Texte & Reden
24. Dezember 2011

Zauber und Realität

Wie das Kino Weihnachten feiert

Von Anke Sterneborg

(1988)

Glitzernder Schnee, in einer weißen Zuckerschicht versunkene Städtchen und Landschaften, bunt behängte Weihnachtsbäume, knisterndes Papier und geheimnisvolle Geschenke, duftende Plätzchen, klingende Glocken und warm flackerndes Kerzenlicht: Weihnachten ist ein Fest der Sinnlichkeit und des Gefühls. Weihnachten ist Märchen und Illusion. Weihnachten hat dieselbe Konsistenz wie das Kino, zumindest wie das amerikanische.

Weihnachten setzt die Realität außer Kraft, für drei Tage ist alles anders – man erwartet es jedenfalls. Weihnachten ist die Zeit der Güte und Barmherzigkeit, der Versöhnung und des Friedens. Auch im Kino. Doch meist werden in der Entwicklung der Geschichten die positiven Kräfte zunächst zur Kontrastierung mit den negativen genutzt: Im Licht von Weihnachten werden die Traurigen noch trauriger, die Einsamen noch einsamer, die Armen noch ärmer.

Ungerechtigkeiten sind an Weihnachten maßloser, Unglück ist spektakulärer. Weihnachten ist das Mittel des Kinos, die Gefühle zu verstärken; jedes Ereignis hat jetzt mehr Gewicht. Erst über die Erfahrung von Leid und Traurigkeit kommt es zu Hoffnung. Erst über das Anprangern negativer Charaktereigenschaften kommt es zur Läuterung: Das Happyend ist bei allem herbeizitierten, melodra-matischen Unglück die Weihnachtsbotschaft des Kinos.

IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN? von Frank Capra: Am Weihnachtstag spit-zen sich die über die Jahre vorbereiteten Ereignisse und Ge-fühle zu. George Bai-ley (James Stewart) hat sein Leben lang die eigenen Träume und Wünsche zurückgestellt. Stattdessen hat er in dem kleinen Städt-chen Bedford Falls die Werte der Menschlichkeit gegen den skrupel- und herzlosen, gewinn- und machtorientierten Spekulanten Potter durchgesetzt und das Lebenswerk seines Vaters erhalten. Nach jahre-langem Ringen brechen an diesem Tag alle Welten zusammen.

Durch einen unglücklichen Zufall fehlt eine große Summe Geld, durch den Finanzprüfer der wohl nur im Kino am Heiligen Abend kommt – drohen Anzeige, Bankrott und Schande; alles scheint aussichtslos, Bailey ist verzweifelt. Er wird ungerecht und streit-lustig gegen die, die ihm am nächsten sind, gegen Frau, Kinder und Freunde. Entmutigt irrt er durch das Städtchen, das in unschul-diges Weihnachts-Weiß getaucht ist. Seine Stimmung steht in höchst-möglichem Widerspruch zum festlichen Frieden und Glück, überall eckt er an, handelt sich noch mehr Ärger ein. Er kann nur noch das Nega-tive sehen und schickt sich an, im eiskalten Wasser den Tod zu suchen.

Da schicken Gott und das Kino ihm einen ihrer so unkonventio-nellen wie charmanten Engel zu Hilfe, den etwas tapsigen Clarence Ez2 (Engel zweiter Klasse), der sich seine Flügel erst noch verdienen muss. Baileys Ausruf „Ich wünschte, ich hätte nie gelebt“ begegnet er mit einer Vision von Bedford Falls, wie es ohne ihn geworden wäre, und schafft es so, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Das Finale birst geradezu vor Liebe, Glück, Hilfsbereitschaft und Freundschaft. IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN? ist ein herzzer-reißender Kinotraum, ebenso traurig wie glücklich, ebenso verzweifelt wie rührend und humorvoll, ein Wunder von einem Film, das Weihnachten immer wieder im Fernsehen, leider aber nie im Kino zu sehen ist.

