Texte & Reden
01. September 1999

Lothar rennt

Das 20. Filmjahrbuch

 1.

„Das Filmjahr ’79“, herausgegeben von Lothar R. Just im Verlag der Filmland Presse, war der Anfang. Das Buch erschien im Frühjahr 1980. Es dokumentiert 361 Filme, basierend auf den Kritiken der Zeitschrift Filmbeobachter, die damals zweimal im Monat erschien. Es informiert über die Festivals des Jahres, Preise und Auszeichnungen, Filmbücher und verstorbene Filmschaffende. Es trägt auf dem Rücken die Nummer 1. Auf dem Umschlag fliegt uns Christopher Reeve als Superman entgegen. Sieben „Filmjahre“ bewältigte der Verleger Klaus Denicke, für das letzte, 1986, holte er sich Martina Zender als Herausgeberin. Dann war Schluss.

 2.

Das „Filmjahrbuch 1987“, herausgegeben von Lothar R. Just im Wilhelm Heyne Verlag, war Neubeginn und Fortführung. Es dokumentiert 565 Filme mit Stab- und Besetzungsangaben, Zitaten aus Kritiken und Hinweisen auf wichtige Texte. Es informiert – wie zuvor das „Filmjahr“ – über Festivals, Preise und Auszeichnungen, über Filmliteratur und die Toten des Jahres. Auf dem Rücken des Taschenbuchs stand die Nummer 105. Das „Filmjahrbuch“ ist Bestandteil der „Heyne Filmbibliothek“. Das „Filmjahrbuch 1999“ ist das 13. im Heyne Verlag, Band 267 der „Heyne Filmbibliothek“. Ein Ende ist nicht abzusehen.

 3.

Woran man sich gewöhnen muss: dass die Jahreszahl des Buchtitels nicht mit dem dokumentierten Inhalt übereinstimmt. Im „Filmjahrbuch 1987“ ging es um die Filme und Ereignisse des Jahres 1986. Das vorliegende „Filmjahrbuch 1999“ dokumentiert das Filmjahr 1998. Buchkäufer gelten offenbar als gegenwartsfixiert. Man muss sie – marktgerecht – mit dem laufenden Jahr als Signal locken, auch wenn sich der Inhalt asynchron verhält.

 4.

Jahrbücher sind Rückblicke, Chroniken, Bestandsaufnahmen, Bilanzen. Sie dokumentieren ihren Gegenstand als Zeitausschnitt: was zwölf Monate, 52 Wochen oder 365 Tage erbracht haben. Sie sind Handbücher, Nutzbücher. Ihr Nutzen wächst, je größer ihre Zahl wird. 20 Jahrbücher in Folge sind eine stolze Zahl. Sie dokumentieren ein Fünftel des Jahrhunderts. Also ein knappes Fünftel der Filmgeschichte. Beim vierzigsten Jahrbuch wäre es schon fast ein Drittel der Filmgeschichte.

5.

Als das „Filmjahr 1979“ erschien, gab es außerdem: das „Jahrbuch Film“, herausgegeben von Hans Günther Pflaum im Hanser Verlag (beendet nach dem neunten Band, 1985); das Jahrbuch „Kino“, herausgegeben von Robert Fischer im Verlag von Monika Nüchtern (beendet nach dem fünften Band, 1982); die Jahresfilmografie „Deutsche Filme“, zusammengestellt von Rüdiger Koschnitzki für das Deutsche Institut für Filmkunde, die mit den Daten zum Jahr 1979 zum dritten und letzten Mal erschien; den DDR-Kino- und Fernseh-Almanach „Prisma“, herausgegeben von Horst Knietzsch im Henschel Verlag (eingestellt nach dem 19. Band und dem Ende der DDR, 1990); den „Filmobibliografischen Jahresbericht“, herausgegeben vom Staatlichen Filmarchiv und der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR (abgeschlossen nach dem 26. Band und dem Ende der DDR, 1990).

