Texte & Reden
13. März 2008

Der Zille-Film DIE VERRUFENEN

Filmeinführung in der Akademie der Künste

Berlin 1925. Im Mai dreht der Regisseur Gerhard Lamprecht einen Film „nach Erlebnissen“ von Heinrich Zille. Er trägt den Titel Die Verrufenen und wird am 28. August im Ufa-Theater an der Turmstraße  uraufgeführt. Die Premiere ist ein politisch-gesellschaftliches Ereignis. Sie dürfen sich das durchaus mit einem roten Teppich vorstellen. Ehrengäste sind der preußische Innenminister Severing, der Oberbürgermeister von Berlin, Boess, der Berliner Polizeidirektor, die Direktoren der Berliner Gefängnisse. Und: Professor Heinrich Zille.

In einem Zeitungsbericht heißt es „Anlässlich der Uraufführung war Professor Zille Gegenstand begeisterter Huldigungen der Menge, die sich bis auf die Straße fortsetzten. Es bedurfte des Einschreitens der Schutzpolizei, um seinem Wagen freie Bahn zu schaffen. Die zur zweiten Vorführung sich stauende Menge drückte die Glastüre des Vorraums ein. Es wurden im Theater fünfzehn Billettschwarzhändler verhaftet.“

Wie damals üblich, gab es bei der Premiere und den folgenden Vorführungen ein Vorprogramm: zunächst die Ouvertüre „Berlin wie es weint und lacht“, dann die Bühnenschau „Sein Milljöh“ mit dem Kömme-Ballett in einem Bühnenbild voller Zille-Motive, und als Gast trat Claire Walldorff auf. Dann folgte der Film.

Der Kritiker der Lichtbild-Bühne, Dr. Mendel, schreibt in seinem Premierenbericht: „Heute hat nicht der in tausend guten und noch viel mehr schlechten Filmen abgebrühte Kritiker das Wort, sondern der bis ins tiefste Herz ergriffene Mensch. Ich schäme mich nicht, zu gestehen, dass mir sehr oft die blanken Tränen aus den Augen gelaufen sind. Dieser Film ist eine soziale Tat, geboren aus wahrhaft christlichem Empfinden und aus einer Liebe zu den Ärmsten der Armen.“

1925: das war das Geburtsjahr von Hildegard Knef und Konrad Wolf. In den Berliner Kinos liefen die Filme Wege zu Kraft und Schönheit von Wilhelm Prager, Die freudlose Gasse von G. W. Pabst, Varieté von E. A. Dupont, Ein Walzertraum von Ludwig Berger. In den Babelsberger Ateliers wurden die Projekte Metropolis von Fritz Lang und Faust von Friedrich Wilhelm Murnau vorbereitet. Der erklärte Monarchist Paul von Hindenburg wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Die Weimarer Republik war in der Mitte ihrer Zeit.

Die Verrufenen war der erste Zille-Film in jener Zeit und sicherlich einer der besseren. Das wissen wir nicht so ganz genau, denn die anderen (zum Beispiel Die da unten von Victor Janson (1926), Schwere Jungen – leichte Mädchen von Carl Boese (1927), Großstadtkinder von Arthur Haase (1929)) sind nicht erhalten. Die Kritiken über sie lassen allerdings den Rückschluss zu, dass sie mit Zille und seiner Kunst nicht sehr viel zu tun hatten. Und bei Piel Jutzis Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück, der mit Kunst viel zu tun hat, ist sehr zweifelhaft, wie weit man von einem Zille-Film sprechen kann. Er wurde nach Zilles Tod uraufgeführt, und die Familie hat sich von ihm distanziert.

Ich muss Ihnen – da Sie ja durch die Zille-Ausstellung motiviert wurden, hierher zu kommen – heute nichts über Heinrich Zille erzählen (das tut die schöne Ausstellung auf ihre Weise). Ich möchte Ihnen in aller Kürze ein paar Hinweise zum Film und zu seinen Machern geben.

Zuerst einmal zu seinem Regisseur.

Gerhard Lamprecht, da muss man sich gar nichts vormachen, ist ein inzwischen fast vergessener Name und nur noch den intimeren Kennern der deutschen Filmgeschichte ein Begriff. Geboren 1897 in Berlin als Sohn eines Gefängnispfarrers, gelernter Schauspieler. 1920 dreht er seinen ersten Film als Regisseur, 1923 macht er mit einer Verfilmung der Buddenbrooks auf sich aufmerksam. Die Thomas Mann-Adaption ist dann schon sein zehnter Film. Mitte der Zwanziger dreht er drei Milieu-Filme, wie man damals sagte: zuerst Die Verrufenen, darauf Menschen untereinander und schließlich Die Unehelichen. Sein bekanntester Film bis heute ist Emil und die Detektive aus dem Jahr 1931, ein wirklicher Berlin-Film (Kästner). Durch die Nazi-Zeit kommt Lamprecht auf einigermaßen anständige Weise. 1946 dreht er den zweiten DEFA-Film, Irgend wo in Berlin und in den frühen Fünfzigern in der Bundesrepublik den Zweiteiler Meines Vaters Pferde.

