Texte & Reden
26. Februar 2023

Meine 62 Berlinalen

Seit 1960 habe ich in jedem Jahr die Berlinale besucht. Zuerst als Berichterstatter für den „Schwarzwälder Boten“, dann als Studienleiter der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, dann als Leiter der Retrospektive, die von der Deutschen Kinemathek verantwortet wurde, und seit 2007 als Filmhistoriker im Ruhestand. Hier ist ein sehr persönlicher Rückblick auf meine 60 Berlinalen.

1960

1960GodardMeine erste Berlinale. Ich fahre von München nach Berlin als Bericht-erstatter für den „Schwarzwälder Boten“. Im Wettbewerb (die Vorfüh-rungen finden im Zoo-Palast und in der Film-Bühne Wien statt) sehe ich unter anderem die Filme inherit the wind von Stanley Kra-mer, wild river von Elia Kazan, the angry silence von Guy Green, a bout de souffle von Jean-Luc Godard (Foto), le jeux de l’amour von Philippe de Broca (Eröffnungsfilm), pickpocket von Robert Bresson, il mattatore von Dino Risi und kirmes von Wolfgang Staudte. Die Jury unter Leitung von Harold Lloyd vergibt den „Goldenen Bären“ an den spanischen Film der schelm von salamanca, den ich nicht gesehen habe. Ich bin beeindruckt von der Atmosphäre des Festivals. Leiter der Berlinale ist seit Gründung des Festivals der sehr selbstbewusst wirkende Jurist und Filmhistori-ker Alfred Bauer. Sein Pressechef ist Hans Borgelt, der sich vor allem um die anreisenden Stars kümmern muss. Das sind in diesem Jahr zum Beispiel Cary Grant, Gene Kelly, Jean Gabin, Richard Atten-borough und Richard Widmark. Ich erlebe zum ersten Mal, wie über-raschend Jury-Entscheidungen sein können, denn für den spanischen Film gab es keine Optionen. Immerhin erhält Jean-Luc Godard den Regie-Preis. Nach der Bären-Verleihung wird der Film das glas wasser von Helmut Käutner uraufgeführt, eine leider sehr konven-tionelle Komödie. – Im Herbst 1960 ziehe ich nach Berlin um.

1961

1961.La notteWilly Brandt eröffnet das Festival in der Kongresshalle. Im Wettbe-werb gibt es einen überragenden Film, la notte von Michelangelo Antonioni (Foto: Monica Vitti), und sieben interessante: die ehe des herrn mississippi von Kurt Hoffmann, männer ohne gewis-sen von Akira Kurosawa, une femme est une femme von Jean-Luc Godard, description d’un combat von Chris Marker, l’as-sassino von Elio Petri, l’amant de cinq jours von Philippe de Broca und das wunder des malachias von Bernhard Wicki. la notte gewinnt den „Goldenen Bären“. Bernhard Wicki erhält den Regie-Preis. In der Jury sitzen Satyajit Ray und Nicholas Ray, ihr Präsident ist James Quinn. In der Retrospektive im Atelier am Zoo laufen Filme von Akira Kurosawa, Richard Oswald und Billy Wilder. Der Wettbewerb lässt genügend Zeit dafür.

1962

1962.Kind of LovingDas erste Festival nach dem Bau der Mauer. Die Berlinale findet trotz labiler politischer Lage der Stadt statt. Für zusätzlichen Diskussions-stoff sorgen die filmpolitischen Debatten, ausgelöst durch das „Ober-hausener Manifest“. Die deutsche Altbranche nimmt den Nachwuchs allerdings noch nicht ernst. Eröffnungsfilm ist liebe mit zwanzig/ l’amour à vingt ans, ein Episodenfilm von Shintaro Ishihara, Marcel Ophüls, Renzo Rossellini, François Truffaut und Andrzej Wajda. Im Wettbewerb ist die Bundesrepublik mit Helmut Käutners leider unterschätztem Film die rote und dem Kulturfilm gala-pagos von Hans Sielmann vertreten. Bei der Pressekonferenz zu Käutners Film bricht Ruth Leuwerik in Tränen aus, als sich Alfred Andersch von dem Film distanziert. Die Spielfilmjury (Präsident: King Vidor) vergibt den „Goldenen Bären“ an den britischen Film a kind of loving von John Schlesinger (Foto) und würdigt Francesco Rosi mit einem Regie-Preis für salvatore giuliano. Außer Konkurrenz läuft Ingmar Bergmans wie in einem spiegel. Unter den Festival-gästen sind James Stewart (Silberner Bär für mr. hobbs takes a vacation) und Gina Lollobrigida. In der Retrospektive sehe ich viele Filme mit Asta Nielsen und in einer Sonderveranstaltung Ottomar Domnicks ohne datum.

1963

1963.Ozu 3

Das Programm des Wettbewerbs ist beklagenswert schlecht, die beiden deutschen Beiträge ziehen viel Kritik auf sich: verspätung in marienborn von Will Tremper und mensch und bestie von Edwin Zbonek. Den „Goldenen Bären“ teilen sich ein italienischer und ein japanischer Film: il diavolo von Gian Luigi Polidoro und bushido zankoku monogatari von Tadashi Imai. Der Jury, geleitet von Wendy Toye, gehören u.a. der Regisseur Jean-Pierre Melville und der Schauspieler Karl Malden an. Im Wettbewerbspro-gramm sehe ich u.a. la terraza von Leopoldo Torre Nilsson, l’im-mortelle von Alain Robbe-Grillet, the caretaker von Clive Donner und schlafwagenabteil von Vilgot Sjöman. In einer kleinen Retrospektive gibt es sechs Filme von Yasujiro Ozu. Das ist für mich eine wirkliche Entdeckung. Setsuko Hara! tokyo monoga-tari! (Foto). Seither gehört Ozu zu meinen Lieblingsregisseuren. Für die Stadt Berlin überstrahlt ein Staatsbesuch die Berlinale: am 26. Juni ist der amerikanische Präsident John F. Kennedy für sieben Stunden zu Gast.

