Texte & Reden
15. Juni 1965

Findet der deutsche Film bei der DEFA statt?

Text für die Zeitschrift Film

In der DDR hat sich das vollzogen, wovon in der Bundesrepublik noch immer nur geträumt wird: ein Generationswechsel der Filmregisseure. Während in den fünfziger Jahren Kurt Maetzig (geboren 1911) das höchste offiziöse Ansehen genoss, geht heute dem 39jährigen Konrad Wolf dieser Ruf voraus. In seinem Schatten und doch unübersehbar haben sich andere junge Kräfte nach vorne geschoben: Frank Beyer, Ralf Kirsten und Frank Vogel (alle drei Absolventen einer Filmhochschule) oder versierte DEFA-Praktikanten wie Joachim Hasler, Günter Reisch und Joachim Kunert. Diese Namen haben im Film-schaffen der DDR bereits einen guten Klang; in der Bundesrepublik sind sie dagegen kaum geläufig, wie das auch vielen Schauspielern geht.

Die Verjüngung des DEFA-Stabes ereignete sich nicht plötzlich und unvorhersehbar. Ihr ging keine Palastrevolution voraus; die neuen, gut ausgebildeten Regisseure sind vielmehr langsam in die Spitzen-positionen hineingewachsen. Sie haben sich nicht mit Geniestreichen eingeführt. Ihre Debütfilme waren eher indifferent und animierten niemanden zu optimistischen Prognosen. Erst zu Beginn der sechziger Jahre, als die Gestaltungs- und Gesinnungsklischees der altgedienten DEFA-Garde offenbar wurden, nutzten die jungen Kräfte ihre Chancen. Sie verhielten sich nach dem 13. August 1961 politisch opportun und leisteten gleichzeitig bemerkenswerte Beiträge zum Arbeitsprogramm einer „Sozialistischen Filmkunst“. Hier soll die Rede sein von Frank Beyer, Ralf Kirsten und Frank Vogel, die auf besondere Weise den DDR-Film profiliert haben.

Nach Konrad Wolf ist Frank Beyer das größte Talent, über das die DEFA verfügt. Der heute 33jährige Regisseur  hat sich nicht nur einen großen künstlerischen Spielraum geschaffen, er kann es sich auch erlauben, das kulturpolitische Konzept seines Ministeriums zu kritisieren und Zweifel an der Kompetenz der dortigen Mitarbeiter anzumelden: „Im Bereich der Industrie ist es heute bei uns schon undenkbar, dass ein leitender Mitarbeiter eines Ministeriums nicht ausgebildeter Fachmann in seinem Bereich ist. Fragen Sie aber einmal im zuständigen Bereich des Ministeriums für Kultur nach ausgebildeten Fachleuten des Films! … Wir stoßen immer wieder auf erschreckende Unkenntnis.“ (Beyer in einem aufsehenerregenden Interview in der Ostberliner Zeitschrift Forum).

Trotz resoluter Stellungnahme ist Beyer kein Enfant terrible, sondern wird gern zur DEFA-Repräsentation herumgereicht, da er bescheiden und verbindlich aufzutreten versteht und in Diskussionen durch präzise Argumentation und kluge Selbsteinschätzung auffällt. Beyer war nach dem Besuch der Oberschule Kulturbundsekretär und Dramaturg. Er absolvierte die Filmhochschule in Prag und begann in Babelsberg als Regieassistent bei Kurt Maetzig. Seine ersten selbständigen Inszenie-rungen, zwei mütter (1957) und eine alte liebe (1959), gaben nur wenige Indizien einer außerordentlichen Fähigkeit. In fünf patronenhülsen (1960) verarbeitete Beyer eine Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg zu einer effektvollen antifaschistischen Abenteuergeschichte. Diese erste große Aufgabe offenbarte bereits zwei Begabungen: ein am sowjetischen Film geschultes Organ für dynami-sche Montagen und eine sichere Hand in der Darstellerführung.