 6.

Parallel zum „Filmjahr 1979“ erschien im Frühjahr 1980 zum ersten Mal der „Fischer Film Almanach“, zunächst herausgegeben von Willi Bär und Hans Jürgen Weber, ab 1982 von Walter Schobert und Horst Schäfer. Aufbau und Inhalt ähneln dem „Filmjahrbuch“ von Lothar Just. Ein Unterschied: der „Fischer Film Almanach“ lässt sich mit dem Erscheinen etwas mehr Zeit. Wenn er im August oder September 1999 wieder publiziert wird, ist es ebenfalls die 20. Ausgabe. Herzlichen Glückwunsch nach Frankfurt.

 7.

Die ersten sechs Bände des Jahrbuchs – „Das Filmjahr…“ – hatten das Format 17 x 23,5. Der erste Umschlag war weiß, die fünf folgenden waren schwarz. Seit 1987 hat das „Filmjahrbuch“ das Taschenbuchformat 12,5 x 18,7. Die ersten vier Umschläge waren weiß grundiert, die Titelfotos hatten einen silbernen Fond. Dann folgten acht silberne Umschläge. Die wechselnde Jahreszahl war in das Titelbild eingeklinkt. Nun ist der Umschlag bunt. Auch daran wird man sich gewöhnen.

8.

Jahrbücher erschließen sich über Register: Namen/Filmtitel. In den zwanzig Jahrbüchern gibt es unzählige Namen und Filmtitel. Sie sind auf 1.237 Registerseiten nachgewiesen. Zum Jubiläum wünschte man sich als „Treueprämie“ ein kumulatives Register. Nach fünf Jahren gab es das einmal. Die nächste Gelegenheit wäre das 25. Jahrbuch.

 9.

Das „Filmjahrbuch“ entsteht als Patchwork. Es baut sich auf aus ständig hinzugefügten Informationen. Es wächst im Computer bis zum Moment des Druckens. Ohne Datenbank und Rechner wäre das „Jahrbuch“ in seiner jetzigen Form nicht denkbar. Als Buch befindet es sich aber in einem Grenzbereich. Nutzbar ist sein Inhalt inzwischen auch über das Internet (http://www.movieline.de). Wann endet für diese Publikation die traditionelle Druckform auf Papier?

10.

Auf den letzten Seiten, damit der Druckbogen gefüllt ist, finden wir in der Regel Anzeigen. Sie sind Dokumente ihrer Zeit. Im „Filmjahr 1979“ wirbt der Hanser Verlag für die „Reihe Film“, der Goldmann Verlag für die „Citadel Filmbücher“, der Verlag Roloff und Seeßlen für die „Enzyklopädie des populären Films“, der Heyne Verlag für die „Heyne Filmbibliothek“, Günter Knorr für die Zeitschrift F, der Volker Spiess Verlag für die Zeitschrift Filme, der „Kino“-Leserservice für die Zeitschrift Kino, das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik für die Zeitschriften Filmbeobachter und medium. Die Heyne Filmbibliothek gibt es noch.

11.

20 Jahrbücher – 20 Titelbilder. Nach dem Superman (1979, zusammen mit sechs anderen Motiven) waren das: Shining (1980/81), Die letzte Metro (1981/82), Querelle (1982/83), Carmen (1984), Es war einmal in Amerika (1985), Susan – verzweifelt gesucht (1986), Jenseits von Afrika (1987), Archie & Harry (1988), Falsches Spiel mit Roger Rabbit (1989), Rain Man (1990), Himmel über der Wüste (1991), Schweigen der Lämmer (1992), Schtonk! (1993), Die Farbe Blau (1994), Forrest Gump (1995), Braveheart (1996), Sinn und Sinnlichkeit (1997), Rossini (1998), Lola rennt (1999). Das waren nicht immer die wichtigsten Filme des Jahres, auch nicht die erfolgreichsten. Es handelt sich um erinnerungswürdige Filme. Drei Titel aus den neunziger Jahren stammen aus Deutschland.