1964

1964.MahanagarDer türkische Film trockener sommer von Ismail Metin gewinnt den „Goldenen Bären“ – und das überrascht wirklich alle. Ulrich Gregor hält die Entscheidung unter dem Jury-Präsidenten Anthony Mann für „eine Verhöhnung des Publikums und der Kritiker“. (Spandauer Volksblatt). Immerhin liefen Satjayit Rays mahanagar (Foto), night must fall von Karel Reisz, kanajo to karo/sie und er von Susumu Hani, os fuzis von Ruy Guerra und the pawnbroker von Sidney Lumet im Wettbewerb. Satyajit Ray erhält den Regie-Preis, Ruy Guerra einen Sonderpreis. Deutscher Beitrag war Wolfgang Staudtes herrenpartie, den Alfred Bauer eingeladen hatte, ohne den Auswahlauschuss einzubeziehen. Vilgot Sjömans Film 419 war aus moralischen Gründen für den Wettbewerb abgelehnt worden. Das hatte schon im Vorfeld für Aufregung gesorgt. Godards la bande à part, ebenfalls von Alfred Bauer abgelehnt, lief wenigstens in der sogenannten „Woche der Kritik“. In der Retrospektive sehe ich fünf Filme mit Pola Negri (carmen, madame dubarry, sumu-run, forbidden paradise und mazurka) und drei Filme von Paul Leni (das wachsfigurenkabinett, the man who laughs und the last warning).

1965

1965.Godard 2Im Wettbewerb laufen die Filme le bonheur von Agnes Varda, repulsion von Roman Polanski, charulata von Satyajit Ray, alphaville von Jean-Luc Godard und the knack von Richard Lester. Die Jury (ihr gehören u.a. Alexander Kluge, Karena Niehoff und Hans-Dieter Roos an, die Leitung hat John Gillett) gibt den „Goldenen Bären“ an alphaville (Foto:  Anna Karina + Eddie Constantine), Sonderpreise der Jury gehen an Polanski und Varda, der Regie-Preis (wieder) an Satyajit Ray. In einer Sonderveranstaltung sehe ich nicht versöhnt von Jean-Marie Straub. Der Film verwirrt mich vor allem durch seinen Sprachgestus. Die Reaktionen der Zuschauer sind gespalten. Nach der Vorführung diskutieren im Atelier am Zoo Alexander Kluge, Michael Delahaye, Enno Patalas und Straub mit dem Publikum.

1966

1966.Cul-de-sacDer Royal-Palast im Europa-Center ist neben dem Zoo-Palast neues Berlinale-Kino. Im Wettbewerb laufen u.a. cul-de-sac von Roman Polanski („Goldener Bär“, Foto: Françoise Dorléac), masculin féminin von Jean-Luc Godard (Darstellerpreis für Jean-Pierre Léaud), la caza von Carlos Saura (Regie-Preis) und Peter Schamonis schonzeit für füchse (Sonderpreis der Jury). Präsident der Jury ist Pierre Braunberger, zu den Mitgliedern gehört Pier Paolo Pasolini. Filme von Max Ophüls in der Retrospektive. Es gehen einem die Augen auf. In einer Sonderveranstaltung gibt es das haus in der kar-pfengasse von Kurt Hoffmann. In einer Gedenkveranstaltung in der Urania wird an den Produzenten Erich Pommer erinnert, der am 8. Mai in Hollywood verstorben war. Gezeigt wird der von Pommer produzierte Film liliom von Fritz Lang, Lotte Eisner hält eine kurze Rede, die mich sehr beeindruckt.

1967

1967.le departDen „Goldenen Bären“ vergibt die Jury (Präsident: Thorold Dickinson) an den belgischen Film le départ von Jerzy Skolimowski (Foto), Sonderpreise erhalten la collectionneuse von Eric Rohmer und der Drehbuchautor Michael Lentz für alle jahre wieder. Ein interessanter deutscher Film im Wettbewerb ist für mich tätowie-rung von Johannes Schaaf mit Christof Wackernagel und Helga Anders. In der Retrospektive gibt es 17 Filme von Ernst Lubitsch zu sehen, es sind vor allem die deutschen und amerikanischen Stumm-filme, viele davon kenne ich noch nicht. Eine zweite Retrospektive gilt dem Amerikaner Harry Langdon. In einer Gedenkveranstaltung wird an Walt Disney erinnert und der Film die wüste lebt gezeigt.