Weihnachten ist unlöslich mit dem Glück der anderen verbunden, mit einer Harmonie, die jeder allumfassend voraussetzt. Umso bedrücken-der erscheinen individuelles Unglück und Traurigkeit – dem Zuschauer im Kino noch viel mehr als den Beteiligten im Film: DAS APPARTE-MENT von Billy Wilder; immer wieder führt das Kino zwei einsame zusammen, zwei, die alle Hoffnung mehr oder weniger verloren haben: C.C. Baxter (Jack Lemmon) und Miss Kubelick (Shirley MacLaine).

Er ist ein trauriger Single, der in einer Mischung aus Gutmütigkeit, Bedürfnis-losigkeit und Opportunis-mus seine Wohnung den Kollegen als Liebesnest für Seitensprünge zur Verfü-gung stellt. Sie steht vor den Trümmern ihrer Liebe zu einem verheiraten Mann: denn der 24. Dezember ist auch der Tag, der in Dreier-beziehungen Prioritäten setzt. Hier verliert die Geliebte gegen Frau und Familie, gegen die Kraft der familiären Bedürfnisse. Schnell fertigt Sheldrake (Fred McMurray) sie ab, bevor er, wie versprochen, zu Hause den Weihnachtsbaum schmücken muss.

Auch an ein Geschenk hat er nicht gedacht. Er sei so einfallslos, sagt er. Hier habe sie etwas Geld, sie solle sich etwas Hübsches kaufen. Geschenke charakterisieren Menschen und ihre Beziehungen: Ein Fernseher gegen die Einsamkeit in WAS DER HIMMEL ERLAUBT, ein Luftgewehr für einen kleinen Jungen (FRÖHLICHE WEIHNACHTEN von Bob Clarke), eine japanische Handgranate, die Lino Ventura seinem Kumpel, dem Bankräuber schenkt (EIN GLÜCKLICHES JAHR von Claude Lelouch), unpersönliche, auf Auftrag von Geschäften zugestellt Pakete (DADDY LANGBEIN von Jean Negulesco).

Oder wie hier Geld, kalt und lieblos aus der Tasche gezogen, 100 Dollar, die aus einer liebenden Frau eine Hure machen. 100 Dollar, die das Unglück auf den Punkt treiben. Wie George Bailey will nun auch Miss Kubelik sich an diesem Tag das Leben nehmen, ein Röhrchen Tablet-ten im fremden Badezimmer kommt ihr da gerade recht. Doch auch Baxter geht es nicht viel besser. Er hat gerade erfahren, dass das Mädchen, das er liebt, zu den Gästen in seinem Appartement gehört. Und er weiß noch nicht, dass auch sie unglücklich ist. In der Bar, unter den anderen Einsamen bleibt er unzugänglich für Ansprache und Trost, lässt sich halbherzig auf eine andere zudringlich Einsame ein.

Später, als er Miss Kubelik pflegt und sie zum Kartenspielen anhält, wird er sagen, dass es ihm in diesem Jahr viel besser geht als im letzten. Damals hatte er nach einem Automaten-Restaurant-Dinner und einem Zoo-Besuch seine Wohnung von den Spuren seines Liebesuntermieters gereinigt. Aus dem am Weihnachtstag entzündeten Unglück entwickelt sich die Perspektive zu neuem Glück. Im nächsten Jahr werden sie beide nicht mehr allein sein…

Ganz selbst-verständlich werden die Weihnachten innewohnen-den gegen-sätzlichen Kräfte zu den widerstrei-tenden Polen des Melodrams: Es war unvermeidlich, dass der Meister des Kinos der Gefühle, Douglas Sirk, sich der Möglichkeiten des Festes bediente: WAS DER HIMMEL ERLAUBT. Die gut situierte, attraktive Witwe (Jane Wyman) verliebt sich in den Gärtner und Naturmenschen Ron Kirby (Rock Hudson); was für die eine Hoffnung ist, wird von der eitlen Gesellschaft mit misstrauischer Arroganz, von den Kindern eifersüchtig verurteilt. Sie lässt sich einschüchtern und sagt der Liebe ab.

