Texte & Reden
14. November 1995

Karsten Witte (1944-1995)

Nachruf für den SDK-Newsletter

Er stammte aus Perleberg in Brandenburg und war einer der gebildetsten weltstädtischen Menschen, denen ich begegnet bin. Sein Studium (in Berlin, Göttingen, Chapel Hill/USA, Aix-en-Provence) begann er in Germanistik und Romanistik und beendete es 1970 in Vergleichender Literaturwissenschaft. Wurde Assistent in Frankfurt am Main, gab die Schriften Siegfried Kra­cauers heraus. Ab 1979 lebte er als Autor, Übersetzer, Kritiker und Dozent in Berlin. Lehraufträge an Hochschulen und Reisen für das Goethe-Institut führten ihn in alle Welt. 1990 berief ihn (spät) die Freie Universität auf den Lehrstuhl für Film am Institut für Theaterwissenschaft. Sein letztes Seminar galt der Verbindung von Film und Oper: „Don Giovanni“. Karsten Witte starb am 23. Oktober an den Folgen von AIDS.

Wir lernten uns 1971 kennen, trafen uns damals in einem Café nahe der Frankfurter Universität, als er für den Suhrkamp-Verlag eine Anthologie zur „Theorie des Kinos“ vorbereitete. Das erste Gespräch war eine tour d’horizon durch die Filmliteratur, ein Thema, das uns in den folgenden Jahren nie verloren gegangen ist. Immer wieder überraschte er durch Hinweise auch auf ent­legene Veröffentlichungen. Nachdem er seinen Lebensort nach Berlin verlagert hatte, wurde er für uns einer der angenehmsten, aufmerksamsten Gäste, mit unaufdringlicher Kennerschaft des Kulinarischen. Im Gespräch insistierte er auf Genauigkeit und Fairness.

Seine Interessengebiete waren ausgreifend und doch eng miteinander verbunden: Musik, Theater, Literatur, Kunst, Philosophie, Film. Er war Spezialist für das Kino in Italien (Visconti, Bertolucci, die Tavianis), Frankreich (Bresson, Melville, Godard), Japan (Ozu, Mizuguchi, Naruse, Oshima), Deutschland (Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Neuer deutscher Film), später auch Afrika. Er war interessiert an den Grenzlinien zwischen Literatur und Film (Cocteau, Duras, Pasolini), an Außenseitern (Straub/Huillet, Tarkowskij), an Schauspielern (Dolly Haas, Zarah Leander, Hans Moser). Nur am Rande hat ihn das Hollywood-Kino beschäftigt. Dessen Erzählweise verlangte ihm zu wenig intellektuelle Anstrengung ab.

Seine außerordentliche Fähigkeit, Strukturen, Details, Subtexte und innere Schwingungen eines Films wahrzunehmen, zu entziffern und zu beschreiben, gab seinen Texten ihren Reichtum an Gedanken, Assoziationen und Formulierungen. Er war präziser Analytiker und auch – wenn es darauf ankam – subtiler Poet. Die Anthologie ausgewählter Aufsätze und Kritiken („Im Kino. Texte vom Sehen & Hören“, Frankfurt am Main 1985) ist immer wieder lesenswert.

In der Zusammenarbeit, bei der Redaktion seiner Texte, erinnere ich mich an keinen Konflikt. Er reizte jede Terminverlängerung bis zur letzten Sekunde aus, schrieb seine Beiträge nach intensiver Vorbereitung in atemberaubender Geschwindigkeit und war ein konzilianter Gesprächs­partner, wenn es darum ging, komplizierte Sätze zu entflechten oder entlegenste Fremdworte zu entschlüsseln. Mit einem Essay von Karsten Witte hatte eine Publikation ihr Zentrum.

In sehr persönlichen Nachrufen haben Wolfram Schütte (Frankfurter Rundschau), Gerd Matten­klott (Der Tagesspiegel) und Andreas Kilb (Die Zeit) Abschied genommen von einem Freund und Kollegen. Sie verweisen auf Kracauer als Schlüsselfigur für Karsten Wittes geistige Biografie. In der Tat war er mehr ein freischaffender Intellektueller als beamteter Wissenschaftler. Und welch ein Glücksfall, dass sein ‚Hauptwerk‘ über die Filmkomödie im Dritten Reich doch noch als Buch erschienen ist. Seinen Nachlass – mit einer für die heutige Zeit ungewöhnlich reichen Korrespon­denz – wird die Kinemathek verwahren und pflegen.

SDK-Newsletter, Nr. 6, November 1995.