1968

1968.weekendErste politische Störungen beim Festival. DFFB-Studenten bewerfen bei einer Diskussion im Audimax der TU Alexander Kluge und Enno Patalas mit Eiern. Die Aktion finde ich eher peinlich. Im Wettbewerb laufen Werner Herzogs lebenszeichen und Jean-Maria Straubs chronik der anna magdalena bach als deutsche Beiträge. Herzog erhält einen Sonderpreis der Jury, den Regie-Preis bekommt Carlos Saura. Es beeindrucken mich: pforten zum paradies/ gates to paradise von Andrej Wajda, les biches von Claude Chabrol (Stepháne Audran erhält den Preis als beste Darstellerin), weekend von Jean-Luc Godard (Foto), peppermint frappé von Carlos Saura, der Abschlussfilm une historie immortelle von Orson Welles und auch die Filme von Herzog und Straub. Goldener Bär: ole dole doff von Jan Troell (Schweden). Die Jury wird von Luis Garcia Berlanga präsidiert. Die Lubitsch-Retrospektive wird fortgesetzt, ich sehe angel, the merry widow, bluebards eight’s wife und trouble in paradise.

1969

1969.Zelnik

Deutsche Beiträge im Wettbewerb sind ich bin ein elefant, ma-dame von Peter Zadek und liebe ist kälter als der tod von Rainer Werner Fassbinder. Von den internationalen Beiträgen sehe ich mit Interesse a touch of love von Maria Hussain, le gai savoir von Jean-Luc Godard, greetings von Brian De Palma, la madri-guera von Carlos Saura, rani radovi/frühe werke von Zeli-mir Zelnik und midnight cowboy von John Schlesinger. Den „Goldenen Bären“ gewinnt rani radovi (Jugoslawien) von Zelnik (Foto). Präsident der Jury ist der deutsche Regisseur Johannes Schaaf, zu den Mitgliedern gehört Ulrich Gregor. In der Retrospektive werden Musicals der 1930er und 40er Jahre und Filme von Abel Gance gezeigt.

1970

1970.o.k

Mit der Vorführung des Films o.k. von Michael Verhoeven (Foto), der sich sehr eigenwillig mit dem Vietnamkrieg beschäftigt und von Teilen der Jury (Leitung: George Stevens) kategorisch abgelehnt wird, gerät die Berlinale an ihrem vierten Tag in eine Krise. Der Wettbewerb wird abgebrochen. Pressekonferenzen rund um die Uhr. Im Mittelpunkt: Berlinale-Leiter Alfred Bauer, Festspiel-Direktor Walther Schmieding, der umtriebige Alexander Kluge und o.k.-Regisseur Verhoeven. Eigentlich ist es eine Jubiläums-Berlinale: die 20. Aber das ist schnell vergessen. Natürlich habe ich auch Filme gesehen, zum Beispiel warum läuft herr r. amok? von Fassbinder, il confor-mista von Bertolucci, tage und nächte im wald von Satyajit Ray.

1971

1071.I GiardinoNach der Krise des vergangenen Jahres: das „1. Internationale Forum des jungen Films“ ist eine neue, parallel zum Wettbewerb stattfindende Sektion der Berliner Filmfestspiele. Für Konzeption und Programm sind die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ verantwortlich. Die Leitung liegt bei Ulrich Gregor. Zu den deutschen Beiträgen des ersten Forums gehören nicht der homosexuelle ist pervers, sondern die situation, in der er lebt von Rosa von Praun-heim, eine sache, die sich versteht von Harun Farocki und Hartmut Bitomsky, othon von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Deutsche Beiträge im Wettbewerb sind whity von R. W. Fassbinder, wer im glashaus liebt… von Michael Verhoeven und jaider – der einsame jäger von Volker Vogeler. Den „Goldenen Bären“ erhält der italienische Film il giardino dei finzi contini von Vittorio De Sica (Foto), den man nicht für bedeutend halten muss. Und wer eine eigene Welt entdecken will, geht in die Filme von Busby Berkeley in der Retrospektive.

1972

1972.Canterbury TDas zweite Jahr im Nebeneinander von Wettbewerb (Zoo-Palast) und „Forum“ (Atelier am Zoo). Die Konkurrenz der beiden Sektionen läuft verdeckt. Die deutschen Filme im Forum (liebe mutter, mir geht es gut von Christian Ziewer, nachtschatten von Niklaus Schil-ling) werden stärker diskutiert als die im Wettbewerb (die bitteren tränen der petra von kant von R. W. Fassbinder und der Dokumentarfilm olympia – olympia von Jochen Bauer). Die Jury vergibt den „Goldenen Bären“ an Pasolinis canterbury tales (Italien; Foto). Das wird als Verlegenheitsentscheidung gewertet. Am Programm des Wettbewerbs wird viel herumgemäkelt. 15 Filme mit Douglas Fairbanks sind in der Retrospektive zu sehen und acht Filme von Ludwig Berger.

1973

1973.RayDas Programm des Wettbewerbs gilt in diesem Jahr als schwach. Die Bundesrepublik steuert zwei Filme bei: die zärtlichkeit der wölfe von Ulli Lommel und die sachverständigen von Norbert Kückelmann. Die Jury (Präsident: David Robinson) vergibt den „Goldenen Bären“ an den indischen Film ashani sanket/ ferner donner von Satyajit Ray (Foto). Einen „Silbernen Bären“ erhält Norbert Kückelmann. Im Forum laufen die deutschen Filme la victoria von Peter Lilienthal und spanien! von Peter Nestler und der herausragende Film la maman et la putain von Jean Eustache, der mich sehr beeindruckt. Die Retrospektive ist William/ Wilhelm Dieterle gewidmet.