Auch hier löst der Heilige Abend die Katastrophe und die Wende aus: Die Kinder, die gerade noch lautstark auf Zusammengehörigkeit und Familie pochten, gehen ihre eigenen Wege und lassen nichts zurück als ein zynisches Geschenk, einen Fernseher, den der ausliefernde Verkäufer stolz preist: „Sie brauchen nur an der Skala zu drehen und Sie haben soviel Gesellschaft , wie sie wollen. Drama, Komödie, ein Knopfdruck und das ganze Leben gehört Ihnen…“

Erst dieser Schlag bringt Carey, als es eigentlich schon zu spät ist, dazu, sich für die Liebe zu entscheiden. Ein Rehkitz im Schnee vor dem Idyll der zur Naturwohnung ausgebauten Mühle, in der das Happyend sich einstellt, manifestiert die einfachen und schlichten Werte, um die es gerade zu Weihnachten geht.

Dies ist die Zeit, in der in besonderem Maße alles Äußerliche, Oberflächliche und Bombastische  von den einfachen und inneren Werten aus der Konkurrenz geschlagen wird: In DIE NACHT DES JÄGERS (Charles Laughton) merkt der kleine John betreten, dass er vergessen hat, für die fürsorgliche Mutter der Waisen (Lilian Gish) ein Geschenk zu besorgen. Er schaut sich um, ergreift einen Apfel, dessen Rot man durch das Schwarz-Weiß des Films hindurch noch deutlich sieht, wickelt ihn wie eine Blume in das unter der Apfelschale liegende Häkeldeckchen. „Ein schöneres Geschenk hättest Du gar nicht machen können“, ist die gerührte Reaktion.

Das reine Herz und der gute Wille sind die weihnacht-lichen Werte, die das Kino auf so wun-derbare und direkte Weise ins Bild setzt. Auch die mit-tellosen fran-zösischen Offiziere, die aus einem deutschen Gefangenenlager geflüchtet sind und bei einer alleinstehenden Frau mit Kind Unterschlupf gefunden haben, beeindrucken mit der schiefen, kleinen Krippe, die sie gebastelt haben (DIE GROSSE ILLUSION von Jean Renoir).

Geschenke bergen einen großen Teil des prickelnden Geheimnisses, das Weihnachten umweht. Sie verbinden die Sphären von Traum und Realität. Inmitten des großen Weihnachtsglitzerns auf der New Yorker Fifth Avenue entsteht ein Geheimnis ganz anderer Art: Beladen mit Geschenkpäckchen treffen Molly (Meryl Streep) und Frank (Robert De Niro) zum ersten Mal aufeinander – mit dem Ergebnis, dass auf dem Gabentisch ihrer Ehepartner jeweils falsche Bücher liegen. Es ist der Anfang einer Reihe von Begegnungen und einer großen Liebe (DER LIEBE VERFALLEN von Ulu Grosbard).

Weihnachten ist Traum, Teil der Realität hingegen sind Konsum und Geschäft, im Laden um die Ecke, in dem James Stewart mit Herz und Einfüh-lungsvermögen einen beachtlichen Umsatz für seinen geldgieri-gen Chef erzielt (RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS von Ernst Lubitsch), ebenso wie in den großen Kaufhäusern, in denen von der Geschäftsleitung eingesetzte Werbe-Weihnachtsmänner das Märchen in Kassen-Realität verwandeln sollen.

So entspricht der Weihnachtsmann in DAS WUNDER IN DER 34. STRASSE (George Seaton) nicht ganz den Erwartun-gen. Denn er verrät, wo die Wünsche, die von den in einer lan-gen Schlange vor ihm stehenden Kindern vorgetragen werden, von den Eltern am schönsten und günstigsten zu erfüllen sind – also durchaus auch bei der Konkurrenz. Doch das Modell macht Furore: was geschäftsschädigend begann, zahlt sich doppelt aus.

Selbst der Märchentraum von SANTA CLAUS (Jeannot Szwarc), der alljährlich in seinem von Rentieren gezogenen Schlitten herabfährt, um an alle Kinder seine Gaben zu verteilen, gerät in die Mühlen des fortschrittlichen Konsumdenkens. Auch im Himmel herrschen schon Konkurrenz und kostensparende Schlamperei. Doch auf Dauer setzt sich in der Spielzeugproduktion der fleißigen Zwerge doch wieder das solide, beständige Holzmodell gegen den nachlässig hergestellten, reißerisch-modernen Zauberflitter durch.

