15. Januar 1991
Geschichte / Kalter Krieg
Nachwort zur Dokumentation der Retrospektive
Drei Retrospektiven zur Filmgeschichte und Zeitgeschichte
1 Zweiteilig geplant, ist eine Trilogie daraus geworden, weil sich die Weltgeschichte 1990 während unserer Beschäftigung mit Film-geschichte verändert hat. Zuerst: Europa 1939 und der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dann: Das Jahr 1945 und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Schließlich: Die Jahre von 1948 bis 1972 und der Kalte Krieg. Drei Retrospektiven, bei denen Filmgeschichte und Zeit-geschichte in eine größtmögliche Nähe zu bringen waren. Nach drei Jahren Arbeit, in denen wir drei umfangreiche Filmprogramme zusammengestellt und dazu drei Publikationen auf den Weg gebracht haben, sind ein paar Nachgedanken angemessen.
2 Unsere Retrospektiven wenden sich an Zuschauer, die – inmitten der Hektik eines internationalen Festivals – Lust haben auf einen relati-vierenden Blick zurück, die neugierig sind auf ein paar immer wieder versäumte Filme, die sich möglicherweise sogar auf ein Thema ein-lassen und regelmäßig kommen. Retrospektiven sind keine Lehrveran-staltungen, auch wenn man dort eine ganze Menge lernen kann. In der Summe werden Historiker enttäuscht sein vom Ertrag unserer drei zeitgeschichtlichen Reihen. Und auch die Cineasten sind nicht voll auf ihre Kosten gekommen. Andererseits war die Resonanz – die direkt spürbare und die im Nachhinein veröffentlichte – sehr positiv. Also muss das Programm, jenseits mancher grundsätzlichen Zweifel, einem akuten Film- und Geschichtsinteresse entsprochen haben. Wir haben einige Schneiden geschlagen (denn das Terrain war zunächst nicht überschaubar), wir haben uns zu Lücken bekannt, zum gedanklichen Mitspielen aufgefordert, und ein bisschen haben wir wohl auch provoziert. Es gab Meinungsstreit. Im Kino und danach.
3 Karsten Witte hat in seinem Essay über „Europa 1939“ davor gewarnt, im Querschnitt eines Jahres so etwas wie den Zeitgeist erfassen zu wollen. Für Witte gibt es die „biologische Zeit“ („Ihr zufolge sind Sartre und Wiechert unbehelligte Zeitgenossen.“) und die „historische Zeit“ („Fällt aber auf beide das Licht historischer Zeit, zerfällt die angenommene Zeitgenossenschaft, denn beide Autoren gehören einer deutlich anderen Reihe an. Auguste Renoir und Pablo Picasso malten zur gleichen Zeit, aber, um es herauszuheben, in verschiedenen Zeiten. Zwischen beider Bilder ging ein Riss.“). Witte relativierte den Anspruch der Retrospektive und charakterisierte seine Arbeitsmethode folgendermaßen: „Der Wunsch, auf die Epoche vor fünfzig Jahren zurückzublicken, ist eine Sehnsucht, die nur Anhänger der biologischen Zeit nähren können. Die Aufgabe des Historikers ist eine andere. Er rekonstruiert nicht, um der Gestalt des Zeitgeistes ein Kostüm zu verpassen. Er erforscht, wie Georg Kubler forderte: ‚die vielfältigen Formen der Zeit’. Sichtbar wird diese Vielfalt in der Geschichte der Dinge, zu denen Filme, Bücher, Kompositionen oder Gemälde auch zählen. Film in Europa 1939 kann mithin keine Beschreibung der nationalen Produktionszusammenhänge sein, die dem viel geübten Modell des Länderpanoramas folgte. Zu leisten sind fragmentierte Erkenntnisse, die vom Material zufällig verfügbarer, aleatorisch überlieferter Filmzeugnisse ausgehen. Geboten ist gegen jeglichen imperialen Zugriff dabei die Rettung des mikrohistorischen Details, des Streiflichts wie des Schlagschattens.“
In einem klugen Assoziationsnetz verknüpfte Witte in seinem Essay literatur-, musik-, kunst- und filmhistorische Motive und leistete damit für die Entzifferung der Filme jenes Jahres eine Hilfestellung. Das missfiel dem Filmkritiker Claudius Seidl, der grundsätzlich nur den eigenen Augen traut und auf Fremdwissen allergisch reagiert.