1974

1974.ApprenticeshipErstmals nimmt ein sowjetischer Film an der Berlinale teil: s toboj i bes tebja/mit dir und ohne dich von Rodion Nachapetows. Beiträge der Bundesrepublik im Wettbewerb sind fontane effi briest von R. W. Fassbinder mit Hanna Schygulla und im namen des volkes von Ottokar Runtze. Den „Goldenen Bären“ vergibt die Jury (Präsident: Rodolfo Kuhn) überraschend an den kanadischen Film the apprenticeship of duddy kravitz von Ted Kozcheff (Foto). Als Sieger war allgemein Fassbinders effi briest erwartet worden. Gern erinnere ich mich an die Filme l’horloger de saint-paul von Bertrand Tavernier und tabiate bijan/ still-Leben von Sohrab Shahid Saless. Eine Retrospektive ist Lilian Harvey gewidmet. Es werden 18 Filme gezeigt, in denen sie die Hauptrolle spielte. Ein zweites Retrothema ist Jacques Feyder.

1975

1975.AdoptionZum ersten Mal nimmt die DDR die Einladung zu den Westberliner Filmfestspielen an, sie beteiligt sich am Wettbewerb mit Frank Beyers jakob der lügner. Für die Bundesrepublik sind john glück-stadt (Regie: Ulf Miehe) und eiszeit (Regie: Peter Zadek) dabei. Die Jury (Präsidentin: Sylvia Syms) verleiht den „Goldenen Bären“ an den ungarischen Film die adoption von Márta Mészáros (Foto). Einen Silbernen Bären erhält Woody Allen für love and death und sein Gesamtwerk. Das „Forum“ zeigt u.a. Bernhard Sinkels lina braake, Rudolf Thomes tagebuch und Ingemo Engströms kampf um ein kind. Die Retrospektive ist Greta Garbo gewidmet – aller-dings darf ninotchka mit Rücksicht auf die sowjetische Delegation nicht gezeigt werden. Aber 30 Filme mit Greta Garbo sind eine Alter-native zum Gegenwartskino.

1976

1976.AltmanEs sind die letzten Filmfestspiele unter Leitung von Alfred Bauer. Als Beiträge der Bundesrepublik nehmen die Filme mozart – auf-zeichnungen einer jugend von Klaus Kirschner und ver-lorenes leben von Ottokar Runtze am Wettbewerb teil. Die Jury unter dem Vorsitz von Jerzy Kawalerowicz vergibt den „Goldenen Bären“ an Robert Altmans buffalo bill and the indians (USA, Foto). Das „Forum“ zeigt u.a. Filme von Heinz Emigholz, der aufrechte gang von Christian Ziewer und emden geht nach usa (2. Teil) von Klaus Wildenhahn. Zu einem Eklat kommt es am 2. Juli, als die Kopie des Films im reich der sinne von Nagisa Oshima (Beitrag im „Forum“) von einem Kriminalkommissar beschlagnahmt wird. Der öffentliche Disput darüber ist heftig. Eleanor Powell ist eine große Retrospektive gewidmet.

1977

1977.AufstiegErste Berlinale unter Leitung von Wolf Donner. Er führt sich mit einem ungewöhnlichen Plakatmotiv ein, der angebissenen Schrippe (Entwurf: Volker Noth). Erstmals wird die Retrospektive von der Kinemathek betreut: Marlene Dietrich, Teil 1. Auch in der Programmstruktur ist Veränderung spürrbar. Die deutschen Wettbewerbsbeiträge sind grete minde von Heidi Genée, die vertreibung aus dem paradies von Niklaus Schilling, die eroberung der zita-delle von Bernhard Wicki (BRD) und mama, ich lebe von Konrad Wolf (DDR). Die Jury (ohne Vorsitz), der auch R.W. Fassbinder und Senta Berger angehören, vergibt den „Goldenen Bären“ an den sowjetischen Film aufstieg von Larissa Schepitko (Foto). Heinz Badewitz organisiert die „Deutsche Reihe“.

1978

1978.DeutschlandAuf Betreiben von Wolf Donner sind die Berliner Filmfestspiele in den Winter verlegt worden. Er will damit – zeitlich vor dem Festival von Cannes – die Filmmesse stärken und die Programmauswahl für den Wettbewerb verbessern. Eine langfristig richtige Entscheidung. Deutsche Wettbewerbsbeiträge sind flammende herzen von Bockmayer und Bührmannn, moritz, lieber moritz von Hark Bohm, der Kollektivfilm deutschland im herbst (Foto), rheingold von Niklaus Schilling (BRD) und jörg ratgeb, maler von Bernhard Stephan (DDR). Die Jury unter dem Vorsitz von Patricia Highsmith verleiht den „Goldenen Bären“ an drei Filme aus Spanien. deutschland im herbst erhält eine „Besondere Anerkennung“. Im „Forum“ laufen u.a. Helke Sanders redupers – die allseitig reduzierte persönlichkeit, Margarethe von Trottas das zweite erwachen der christa klages, Elfi Mikeschs ich denke oft an hawaii. Die Retrospektive (neben Marlene Dietrich II) ist deutschen Filmen gewidmet, die im Dritten Reich verboten waren

1979

1979.Dee HunterAm vierten Tag gerät das Festival, letztmals geleitet von Wolf Donner, in eine politische Krise. Nach der Vorführung des amerikanischen Films the deer hunter von Michael Cimino (Foto) protestieren die Delegationen der Ostblockstaaten gegen die diffamierende Dar-stellung des ‚heroischen Volkes von Vietnam’ und reisen mit ihren Filmen ab. Die Jury arbeitet in kleinerem Kreis weiter und vergibt den „Goldenen Bären“ an den deutschen Film david von Peter Lilienthal, drei „Silberne Bären“ an das gesamte Team und die Schauspielerin Hanna Schygulla für die ehe der maria braun von R. W. Fass-binder, sowie an den Ausstatter Henning von Gierke für Herzogs nosferatu. So erfolgreich war der deutsche Film noch nie auf einer Berlinale.