Lamprecht war ein guter Handwerker, interessiert an der differenzierten Darstellung menschlicher Beziehungen, begabt im Umgang mit Schauspielern. Ab Mitte der fünfziger Jahre hat er sich ganz seiner Passion als Sammler hingegeben. Er hat Jahrzehnte lang alles archiviert, was mit Film zu tun hat, Drehbücher, Plakate, Fotos, technische Geräte, auch Filmkopien. Seine beeindruckende Privatsammlung war das Fundament der Deutschen Kinemathek, deren Gründungsdirektor er 1963 wurde. Er amtierte bis 1966 und starb 1974. In den Sammlungen der Kinemathek am Potsdamer Platz findet man viel Material zu dem Film Die Verrufenen, zum Beispiel das Regiedrehbuch, Zensurunterlagen, Zeitungskritiken, die Premiereneinladung, auch Hinweise auf den Einsatz des Films in Frankreich und den USA.

Die Drehbuchautorin, Luise Heilborn-Körbitz, war eine Schwester des engen Zille-Freundes Dr. Adolf Heilborn, eines Arztes, der für den Ullstein-Verlag populärwissenschaftliche Bücher schrieb. Luise Heilborn-Körbitz hat für Lamprecht zahlreiche Drehbücher verfasst. Der Kameramann Karl Hasselmann gehörte zum großen Kreis profilierter Bildgestalter im deutschen Film der zwanziger Jahre.

Auch unter den Darstellern gibt es einige bekannte Namen: Bernhard Goetzke, er spielt die Hauptfigur Robert, ist bekannt aus Fritz Langs Der müde Tod von 1921. Aud Egede Nissen, eine Norwegerin, spielt die Prostituierte Emma, die weibliche Hauptfigur. Sie war eine Lubitsch-Darstellerin und ein Star zu ihrer Zeit. Auch Mady Christians war so etwas wie ein Star, sie spielt die zweite weibliche Hauptrolle, mit der Robert am Ende hoffentlich glücklich wird. Frida Richard spielte oft die proletarische Frau, hier ist sie Emmas Mutter. Paul Bildt spielt den Vater der Hauptfigur. Bildt war der Schauspiellehrer von Lamprecht und ein beliebte Nebendarsteller im deutschen Film der zwanziger bis fünfziger Jahre. Auch Aribert Wäscher und Margarete Kupfer waren profilierte Nebendarsteller im deutschen Film.

Die Verrufenen: das ist ein Milieu-Film, in dem das reiche und das arme Berlin kontrastiert werden. Ein Ingenieur, Robert Kramer, kommt durch einen Meineid ins Gefängnis und fällt damit aus seinem stabilen Lebenszusammenhang. Er findet keine Arbeit mehr, will ganz aufgeben, wird durch die Prostituierte Emma gerettet, findet einen Freund – einen Fotografen, den wir durchaus als Zille-affin betrachten dürfen – und kehrt mit dessen Hilfe und seinem technischen Geschick in seine alten Berufszusammenhänge zurück. Am Ende stirbt Emma in Roberts Armen, und er findet bei einer Industriellen ein neues Glück.

Ich kann Ihnen das erzählen, weil die Handlung nicht das wirklich Spannende an diesem Film ist. Spannend sind die Milieubeobachtungen, die Aufnahmen in den Hinterhöfen und Eckkneipen, im Obdachlosenasyl und beim Lumpensammler, in den Wohnungen und Treppenhäusern, die Blicke der Kinder, der Arbeitslosen, der Kleinkriminellen. Hier haben der Regisseur Lamprecht und sein Kameramann Hasselmann im Handwerklichen und im Atmosphärischen gute Arbeit geleistet. Und wenn Emma am Ende stirbt, geschieht das in einer sehr subtilen Bildfolge.

Der Film wurde damals von der Kritik aufs höchste gelobt. Große Vorbehalte hatte nur der Kritiker der „Roten Fahne“, Otto Steinicke, der Die Verrufenen als bürgerlichen Kitsch bezeichnet, weil sich der Film nicht mit der Klassenfrage beschäftige. Er hat Recht und Unrecht. Er wollte einfach einen ganz anderen Film. Und vier Jahre später hat er das mit  Mutter Krausens Fahrt ins Glück auch bekommen.

Sie sehen jetzt den Film Die Verrufenen von Gerhard Lamprecht. Weil der Film ohne Musikbegleitung vorgeführt wird, können Sie sich ganz auf seine Bilder konzentrieren. Auch in den Zwischentiteln wird etwas vom Milieu deutlich. Und zu Beginn, in einer kleinen Hommage, sehen Sie Heinrich Zille bei der Arbeit. Die Aufnahmen sind relativ kurz. Also genau hinschauen!

Ich wünsche Ihnen einen unterhaltsamen Abend.

Filmeinführung in der Black Box der Akademie der Künste, Berlin,  Pariser Platz, 13. März 2008