Die Replik von Seidl war radikal und simpel (Süddeutsche Zeitung, 18.2.1989): „Filme haben keine Geschichte. Sie setzen keine Patina an, und es wachsen ihnen auch keine Jahresringe. Filme kann man nicht pflegen, wie man alte Möbel pflegt, und wenn man sie ins Museum stellt, geben sie nichts von ihrer Wahrheit preis. Filme werden nicht klüger oder reifer mit der Zeit, und gegen Altersschwachsinn sind sie immun. Ein Film ist immer Gegenwart – oder er ist überhaupt nichts. Wenn wir also heute einen Film sehen, der vor fünfzig Jahren gedreht wurde, dann betreten wir durch die Kinotür keine Zeitmaschine und sind auch nicht eingeladen auf eine Besichtigungstour durch das Jahr 1939. Viel eher besichtigen wir unsere Projektion, unsere Vorstellung von jenem Jahr. Wir glauben, schon die Schatten der Zukunft zu schauen, wir spüren eine Ahnung der Dinge, die da kommen werden – obwohl vermutlich weder die Autoren des Films noch sein Premieren-publikum von diesen Schatten und Ahnungen etwas wussten. Wir aber kennen die Zukunft, und dieses Wissen kann man nicht an der Garderobe abgeben. Für die Besucher der Retrospektive ‚Europa 1939’ bleibt also Misstrauen die oberste Pflicht, und Besserwisserei ist ein schlechter Ratgeber.“
Natürlich haben Filme eine Geschichte. Ihre Spuren zu suchen, Indizien zu überprüfen, Details zu entdecken – das heißt doch nicht, sich in die damaligen Zuschauer (oder Autoren) zurückzuversetzen, sondern eine Verbindung herzustellen zwischen damals und heute. Das hat auch wenig mit Besserwisserei zu tun, sondern viel mit komplexer Wahrnehmung. Nur auf heutige Wirkungen zu achten, ist vielleicht ein bisschen zu wenig, wenn man Filme von gestern anschaut. So kam es über einige Texte zu „Europa 1939“ nicht zu einem Historiker-, sondern zu einem Kritiker-Streit. Aber das ist doch keine schlechte Gesellschaft für eine Retrospektive.
4 Besucht wurde die Reihe „Europa 1939“ von 10.000 Zuschauern. Die beiden erfolgreichsten Filme stammten aus Frankreich: le jour se lève und la règle du jeu. Gestritten wurde am meisten darüber, ob der deutsche Film drei unteroffiziere von Werner Hochbaum den Krieg verherrliche oder ob er ihn letztlich verurteile. Manchmal vermisst man in Diskussionen die Zwischentöne.
5 Zur Retrospektive „Das Jahr 1945“ kamen 16.000 Besucher. Die erfolgreichsten Filme waren kol berg und tiefland, les dames du bois de boulogene und roma città aperta. Das Interesse an Harlan und Riefenstahl sollte nicht falsch interpretiert werden: Die Neugierde der Nachgeborenen ist legitim, die älteren Nostalgiker bleiben längst weg.
Dennoch war das größte Streitobjekt sicherlich der Film von Leni Riefenstahl – oder genauer: der Text, den Helma Sanders-Brahms für den Katalog über den Film geschrieben hatte. Ihre Interpretation ist in der Tat eigenwillig: „Der Film erzählt nicht nur die Geschichte der Zigeunerin, die zur Geliebten des Tyrannen wird, die dabei lernt, den Tyrannen zu hassen und ihm schließlich den Tod wünscht – er erzählt auch, und ziemlich unverschlüsselt, die Geschichte Leni Riefenstahls, die den Usurpatoren dienstbar war und sich bewusst wurde, dass sie ihre Fähigkeiten, ihre Kunst den Falschen gegeben hatte.“ Und: „Leni Riefenstahls Film ist ein klar lesbarer, nur wenig verschlüsselter Aufruf, die Herrschaft der Usurpatoren zu beenden.“ Schließlich: „Zweifellos war Leni Riefenstahl von den NS-Regisseuren am kühnsten, am eigenwilligsten, am extremsten. Damit weist sie sich – ob man nun ihre Arbeit mag oder nicht – als Künstlerin aus. Inhaltlich zeigt ihr Film deutlich, dass sie das Ende der Nazis wünschte, es mit ihrer Arbeit möglicherweise herbeiführen helfen wollte. Woran liegt es, dass sie dennoch, fünfzig Jahre nach diesem Film, unter allen Künstlern, die in den Sog des NS-Wahns geraten waren, am wenigsten Gnade, nicht einmal Gerechtigkeit erfahren hat?“