1980

1980.PalermoJubiläumsfestival unter neuer Leitung: Moritz de Hadeln und Ulrich Gregor sind jetzt Direktoren der Berlinale, wobei sich Gregors Ver-antwortung aufs „Internationale Forum“ beschränkt. Deutsche Wett-bewerbsbeiträge sind: der preis fürs überleben (Hans Noever), deutschland bleiche mutter (Helma Sanders-Brahms), palermo oder wolfsburg (Werner Schroeter) für die Bundes-republik, solo sunny (Konrad Wolf) für die DDR. Die Jury unter Vorsitz von Ingrid Thulin teilt den „Goldenen Bären“ zwischen heartland von Richard Pearce (USA) und palermo oder wolfsburg (Foto). Als beste Darstellerin wird Renate Krößner (solo sunny) ausgezeichnet. Das „Forum“ zeigt u.a. die deutschen Filme hungerjahre von Jutta Brückner und etwas tut weh von Recha Jungmann. Die Retrospektive ist dem 3-D-Film (ein Publi-kums-Hit) und dem Gesamtwerk von Billy Wilder gewidmet. Es ist meine erste Retro mit Verantwortung. Bei der Programmierung der Wilder-Retrospektive müssen wir politische Rücksichten nehmen. De Hadeln hat die Russen zurückgeholt. Damit sie sich nicht beleidigt fühlen, verzichten wir auf ninotchka und one, two, three.

1981

1981.DeprisaDie westdeutschen Filmemacher klagen über eine Krise des Festivals und drohen, sich nicht mehr an der Berlinale zu beteiligen. Moritz de Hadeln hat nur Herbert Achternbuschs Film der neger erwin für den Wettbewerb ausgesucht und dies mit der mangelnden Qualität des Angebots begründet. Der „Goldene Bär“ geht an den spanischen Film deprisa, deprisa von Carlos Saura. Auch im „Forum“ ist der deutsche Film nur marginal vertreten. Die Kinemathek widmet dem Regisseur Peter Pewas eine Hommage. Ich mache die Redaktion der Publikation mit Texten von Ulrich Kurowski und Andreas Meyer. Peter Pewas ist der Vater des Kinemathek-Mitarbeiters Peter Schulz. Sein legendärer Film heißt der verzauberte tag, er stammt aus der Nazi-Zeit und gilt als verkanntes Meisterwerk. Er wurde von Goebbels verboten. Die Retrospektive ist dem britischen Produzenten Michael Balcon gewidmet. Sie ist schlecht besucht.

1982

1982.veronika-vossIm Wettbewerb laufen die sehnsucht der veronika voss (Rainer Werner Fassbinder), kraftprobe (Heidi Genée) und eine deutsche revolution (Helmut Herbst) für die Bundesrepublik, romanze mit amelie (Ulrich Thein) und bürgschaft für ein jahr (Herrmann Zschoche) für die DDR. Die Jury unter dem Vorsitz von Joan Fontaine vergibt den „Goldenen Bären“ an Fassbinders veronika voss (Foto: Rosel Zech) und einen „Silbernen Bären“ an die Darstellerin Katrin Saß. Die Retrospektive ist dem deutsch-ameri-kanischen Regisseur Curtis (Kurt) Bernhardt (1899-1981) gewidmet: „Aufruhr der Gefühle“. Gezeigt werden 30 Filme, darunter natürlich all seine großen Melos: devotion, conflict, a stolen life, possessed, payment on demand, the blue veil, miss sady thompson. Die Hommage gilt James Stewart. Er kommt nach Berlin, die Pressekonferenz leite ich zusammen mit Moritz de Hadeln. Eine kleine Publikation erscheint im Eigenverlag der Kinemathek. Stewart tritt auf wie ein professioneller Botschafter, angeblich hat ihm auch das amerikanische Außenministerium für die Reise nach Berlin ein Honorar bezahlt. Eine Nähe zu ihm ergibt sich nicht. Im Zoo-Palast wird der Stummfilm berlin. die sinfonie der grossstadt von Walther Ruttmann mit Live-Musik vorgeführt – eine erste Veran-staltung dieser Art, die Schule machen wird.