Mit zwei weiteren Filmen setzte sich Beyer endgültig durch: mit königskinder (1962) und nackt unter wölfen (1963). Die Metapher der Königskinder übertrug der Regisseur auf die Geschichte eines Liebespaares, das 1933 getrennt wird und die politischen Wirren teils im Untergrund und in Straflagern, teils in der Sowjetunion über-steht. Der Konstruktionscharakter des Films wurde durch ein kompli-ziertes Rückblendensystem und eine modernistische Fotografie eher betont als verborgen, doch Beyers Anlauf auch zum formalen Experi-ment fand weithin Beachtung. Frei von allen Exaltationen hielt der Regisseur seinen Film nackt unter wölfen. Nach dem Roman von Bruno Apitz gelang hier der Versuch, die letzten Tage des Lagers Buchenwald vor dem Aufstand der Häftlinge und der Befreiung zu rekonstruieren. Die Geschichte eines kleinen Kindes, das die illegale Lagerorganisation vor den deutschen Wächtern versteckt hält, ist der Ausgangspunkt dramatischer Geschehnisse. Natürlich vermochte Beyer nicht die KZ-Wirklichkeit zu reproduzieren. Doch dieser Schwierigkeit war er sich bewusst: „Die bekannten Dokumentarfilme über die Verbrechen des Faschismus beweisen uns immer wieder, dass eine exakte Rekonstruktion unmöglich ist. Es kann also beim Spielfilm immer nur darum gehen, bestimmte innere Vorgänge, bestimmte geistige, weltanschauliche und moralische Haltungen transparent zu machen.“

In einer ganz anderen Tonart versuchte sich der Regisseur mit dem Lustspiel karbid und sauer ampfer (1964). Dieser Film über eine Odyssee im Sommer 1945 stellte die konventionell-tragische Perspek-tive, aus der jene Zeit in der DEFA-Produktion gemeinhin betrachtet worden ist, in Frage. Kalle, die Hauptfigur des Films (dargestellt von Erwin Geschonneck), ist an sich ein ernster Mann, der die schwierige Aufgabe übernommen hat, sieben Fässer Karbid von Wittenberg nach Dresden zu schaffen. Seine Komik bezieht der Film aus den Situationen, in die Kalle verstrickt wird, aus den Schlichen, die er sich einfallen lassen muss. Da dies Beyers erstes Lustspiel war, machten sich noch stilistische Unsicherheiten, besonders in der unbedenklichen Verwen-dung von Gags, bemerkbar. Unter den DEFA-Vergnügungen der letzten Jahre war karbid und sauerampfer indes das weitaus gelungenste.

Dass Beyer innerhalb kurzer Zeit in die erste Reihe der DEFA-Regisseure aufrücken konnte, hängt auch mit einer glücklichen Hand in der Wahl seiner Mitarbeiter zusammen. Er hat häufig mit den gleichen Schauspielern gearbeitet (Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl), und alle seine Filme fotografierte Günter Marczinkowsky, einer der besten Kameramänner der DDR. Inzwischen ist Frank Beyer mit den Dreharbeiten an einem Gegenwartsfilm beschäftigt: Er verfilmt den DDR-Bestseller 1964, „Spur der Steine“ von Erik Neutsch. Thema der 900-Seiten-Vorlage sind die Aufbaukrisen des Sozialismus in der DDR, dargestellt an einer Großbaustelle. Der Autor hat nicht mit Kritik an Unproduktivität und Dogmatismus gespart. Die Konflikte zwischen privaten Anspruch und Interesse der Partei sind bei Neutsch freilich etwas schematisch geraten, aber gerade hier könnte eine Verfilmung aufbessern: wenn sie die Charaktere vertieft und allzu dramatische Konflikte vereinfacht. Frank Beyer hat sich mit seinem ersten Gegenwartsfilm zweifellos eine problematische Aufgabe eingehandelt.

Ralf Kirsten, 34 Jahre alt, gilt als liebenswert und clever. Bei den Dreh-arbeiten lässt er sich gern wie ein „guter Kumpel“ behandeln. Kirsten studierte nach dem Abitur zunächst Germanistik in Leipzig, wechselte dann an das Theaterinstitut in Weimar und belegte schließlich an der Prager Filmhochschule das Fach Regie. Er sammelte seine ersten Erfahrungen beim Kinderfilm (bärenburger schnurre und skimeister von morgen, beide 1957, schildern das Leben junger Pioniere). Kirstens erster Spielfilm sollte den Trümmerfrauen des Nachkriegsdeutschlands ein Denkmal setzen, doch die steinzeit-ballade (1960) konstruierte allzu verwegen den Beginn eines Kollektivbewusstseins und war nur in wenigen Milieuszenen gelungen. Kritik und Publikum zeigten Ablehnung. Ganz anders verhielten sie sich bei Kirstens zweitem Film, der Komödie auf der sonnen- seite (1961). Diese mit leichter Hand inszenierten Episoden aus dem Leben eines Schauspielschülers, der sein Glück bei einer Baubrigade macht, fanden allgemeines Wohlwollen, Besonders amüsant wurde der Film auch durch Manfred Krug, der die Rolle des leicht überheblichen Draufgängers mit ironischer Distanz absolvierte. Krug, eigentlich der einzige DEFA-Darsteller im Range eines Idols, blieb Ralf Kirsten treu. Er spielte bei ihm zunächst einen dankbaren Part in der beschrei-bunG eines sommers (1963): einen zynischen Bauingenieur, der sich in einer Brigade mit einer verheirateten Frau liiert. Der Film ironisierte den forschen Aufbauoptimismus auf einer FDJ-Baustelle und schilderte freizügig die Widersprüche zwischen Individuum und sozia-listischer Gesellschaft. Die Lösung des Konflikts, für den sich die Partei verantwortlich fühlt, ließ der Film allerdings offen.