Die Rolle des Replikanten spielte in diesem Fall Horst Pöttker (Medium 2/1990). Seine Lesart von tiefland ist eine Überlegung wert: „In Wahrheit zeigt Riefenstahls Film nicht einen Tyrannenmord, sondern einen Zweikampf zwischen zwei Herrenmenschen um das – auch so genannte – ‚Weib’, einen Zweikampf, in dem zwar der reiche Adlige am Ende dem armen Hirten unterliegt, aber nicht etwa, weil er der Unter-drücker, sondern weil er gegenüber dem fellbekleideten Naturburschen aus dem in erhabener Unberührtheit sich auftürmenden Hochgebirge der Schwächere ist. Das Recht des Stärkeren setzt sich durch, die Biologie triumphiert. Diese sozialdarwinistische Sicht der Dinge ist von der ersten Szene an deutlich, in der der Schäfer mit bloßen Händen einen Wolf erwürgt. Die alte, feudale Herrscher-Klasse wird durch eine unverbrauchte blonde Herrscher-Rasse ersetzt: Das ist von Anfang an das pseudo-revolutionäre Element des Nationalsozialismus gewesen.“
Pöttkers extreme Differenz zur Interpretation von Sanders-Brahms verleitet ihn dann allerdings zu Invektiven, die mit dem Begriff Disput nicht mehr abgedeckt sind: „Angst geworden“, sei ihm „vor dem, was jetzt wieder Oberhand gewinnt“, Sanders-Brahms gehe „noch immer (oder schon wieder?) auf diesen Leim“ und „noch einmal in die Falle der NS-Propaganda“, sie lasse „Entschuldigungsgründe gelten, die auch schon ein Adolf Eichmann für sich in Anspruch genommen hat und die zum Standard-Repertoire des in die Vernichtungsmaschine involvierten Spießbürgers gehören“, und sie tue das, „weil ‚Leni’ eine Frau ist.“
Wie Beutestücke spießt Pöttker Zitate auf, die seinem Deutungsmuster widersprechen, und wirft sie in den Mülleimer des Ideologieverdachts. Er unterschlägt dabei den Kontext, den Helma Sanders-Brahms selbst durch ihre anderen Beiträge im Katalog für diese Riefenstahl-Lesart hergestellt hat, und emotionalisiert durch sein Gut-Böse-Schema die Auseinandersetzung unnötig. Fritz Göttler resümiert (steady cam, Nr. 16, 1990): „Die Geschichte wird nie fertig, und wir werden nie fertig mit unserer Geschichte. Darin besteht unsere Chance. Und in jedem Bild einer Zeit sind der Möglichkeit nach die anderen Bilder enthalten. Es ist nur eine Frage der Einstellung.“ Und: „Das Jahr 1945: Die Einheit der Zeit, die das Stichwort suggeriert, zersplittert beim Sehen der Filme, bei der Verschiedenheit ihrer Schauplätze und ihrer Handlungen: eine Fülle von Filmen und Perspektiven, eine Fülle von Autoren und Texten, die darüber hinaus der Begleitband zur Reihe bietet. Was zunächst als Rat- oder Planlosigkeit erscheinen könnte, ist kein bequemer Pluralismus, der die Last der Entscheidung auf den Zuschauer abwälzt. Im neuen Kontext verändern sich auch die alten Filme.“
Die Erfahrung hat auch den Text geprägt, den Norbert Grob für die Publikation „Das Jahr 1945“ verfasst hat. Zu Beginn seines „Streifzugs durch 53 Filme“ heißt es dort: „Von Wunden, Leiden und Tod, von Narben, Trauer und Erinnerung wird im Folgenden die Rede sein. Ab er nicht als Thema, das die Werke der Abhandlung unterwirft, sondern als Spuren, die hinführen zu der Vorstellung, die Filmkünstler sich machten von diesem Jahr. Die Filme dabei im Einzelnen zu sehen, heißt: sie in ihrer jeweiligen Fiktion ernst zu nehmen, ohne darüber die besonderen Bilder oder Dialoge zu übersehen. Sie ganz bruchstückhaft und offen, nur vorläufig und skizzenhaft zu charakterisieren, heißt, die filmhistorische Annäherung an diese Bilder und Szenen, an diese Dialoge und Kommentare als eine Sichtweise unter anderen zu begreifen. Die Kinogeschichte dieses Jahres 1945: Sie ist weder synchronisch (als Interpretation einzelner Filme – wie ‚einzelne Punkte auf der Zeitachse’) noch diachronisch zu verstehen (als deutliche Folge filmischer Formen und Strukturen), sondern archäologisch oder ‚mikrohistorisch’: als Spurensuche nach einzelnen, wahren Fragmenten des Films, nach den geheimnisvollen Bildern und Szenen, die in sich eine doppelte Tiefe haben: die des Lebens wie die seiner ‚Schrift’, des Kinos.“
6 Wenn ich jetzt, Mitte Januar 1991, diese Nachgedanken nieder-schreibe, ist das Kino gegenüber dem Leben in den Hintergrund getreten. Die Welt hat sich wieder, aber ganz anders als 1990, verändert. Die Vorbereitung der Retrospektive Kalter Krieg wurde in friedlicher Zeit –„The Cold War Is Over“ – begonnen. Sie ist plötzlich überlagert von einem Krieg, wie er kaum noch vorstellbar erschien. Die deutsche Einigung hat den Blick auf die Filme des Jahres 1945 verändert. Was bedeutet der Krieg am Golf für den dritten Teil unserer Retrospektive? Manchmal werden Zeitgeschichte und Filmgeschichte auf schreckliche Weise von der Gegenwart in Frage gestellt.
Nachwort. Kalter Krieg. 60 Filme aus Ost und West. Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek 1991.