisher nicht gegeben.
Helke Misselwitz hat auf eine eigene bedingungslose Regiekarriere verzichtet. Es mangelt ihr nicht an den Fähigkeiten. Aber sie hat sich für eine andere Verantwortung entschieden: die neue Generation, den Nachwuchs auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Ob der ins nahe gelegene Studio führt oder in die weite Realität des Landes, wird sich erweisen.
In: Daniele Sannwald/Christina Tilmann (Hg.) Die Frauen von Babelsberg. LebensbIlder aus 100 Jahren Filmgeschichte. Berlin: edition ebersbach 2012