1983

1983.PaulineDer angemeldete Beitrag aus der DDR – der aufenthalt von Frank Beyer – wird auf polnischen Druck zurückgezogen, ein Beitrag aus der Bundesrepublik – heller wahn von Margarethe von Trotta – im Zoo-Palast ausgelacht. Wenig Fortune für den deutschen Film. Im „Forum“ ist die fünfteilige Dokumentation busch singt zu sehen, eine Gruppenarbeit unter Konrad Wolfs Leitung aus der DDR. Golde-ner Bär: ex aequo an ascendanca von Edward Bennett (GB) und la colmena (Spanien) von Mario Camus. Den Regie-Preis bekommt Eric Rohmer für pauline á la plage (Foto). Unsere Retrospektive heißt „Exil. Sechs Schauspieler aus Deutschland“. Anwesend sind Curt Bois, Dolly Haas, Franz Lederer, Hertha Thiele und Wolfgang Zilzer. Nur Elisabeth Bergner kann nicht kommen. Die Publikation ist eine Kassette mit sechs Broschüren. Volker Noth hat ein beeindruckendes Plakat entworfen: es zeigt den historischen Anhalter Bahnhof bei Nacht. Ich kümmere mich besonders um Hertha Thiele, die aus Köpenick kommt und sich in Westberlin sehr unsicher fühlt. Ich halte auch später Kontakt zu ihr, besuche sie öfter. Sie nimmt die kleine Freundschaft dankend an.

1984

1984.Love StreamsIm Wettbewerb laufen vier bundesdeutsche Filme (das arche noah prinzip, morgen in alabama, das autogramm, klassen-verhältnisse) und einer aus der DDR (ärztinnen). Die Jury unter dem Vorsitz von Liv Ullmann verleiht den „Goldenen Bären“ an love streams von John Cassavetes (USA, Foto: Gena Rowlands), einen „Silbernen Bären“ an morgen in alabama, Straubs klas-senverhältnisse erhält eine „Lobende Erwäh-nung“. Im „Forum“ sind zwei Filme deutscher Regisseurinnen zu sehen: Ulrike Ottingers dorian gray im spiegel der boule-vardpresse und Ula Stöckls schlaf der vernunft, beide sehe ich mit großem Respekt. Im Zoo-Palast gibt es Murnaus rekonstruier-ten nosferatu mit Livemusik. Retrospektive: Ernst Lubitsch 1914-1933. Den Film ninotchka dürfen wir nicht zeigen, weil Moritz de Hadeln befürchtet, dass dann die Russen böse werden (das Problem hatten wir schon bei der Retro Billy Wilder 1980). Deshalb verkürzen wir die Retrospektive auf die Zeit bis 1933 und setzen die späteren Filme als bekannt voraus. Die Publikation gebe ich zusammen mit Enno Patalas heraus, sie gilt als das erste seriöse Buch über Lubitsch in deutscher Sprache. Die Hommage widmen wir Melina Mercouri und Jules Dassin. Beide kommen nach Berlin. Mercouri ist zu dieser Zeit griechische Kulturministerin.

1985

1985.SimonJean Marais ist Präsident der Internationalen Jury. Zum ersten Mal gewinnt die DDR einen „Goldenen Bären“, jedenfalls einen halben: Rainer Simons Film die frau und der fremdE (Foto) teilt sich die Ehre mit dem englischen Film whetherby. Die beiden westdeutschen Wettbewerbsbeiträge morenga von Egon Günther und der tod des weissen pferdes von Christian Ziewer sind chancenlos. Im „Forum“ sind zwei interessante deutsche Dokumentar-filme zu sehen: leben in wittstock von Volker Koepp (DDR) und die kümmeltürkin geht von Jeanine Meerapfel (BRD). Die Retrospektive hat ein populäres technisches Thema: Special Effects. Dazu gibt es eine Ausstellung im Kaufhaus Wertheim (Kurator: Rolf Giesen). Zusammen mit Antje publiziere ich zur Retrospektive ein Buch in der „Edition Filme“: Steven Spielberg. Filme als Spielzeug.

1986

1986.SektionsleiterEin jährliches Ritual: zehn Tage vor der Eröffnung der Berlinale, immer an einem Dienstag um 11, lädt die Festivalleitung zu einer Pressekonferenz ein, alternierend geleitet von Moritz de Hadeln oder Ulrich Gregor. Auf dem Podium sitzen die Sektionsleiter(innen) und präsentieren ihr Programm. Sie tun das in der Regel zu ausführlich, die Reihenfolge variiert, bei den letzten wird es im Saal bereits unruhig. Die Zahl der Journalisten ist erstaunlich groß. Zu de Hadelns Zeiten finden die PKs im Hotel Palace statt. 2001, als Dieter Kosslick übernimmt, zieht man in den Saal der Bundespressekonferenz um und die Veranstaltung wird lustiger. Auf dem Foto oben, von links nach rechts: Manfred Hobsch (Kinderfilmfest), Manfred Salzgeber (Panorama), Aina Bellis (Filmmesse), Moritz de Hadeln (Wettbewerb), Ulrich Gregor (Forum), HHP (Retrospektive), Heinz Badewitz (Deutsche Reihe).

Ein aufregendes Festival. Die Jury streitet sich über den bundesdeut-schen Beitrag stammheim von Reinhard Hauff (Foto) so intensiv, dass der Film zwar den „Goldenen Bären“ erhält, die Präsidentin Gina Lollobrigida aber verärgert ihre Schweigepflicht bricht und bei der Ver-leihung mitteilt „I was against this film“. Im „Forum“ ist Claude Lanz-manns 9 1/2stündiger Dokumentarfilm shoah zu sehen. Eine Retro-spektive gilt der Schauspielerin Henny Porten. Volker Noth hat dafür ein sehr beeindruckendes Plakat entworfen. Die zweite Retrospektive ist dem Regisseur Fred Zinnemann gewidmet. Er ist zum ersten Mal seit 1931 in Berlin. Wohnt im Hotel Kempinski. Antje und ich betreuen ihn. Er erhält die „Berlinale-Kamera“ (zusammen mit Giulietta Masina). Wir verbringen viel Zeit mit Fred, fahren mit ihm durch die Stadt. Er lädt uns zu einem Dinner in seine Suite ein, kommt zu uns in die Sybelstraße zu einem Abendessen, an dem einige Freunde teilnehmen, wir gehen zusammen in unser Stammrestaurant „Savoya“. Als er Berlin wieder verlässt, fühlen wir uns mit ihm befreundet.