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Die erfolgreichsten Filme meldet in jedem Jahrbuch die „Hit-Box“. Die Nr. 1 waren 1979 Louis‘ unheimliche Begegnung mit den Außerirdischen, 1980: Das Dschungelbuch, 1981 James Bond – In tödlicher Mission, 1982 Cap und Capper, 1983 E.T. – Der Außerirdische, 1984 Die unendliche Geschichte, 1985 Otto – der Film, 1986 Männer, 1987 Otto – der neue Film, 1988 Dirty Dacing, 1989 Rain Man, 1990 Pretty Woman, 1991 Kevin – Allein zu Haus, 1992 Basic Instinct, 1993 Jurassic Park, 1994 Der König der Löwen, 1995 Während du schliefst, 1996 Independence Day, 1997 MIB – Men in Black, 1998 Titanic. In den achtziger Jahren waren vier deutsche Filme dabei, in den Neunzigern reduzierte sich der einheimische Erfolg auf einen deutschen Regisseur.

 13.

Der deutsche Film… Bis zum Ende der achtziger Jahre gab es ihn in West und Ost. Aber er wurde getrennt dokumentiert und nicht gegenseitig gewürdigt. Im Westen dominierte der Autorenfilm, im Osten der Staatsfilm. Für das Jahr 1989, kurz vor der deutschen Einigung, wurden im zehnten Jahrbuch erstmals die Filme aller deutschsprachigen Länder erfasst: der Bundesrepublik, der DDR, Österreichs und der Schweiz. Der Herausgeber hofft im Vorwort „auf ein besseres Miteinander“. Das wurde – zumindest politisch und organisatorisch – 1990 ermöglicht. Damit veränderte sich die Bundesrepublik und wandelte sich der deutsche Film. Das Jahrbuch dokumentiert dies nüchtern im filmischen Resultat. Die erfolgreichsten westdeutschen Filme waren 1979 Die Blechtrommel, 1980 Theo gegen den Rest der Welt, 1981 Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, 1982 Das Boot, 1983 Die Supernasen, 1984 Die unendliche Geschichte, 1985 Otto – der Film, 1986 Männer, 1987 Otto – der neue Film, 1988 Ödipussi, 1989 Otto – der Außerfriesische, die erfolgreichsten deutschen Filme 1990 Die unendliche Geschichte II, 1991 Werner – Beinhart, 1992 Otto – der Liebesfilm, 1993 Das Geisterhaus, 1994 Der bewegte Mann, 1995 noch einmal Der bewegte Mann, 1996 Werner – Das muß kesseln, 1997 Knockin‘ on Heaven’s Door, 1998 Comedian Harmonists. „Keine Explosionen mehr“, konstatiert unser amerikanischer Freund und Beobachter Eric Rentschler.

 14.

Auch nach zwanzig Jahren und am Ende des Milleniums steht das Kino noch im Mittelpunkt des Filmjahrbuchs. Aber die Zahl der dokumentierten Filme hat sich durch andere Verwerter gesteigert: Fernsehen und Video. 1979 gab es in der Bundesrepublik nur die ARD (mit dem Ersten und verschiedenen Dritten Programmen) und das ZDF. Inzwischen sind all die privaten Programmanbieter und die Videofirmen hinzugekommen. Das macht die Informationen umfangreicher, vielfältiger und komplizierter. Aber das Kino ist noch immer nicht tot.

 15.