Der Regisseur neutralisierte seine Engagement für die Gegenwart dann mit einer temperamentvollen Haudegen-Komödie aus der Zeit August des Starken: mir nach, canaillen! (1964), wo Manfred Krug auf „Fanfans“ Spuren ritt. Der großzügig ausgestattete Film wurde ein Kassenschlager, weil er allen Unterhaltungsbedürfnissen des Publi-kums entgegenkam. Doch Kirsten wird auf diesem Weg des geringsten Widerstandes nicht weitergehen. Er hat sich einen spröden Stoff gesucht, der ein hohes Maß an Sensibilität verlangt: Unter dem Titel der verlorene engel soll ein Tag im Leben Ernst Barlachs rekonstruiert werden. Fred Düren spielt die Hauptrolle. Und Kirsten sieht in diesem Projekt eine Möglichkeit, seinen robusten Filmstil zu verfeinern.

Bei dem 35jährigen Frank Vogel fallen die Prognosen besonders schwer. Die unausgeglichenen Filme, die dieser hagere, große, intro-vertierte Regisseur bisher vorgezeigt hat, weisen ihn als zwar undogma-tisch, aber affektgeneigt aus. Vogel studierte nach dem Abitur Germanistik (und hat noch heute einen für die Filmregie verhängnis-vollen Hang zur Lyrik). Er besuchte – wie Konrad Wolf – die Moskauer Filmhochschule und drehte 1958 als Examensarbeit ein harmloses Lustspiel: klotz am bein. Seinen zweiten Film, die entschei-dung des dr. ahrendt (1960), bezeichnet Vogel heute als „ästhetischen Irrtum“, weil er für die Personen und ihre Konflikte keine realistische Basis gefunden habe. Auch in seinem nächsten Film entfernte sich der Regisseur von der Wirklichkeit: Er ließ einen Mann aus dem Jahre 2222 die Rückständigkeit eines Textilbetriebes des Jahres 1960 beseitigen. Die erhofft Komödie (betitelt der mann mit dem objektiv) erwies sich als simpel und reichlich albern.

1961 bereiteten Vogel und sein Drehbuchautor Paul Wiens eine Dreiecksgeschichte (Liebe zwischen Ost- und Westberlin) vor, die durch den 13. August überholt wurde. Der Regisseur entschloss sich schnell, den alten Plan mit den neuen Realitäten zu verbinden. Die Story wurde auf das „historische Datum“ zugeschnitten, und Vogel versuchte, das Unternehmen durch Improvisationen und stilistische Extravaganzen aufzuwerten. Doch sein Film mit dem sentimentalen Refraintitel …und deine liebe auch blieb im Stadium der propa-gandistischen Apologie stecken. Dann folgte julia lebt (1963). Der Film hielt sich lange im Gespräch, weil sich an seinem Konstruktionscharakter die Gemüter schieden. Ein Grenzsoldat schwankt da zwischen einem Mädchen der High Society und einer braven Krankenschwester, bis er an der „Staatsgrenze“ erschossen wird. Auch dieser Film wirkte formal hochgezüchtet, war angestrengt modernistisch fotografiert und deckte so die unentschlossene Haltung gegenüber den Konflikten zu.

Trotz so gravierender Einwände gegen seinen Filmstil darf Frank Vogel als Talent gelten. Sein Problem ist, dass er bisher nicht die adäquate Korrespondenz zwischen Thema und Form gefunden hat. Die Erwartungen richten sich nun auf seinen neuen Film, der im Herbst uraufgeführt werden soll. Unter dem ungewöhnlichen Titel denk bloss nicht, ich heule wird ein Stück aus dem Leben junger Leute erzählt. Die Einzelheiten der Geschichte werden vorerst geheim gehalten, und der Regisseur hat hinter verschlossenen Türen gedreht. Diese Vorkehrungen gelten nicht als Werbetricks. Frank Vogel wollte nur in aller Ruhe arbeiten, damit sein Film nicht vor der Fertigstellung zerredet wird. Vielleicht erhalten wir schon bald Aufschluss über seine tatsächliche Begabung.