1987

1987.Tema 2Das Programm des Festivals spiegelt politische Veränderungen wider: „Glasnost“, „Perestroika‹“ Aus der Sowjetunion kommen erstaunliche Filme, zum Beispiel skorbnoe bescuvstvie/gramvolle ge-fühllosigkeit von Alexandr Sokurow und tema/das tema von Gleb Panfilov. Die Jury unter dem Vorsitz von Klaus Maria Brandauer verleiht den „Goldenen Bären“ an den Film TEMA von Gleb Panfilov (Foto). Deutsche Wettbewerbsfilme sind der tod des empedok-les von Straub/Huillet, die verliebten von Jeanine Meerapfel (BRD) und so viele träume von Heiner Carow (DDR). Die Retro-spektive ist Rouben Mamoulian gewidmet. Antje und ich haben ihn im Dezember in Hollywood besucht, zur Berlinale kann er aber aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Wir machen eine schöne Publikation über ihn. Gezeigt werden seine 16 Filme. Die Hommage gilt Madeleine Rennaud und Jean-Louis Barrault, die aber beide nicht nach Berlin kommen.

1988

1988.KornfeldBerlin ist in diesem Jahr „Kulturstadt Europas“. Das verpflichtet. Deutsche Beiträge im Wettbewerb sind yasemin von Hark Bohm, wohin? von Herbert Achternbusch (BRD) und einer trage des andern last von Lothar Warneke (DDR). Die Jury (Präsident: Guglielmo Biraghi) vergibt den „Goldenen Bären“ überraschend und zum ersten Mal an einen Film aus der Volksrepublik China: hong gaoliang / rotes kornfeld von Zhang Yimou (Foto). Die wichtigsten deutschen Filme im „Forum“ sind der indianer von Rolf Schübel, das mikroskop von Rudolf Thome (BRD) und in georgien von Jürgen Böttcher (DDR). Die Retrospektive: Color. Vielleicht die schönste aller Retrospektiven, die ich bei der Berlinale betreut habe. 21.000 Besucher in 69 Vorstellungen. Es gibt zwei Publikationen: das technisch orientierte Buch von Gert Koshofer und das ästhetisch reflektierende von Frieda Grafe. Die Vorbereitung dieser Retrospektive ist besonders kompliziert: Natürlich wollen wir den Film gone with the wind zeigen, aber dann bekommen wir die Aufführungsrechte nicht, weil der Film demnächst weltweit neu gestartet werden soll. Also: auf die Schnelle ein neuer Plakatentwurf: Marlene Dietrich und Charles Boyer in the garden of allah. Es kommen verschiedene Kopien in restaurierter Form. Besonders beein-druckend: she wore a yellow ribbon von John Ford. Die Farben des Films leuchten, wie ich es kaum je gesehen habe.

1989

1989.Rain ManZwei Stars als Gäste: Dustin Hoffman und Isabelle Adjani. Sie sind als Hauptdarsteller der beiden Festivalbeiträge rain man von Barry Levinson und camille claudel von Bruno Nuytten gekommen. rain man (USA) gewinnt den „Goldenen Bären“ (Foto: Dustin Hoffman und Tom Cruise), Adjani einen Silbernen als beste Schau-spielerin. Gene Hackman wird zwar als bester Schauspieler in missis-sippi burning ausgezeichnet, aber Dustin Hoffman bekommt einen Ehren-Bären. Standing Ovations im Zoo-Palast bei der Preisverlei-hung. Jacques Rivette erhält da eine Art Trostpreis: eine Lobende Erwähnung „für den Charme, sprachlichen Witz und die Phantasie“ des Drehbuchs zu la bande des quatre. Das Forum zeigt u.a. den Dokumentarfilm hotel terminus von Marcel Ophuls, Ulrike Ottingers exotischen Reisefilm johanna d’arc of mongolia und ariel von Aki Kaurismäki. Die Retrospektive blickt fünfzig Jahre zurück: Europa 1939. Es gibt einen Streit um das Plakat (Motiv mit Heil Hitler-Gruß), das von dem Plakatierungsunternehmen nicht gehängt werden will. Wir müssen ein neues Motiv auswählen. Und eine Weile mussten wir bangen, ob die Retrospektive überhaupt stattfinden kann, weil der Berlinale-Etat gekürzt wurde. Aber es gibt ein Happyend.

1990

1990.Music BoxDie Berlinale findet zum ersten Mal in beiden Teilen der Stadt statt: im westlichen Zoo-Palast und im östlichen Kosmos-Filmtheater, im Delphi und im International, im Atelier am Zoo und im Colosseum an der Schönhauser Allee. Deutsche Wettbewerbsbeiträge sind das schreckliche mädchen von Michael Verhoeven, herzlich willkommen von Hark Bohm (für die Bundesrepublik) und coming out von Heiner Carow (für die DDR). Die Jury (Präsident: Michael Ballhaus) vergibt den „Goldenen Bären“ ex aequo an music box von Costa-Gavras (USA, Foto) und lerchen am faden von Jiri Menzel (CSSR). „Silberne Bären“ gewinnen Michael Verhoeven als bester Regisseur und der DEFA-Film coming out. Ein besonderer Anziehungspunkt im Programm des „Forums“ sind die Verbotsfilme der Jahre 1965/66 aus der DDR. Das Thema der Retrospektive hat überraschende Aktualität gewonnen: „Das Jahr 1945“. Sie wird gut besucht.