Der Tod hielt reiche Ernte in den Jahren 1979 bis 1998. Große Regisseure haben uns verlassen: Alfred Hitchcock und Helmut Käutner (1980), René Clair und William Wyler (1981), Rainer Werner Fassbinder und Konrad Wolf (1982), Luis Buñuel (1983), Wolfgang Staudte und François Truffaut (1984), Orson Welles (1985), Otto Preminger und Andrej Tarkowskij (1986), John Huston und Douglas Sirk (1987), John Cassavetes und Sergio Leone (1989), Frank Capra und David Lean (1991), Satyajit Ray (1992), Federico Fellini (1993), Lindsay Anderson (1994), Louis Malle (1995), Marcel Carné (1996), Sam Fuller und Fred Zinnemann (1997), Akira Kurosawa (1998). Außerdem: Drehbuchautoren, Schauspielerinnen und Schauspieler, Kameraleute, Komponisten, Techniker, Produzenten, Kritiker und Funktionäre. 2.675 Tote in zwanzig Jahren nennt das „Filmjahrbuch“. Zunächst wurden sie nur namentlich aufgelistet, später sind ihnen kleine Nachrufe beigegeben. Erinnerungsarbeit.

 16.

Mehr als 300 Festivals soll es weltweit geben. Also beginnt an fast jedem Tag schon das nächste. Wer hat da noch den Überblick? Rund 60 Festivals und Filmtage dokumentiert das „Filmjahrbuch“ mit inhaltlicher Zusammenfassung und Nennung der Preisträger. Das ist wohl die Essenz des Geschehens im internationalen und deutschsprachigen Zusammenhang. Die „Academy Awards“ (Oscars) sind die berühmtesten internationalen Filmpreise. Der „Deutsche Filmpreis“ ist der wichtigste hierzulande. Auch bei der Suche, wer wann wo wofür welche Auszeichnung bekommen hat, ist ein Jahrbuch unverzichtbar.

 17.

Über die Desiderate der deutschsprachigen Filmliteratur beklagen sich Cineasten seit mehr als zwanzig Jahren. Wenn man alle Eintragungen des Filmjahrbuchs summiert, kommt man auf weit mehr als 2.000 Filmbücher. Eine ansehnliche Bibliothek. Auch Entlegenes ist dabei. Bedient werden Fans & Freaks ebenso wie Wissenschaftler & Kulturhistoriker. Das „Filmjahrbuch“ nimmt ein halbes Prozent der Neuerscheinungen in Anspruch. Es weist Wege zu den anderen 99 1/2 Prozent.

18.

20 Jahrbücher. Das sind 15.781 dokumentierte Filme und die genannten zusätzlichen Informationen auf 9.523 Seiten. Das erste „Filmjahr“, beim Kleinverleger Denicke, kostete 36 DM. Das jüngste Jahrbuch, beim Großverleger Heyne, kostet 29,80 DM.  Die Zahl der verkauften Exemplare kennt nur der Verlag. Ich unterstelle: er schreibt damit keine roten Zahlen.

 19.

So ein Jahrbuch macht man nicht allein. Das Impressum dankt über die Jahre verschiedenen Mitarbeitern. Zum Beispiel: Gabi Brandt, Andreas Dörr, Brita Geisler, Ursula Hecker, Wolf Jahnke, W.O.P Kistner, Johannes Klingsporn, Peter Koberger, Otto Kuhn, Karsten Prüßmann, Angelika Schaffer, Hans Schifferle, Rolf Selas, Uwe Wilk. Einer kann nicht mehr dabei sein: Norbert Stresau. Er starb 1991.

20.

Lothar R(ichard) Just gibt das Jahrbuch seit zwanzig Jahren heraus. Er ist Journalist, Kleinverleger, Pressesprecher, Orginisator, Anreger, ruhender Pol in Wirbelwinden. Er ist ohne Eitelkeit und voller Enthusiasmus – auch nach zwanzig Jahren. Seine beste Entscheidung war sicherlich, das Jahrbuch nicht im eigenen Verlag zu publizieren. Heyne und Just, das ist eine gute Liaison. Das Filmjahrbuch: ein Renner. Und nun, Lothar, mit Elan über die Jahrhundertschwelle!