Im offiziösen Ansehen sind Joachim Hasler, Günter Reisch und Joachim Kunert höher eingestuft als etwa Kirsten und Vogel. Doch Hasler (seit 1951 Kameramann bei der DEFA, seit 1957 auch Regisseur, 36 Jahre alt) ist eher technisch als thematisch zum Experiment aufgelegt. Er gilt als Spezialist für das Totalvision-Verfahren und für antiwestdeutsche Tendenzfilme. Seinen jüngsten Film, chronik des mordes, haben die DDR-Kritiker zwar mit dem obligatorischen Gesinnungslob bedacht, doch intern klingen die Meinungen wenig schmeichelhaft. Haslers Geschichte einer Selbstjustiz in der Bundes-republik hat verdächtig viele sachliche Fehler und schlägt aus der puren Kolportage propagandistisches Kapital. In seinen Intentionen war dieser Regisseur aber schon immer genügsam. Günter Reisch (37 Jahre alt, seit 1956 DEFA-Regisseur) kopiert den Stil seines Lehrmeisters Kurt Maetzig. Sein Hang zum Spektakulären hat ihm die Regie des zweiteiligen Karl Liebknecht-Films (solange leben in mir ist / trotz alledem) eingebracht, obwohl solche Organisation der Historie bisher nicht seine Sache gewesen ist. Joachim Kunert (35 Jahre alt, debütierte 1956 als Regisseur) ist für handwerklich saubere Konfektion bekannt. Mit den abenteuern des werner holt (vgl. Film 3/1964) hat er einen immerhin beachtenswerten Film über die faschistisch manipulierte Jugend geliefert. Dass Hasler, Reisch und Kunert zur ersten DEFA-Garnitur zählen, hängt nicht zuletzt mit ihrem Bekenntniseifer, mit ihrer Kompromissbereitschaft und mit ihrer frühzeitig erworbenen Routine zusammen.

Einige Mittdreißiger, denen vor wenigen Jahren noch eine Karriere vorausgesagt wurde, haben ihre Versprechen nicht eingelöst: Heiner Carow etwa, der 1958 einen sehr eindrucksvollen Film über Verfolgung und Widerstand in der Nazi-Zeit drehte (sie nannten ihn amigo) und an diese Leistung nicht anknüpfen konnte. Andere Regisseure der jungen Generation haben sich dagegen einen offiziösen Ruf eingehan-delt, der durch ihre Werke gar nicht gerechtfertigt wird: zum Beispiel Janos Veiczi, der seit 1957 bei der DEFA arbeitet und dessen Spionage-film for eyes only (1963) maßlos überschätzt wird. In diesem Jahr ist noch mit einigen interessanten Debütanten zu rechnen. Egon Günther, bisher Drehbuchautor, arbeitet an einem Film über moderne Eheprobleme (lots weib). Günther Rücker, früher ebenfalls Autor, inszeniert eine Geschichte aus dem Nachkriegsdeutschland: die besten jahre. Kurt Barthel, Regieassistent beim geteilten himmel und nicht identisch mit dem Verseschmied Kurt Bartel (= Kuba), verfilmt ein Drehbuch von Christa und Gerhard Wolf (schmetterling). Zuwachs kommt auch vom Fernsehen: Hans-Joachim Kasprzik, der zuletzt in Adlershof eine vierteilige Filmfassung von Falladas „Wolf unter Wölfen“ inszeniert hat, begnügt sich allerdings mit einer kleinen Komödie nach dem Roman „Meine Freundin Sybille“ von Rudi Strahl. Kasprzik könnte, sofern ihm die DEFA ein großes Thema anvertraut, schnell in die erste Reihe der Regisseure eindringen, da bei ihm formale Begabung und gesellschaftliches Bewusstsein offensichtlich korrespondieren.

Die Neigungen zum Experiment, die Chancen für einen Außenseiter sind in Babelsberg noch nicht sehr groß. Zu viele Rückversicherungen müssen die Filmschöpfer eingehen. So kann auch von einer Erneuerung des Films – vergleichbar der Entwicklung in der CSSR – nicht die Rede sein. Ein  neuer Optimismus bei der DEFA ist immerhin dort gerecht-fertigt, wo es um die Verjüngung der „Schöpferkollektive“ geht. Der Nachwuchs hat in der DDR eine Chance. Wer würde das so ohne weiteres von der Bundesrepublik behaupten?

Film (Velber), Juni 1965, Nr. 6.