Die Würde und Feierlichkeit des Weih-nachtsfestes schreit geradezu danach, durch die Geschich-ten des Kinos unterwandert zu werden, auf die eine oder andere Weise: Nick Charles (William Powell) und seine Frau (Myrna Loy) feiern auf ihre Weise mit locker vergnüglicher Respektlosigkeit Cocktailparties; morgens schießt er dann mit seinem neuen Gewehr die Luftballons vom Weihnachtsbaum und fragt sie, woher sie denn den neuen Pelzmantel habe – den freilich er ihr geschenkt hat… (MORDSACHE DÜNNER MANN, W. S.von Dyke)

Weihnachten hat die Welt geradezu einen Anspruch da-rauf in Ord-nung zu sein – doch gerade da ruht das Ver-brechen nicht: Das düstere Treiben des Berufskillers Frank Bono in EXPLOSION DES SCHWEIGENS (Allen Baron) wird durch die Unge-rührtheit, mit der er den Mord am Weihnachtstag plant und ausführt, noch düsterer. Die ohnehin trostlose Welt der schwarzen Schatten wird unter diesem Aspekt zum Äußersten getrieben. Weihnachten stimmt fast jeden milde und versöhnlich – und kennzeichnet die, die davon unberührt bleiben.

Auch in Hor-rorfilmen wird gerade an die-sem Tage das Grauen kom-promisslos vorangetrie-ben: DON’T OPEN TILL CHRISTMAS (Edmund Purdon) verheißt ebenso wenig Hoffnung wir JESSY – DIE TREPPE IN DEN TOD (Robert Clark), wo ein psychopathischer Killer denkbar unbeeindruckt von weihnachtlicher Beschaulichkeit in einem Mäd-chenwohnheim wütet.

Selten wird Weihnachten derart ent-schieden in Frage gestellt und unter-graben, meist schimmert Hoffnung auch in den dunkelsten Ecken, werden auch noch die härtesten Naturen ergriffen und geläutert: Die Dickens-Figur Scrooge, der geizige, raffgierige Geschäftemacher, der durch drei Geister, die ihn heimsuchen, bekehrt wird und die Grundlage einer ganzen Reihe von Verfilmungen ist (zuletzt und noch im Kino zu sehen in DIE GEISTER, DIE ICH RIEF von Richard Donner), ebenso wie die harten Westerner John Fords, drei Bankräuber auf der Flucht, die in SPUREN IM SAND in der Weihnachtsnacht ein neugeborenes Baby in ihre Obhut nehmen und die Christus-Geschichte nachleben.

Auch die drei ausgebroche-nen Sträflinge, die in WIR SIND KEINE ENGEL (Michael Curtiz) in die traute, pro-vinzielle Familien-feierlichkeit einfallen, wandeln sich nach anfänglicher Resistenz zu guten Menschen: „Ihnen die Kehlen durchzuschneiden, könnte ihr Weihnachtsfest verderben…“

Gerade die programma-tische Fried-lichkeit des Festes stellt oft den wirksa-men Kontrast für das Grauen und das Ver-brechen dar: In die vor-weihnacht-liche Ruhe eines kleinen, verschneiten amerikanischen Provinzstädtchens kann die Invasion der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vermeh-renden Gremlin-Teufelchen umso rabiater einfallen (DIE GREMLINS von Joe Dante).

Doch auch ganz irdische Gangster ma-chen sich die Ruhe und Arg-losigkeit, die in diesen Tagen herrscht, zunutze: In STIRB LANG-SAM (John McTiernan) ist das computer-überwachte, moderne Appartementhaus in Los Angeles weihnachtlich leergefegt. So sind die angestellten einer japanischen Weltfirma, die hier noch feiern, dem gezielten Angriff einer Gruppe gut organisierter Gangster nahezu hilflos ausgeliefert. Am Ende, wenn die Gefahren gemeistert sind, steht wie so oft eine Versöhnung an Weihnachten: Dies ist die Zeit, die die Getrennten, Verstrittenen und Geschiedenen wieder zusammentreibt. Schon Hans-Dieter Schwarze hatte es ALLE JAHRE WIEDER (Ulrich Schamoni) zu seiner Frau gezogen.

Die Erschei-nung, das Kostüm des Weihnachts-mannes ge-bieten Vertrau-en, vermitteln Güte und Barmherzig-keit. So ist es trotz aller Auf-fälligkeit eine ideale Tarnung, die schon Gene Hackman als Drogenbulle in FRENCH CONNECTION I (William Friedkin) zu nutzen wusste: Gerade noch hatte er sich von den Kindern die Weihnachtswünsche erzählen lassen und „Jingle Bells“ gesungen, und jetzt hetzt er durch die Straßen von Brooklyn hinter einem Drogendealer her. Dass er dabei Bart und Perücke verliert, ist in doppeltem Sinne symptomatisch.

So recht wohl allerdings fühlt sich Burt Reynolds nach seinem Rausschmiss bei der Polizei auch nicht, als Hausdetektiv im Weihnachtsmanngewand (RENT-A-COP von Jerry London). Aber auch die Gegenseite, das Verbrechen, weiß die Qualitäten des Kostüms zu schätzen:

In rotem Mantel und mit unter weißem Haar verborgenen Gesicht betritt ein Mann die Bank und reicht einen Zettel über den Tresen: „Ich habe eine Pistole, geben Sie alles Geld herüber…“ (DEIN PARTNER IST DER TOD von Daryl Duke), unvermutet tritt der Wolf im Schafspelz auf.

Der Titel DAS VERBRE-CHEN DES WEIH-NACHTS-MANNES (Christian-Jacques) verrät die Identität des Täters: In einem kleinen, verschneiten französischen Bergdörfchen stiehlt er den kostbaren Stein, der die alljährlich in der Kirche aufgestellte Krippe schmückt. Vergeblich warten die Kinder später auf ihre Geschenke und finden stattdessen den Weihnachtsmann tot im Schnee. Im Gegensatz zum geballten Einsatz von Kitsch und Romantik im amerikanischen Kino ist Weihnachten im europäischen Kino eher von poetischer Ernsthaftigkeit geprägt – und kommt entschieden seltener vor. Und wieder einmal wendet sich am Ende alles zum Guten, ein ebenso kindlicher wie erwachsener Weihnachtstraum.

Auch das Gesetz schläft nicht an Weihnachten, UNTER FALSCHEN VERDACHT (Henri-George Clouzot) kann man auch über die Feiertage geraten. Mit ungerührter Gründlichkeit ermitteln die Beamten am Quai des Orvèfres auch jetzt.

Manchmal überwiegt doch wieder die weihnacht-liche Gnade: Der Staats-anwalt (Fred McMurray) will der fest-genom-menen Juwelendiebin (Barbara Stan-wyck) einsame Tage hinter Gittern ersparen, doch ihre Mutter reagiert abweisend und hart. Kurz entschlossen nimmt er sie in sein eigenes Heim mit, auf EINE UNVERGESSLICHE NACHT (Mitchell Leisen). Alle Register weihnachtlicher Rührung werden aufs wunderbarste gezogen; angesichts der bedingungslosen Aufnahme kommen nicht nur ihr die Tränen.

Weihnachten ist an bestimmte Voraus-setzungen gebunden, schon Zarah Leander mochte sich in Puerto Rico nicht wohl- fühlen, der Skandi-navierin fehlte der Schnee, ohne den sich das wahre Gefühl nicht so recht ein-stellen wollte (LA HABANERA von Detlef Sierck). Andere dagegen versuchen mit allen Mitteln gegen die widrigen Umstände anzu-kämpfen, die Soldaten an der Front, in den U-Booten, in den Schützen-gräben, umgeben von Gefahr, Angst und Tod, fern von den Familien.

In Eis und Schnee vor Stalingrad 1942 sind vier Holzpfähle zu einem knochigen Weihnachts-baum gezim-mert und mit sieben Lich-tern ge-schmückt. Vor schweigenden Soldaten hält ein Militärpfarrer ein kurzes Gebet; kaum ist es verklungen, fallen die Bomben schon wieder (HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN! von Frank Wisbar).

Auch in WEISSE WEIH-NACHTEN nimmt alles seinen Anfang mit einer an der Front von Bing Crosby und Danny Kaye impro-visierten Weihnachtsrevue. Das Finale liefert erneut ein Indiz dafür, dass Weihnachten eine Erfindung Hollywoods sein muss: eine Show mit allen Beteiligten des Festes, inklusive Engeln und Christkind. Und das Rot von Technicolor in den Mänteln unzähliger kleiner und großer Weihnachtsmännern und –frauen…

Weihnachten und Kino: Eine Liaison mit unvergleichlich romanti-schem Potential; es scheint, als würde das eine das andere bestärken und herausfordern. Und doch liegt es in der Natur der Sache, dass die Kino am Weihnachtsabend leer stehen. Kein Fest ist wie dieses in der Familie verankert. Wer sich dem entzieht, ist fast schon mit einem Makel behaftet, scheint es. Nur in den ganz großen Großstädten gibt es die eine oder andere Gelegenheit zum Kinobesuch. Und das sind nicht die bittersüßen, traurig-romantischen Filme, sondern meist ganz locker-lustige. Jene Filme, die ohne Wermutstropfen auch in indifferenter Stimmung zu genießen sind, Zeichentrickromanzen und –revuen, beispielsweise. Denn, man muss vorsichtig sein, mit den Einsamen an Weihnachten…

(Ich danke all meinen Freunden und Bekannten, die mir auf die eine oder andere Weise geholfen haben, mich zu erinnern an all die vielen kleinen Szenen an und um Weihnachten.)

Der Tagesspiegel, 25. Dezember 1988

Anhang:

Originaltitel und Jahr (Reihenfolge wie im Text)

IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN?: IT’S A WONDERFUL LIFE (1947)

DAS APPARTEMENT: THE APARTMENT (1960)

WAS DER HIMMEL ERLAUBT: ALL THAT HEAVEN ALLOWS (1955)

FRÖHLICHE WEIHNACHTEN: A CHRISTMAS STORY (1983)

EIN GLÜCKLICHES JAHR: LA BONNE ANNÉ (1973)

DADDY LANGBEIN: DADDY LONG LEGS (1955)

DIE NACHT DES JÄGERS:  THE NIGHT OF THE HUNTER (1955)

DIE GROSSE ILLUSION: LA GRANDE ILLUSION (1937)

DER LIEBE VERFALLEN: FALLING IN LOVE (1984)

RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS: THE SHOP AROUND THE CORNER (1940)

DAS WUNDER IN DER 34. STRASSE: MIRACLE ON 34TH STREET (1947)

SANTA CLAUS: SANTA CLAUS: THE MOVIE (1985)

MORDSACHE DÜNNER MANN: THE THIN MAN (1934)

EXPLOSION DES SCHWEIGENS: BLAST OF SILENCE (1961)

DON’T OPEN TILL CHRISTMAS (1984)

JESSY – DIE TREPPE IN DEN TOD: BLACK CHRISTMAS (1974)

DIE GEISTER, DIE ICH RIEF: SCROOGED (1988)

SPUREN IM SAND: THREE GODFATHERS (1948)

WIR SIND KEINE ENGEL: WE’RE NO ANGELS (1955)

GREMLINS – KLEINES MONSTER: GREMLINS (1983)

STIRB LANGSAM: DIE HARD (1987)

ALLE JAHRE WIEDER (1967)

BRENNPUNKT BROOKLYN/FRENCH CONNECTION I: THE FRENCH CONNECTION (1971)

RENT-A-COP: RENT-A-COP  (1986)

DEIN PARTNER IST DER TOD / G (GIVE): THE SILENT PARTNER (1978)

DAS VERBRECHEN DES WEIHNACHTSMANNES/MORD AM WEIHNACHTSABEND: L’ASSASSINAT DU PÈRE NOEL (1940)

UNTER FALSCHEN VERDACHT: QUAI DES ORVÈFRES (1947)

EINE UNVERGESSLICHE NACHT: REMEMBER THE NIGHT (1940)

LA HABANERA (1937)

HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? (1958)

WEISSE WEIHNACHTEN: WHITE CHRISTMAS (1954)