1991

1991.DancesDeutsche Wettbewerbsbeiträge sind erfolg von Franz Seitz und der tangospieler von Roland Gräf. Aus den USA bewerben sich dances with wolves von Kevin Costner (Foto), the russia house von Fred Schepisi und silence of the lambs von Jonathan Demme um die Bären.Die Jury (unter Leitung von Volker Schlöndorff) vergibt den „Goldenen Bären“ an Marco Ferreris Film la casa del sorriso / das haus des lächelns (Italien). Wir haben den Film – wie so oft – nicht gesehen. Jonathan Demme erhält den Regie-Preis und Kevin Costner einen Silbernen Bären für eine „Herausragende Einzelleistung“ als Darsteller, Produzent und Regisseur. Außer Konkurrenz wird the godfather part iii von Francis Ford Coppola gezeigt. Höhepunkt im Forum sind die acht Teile von Jacques Rivettes out 1. noli me tangere mit insgesamt 730 Minuten. Zwei Dokumentarfilme erinnern an die jüngere Vergangen-heit: die mauer von Jürgen Böttcher und verriegelte zeit von Sibylle Schönemann. Besonders gut gefallen hat mir i hired a con-tract killer von Aki Kaurismäke. Thema der Retrospektive ist der Kalte Krieg. Dafür ist erstmals Wolfgang Jacobsen verantwortlich. Und es gibt eine Hommage an Jane Russell. Sie erhält die „Berlinale-Kamera“. Der zweite Star, der mit ihr zusammen geehrt werden soll, Robert Mitchum, kommt nicht. Ihn ängstigt der Golfkrieg, der gerade im Gange ist.

Unsere erste Party in der Sybelstraße während der Berlinale ist ziemlich aufregend. Geschätzt: 100 Gäste. Prominentester Gast ist Jane Russell. Sie kommt etwas verspä-tet, und kurz vor ihrem Eintreffen versagt der Fahrstuhl. So muss sie in den vierten Stock hinaufklettern, was ihr hörbar und sichtbar zu schaffen macht. „What the hell I am doing here?“, schimpft sie im dritten Stock. Sie wird von ihrem sehr konservativen Eheman begleitet, der sich mit Kommentaren zum aktuellen Golfkrieg nicht zurückhält: „Nuke’m all.“ Aber die Party ist ein großer Erfolg.

1992

1992.Gran CanyonDen „Goldenen Bären“ gewinnt grand canyon von Lawrence Kasdan (USA; Foto). Jurypräsidentin ist Annie Girardot. Filme im Wettbewerb, die ich gesehen habe: bugsy von Barry Levinson, cape fear von Martin Scorsese, conte d’hiver von Eric Rohmer, light sleeper von Paul Schrader, naked lunch von David Cronenberg. Deutsche Beiträge sind gudrun von Hans W. Geissen-dörfer und der brocken von Vadim Glowna. Die Verantwortung für die Retrospektive (80 Jahre Studio Babelsberg) liegt nun ausschließ-lich bei Wolfgang Jacobsen. Das Programm im Astor zeigt Filme von 1913 bis 1990 zu den Themen Filmarchitektur, Filmtricks, Melo-dramen, Klassiker, Sprachversionen, Wiederzuentdecken. Dazu gibt es ein schönes Babelsberg-Buch. – Mit einer Hommage wird der hundert-jährige Produzent Hal Roach geehrt, der auch nach Berlin kommt. Dafür sorgt der SAT1-Filmredakteur Bertold Brüne; er verspricht Roach für jeden Tag, den er in Berlin zubringt, 1.000 $. Das macht den 100jährigen reiselustig. Er bleibt fünf Tage. Leo Kirch lädt zu einem exklusiven Empfang ins Kempinski. Den Auftritt im Zoo-Palast zur Entgegennahme der „Berlinale-Kamera“ sagt Roach kurzfristig ab – er sei zu müde. De Hadeln und ich überreichen ihm den Preis dann am nächsten Tag in seiner Hotelsuite. Roach war der Produzent der Filme von Laurel & Hardy und vieler Hollywoodfilme der 1930er und 40er Jahre, von denen wir eine Auswahl im Cinema Paris zeigen. Roach kehrt wohlbehalten nach Amerika zurück und stirbt am 2. November 1992.

1993

1993.WilderBilly Wilder kommt als Ehrengast nach Berlin und erhält einen „Golde-nen Bären“. Ich leite die Pressekonferenz (Foto). Die Hommage ist dem Schauspieler Gregory Peck gewidmet. Auch er bekommt einen „Golde-nen Bären“. Und gefeiert wird außerdem der 60. Geburtstag von king kong. Auf dem Zoo-Palast wird mit Hilfe von SAT 1 der überlebens-große Affe installiert, die Aufführung des Films mit einer restaurierten Kopie ist ausverkauft. Die Retrospektive würdigt das Filmformat CinemaScope. Wir freuen uns über garden of evil von Henry Hathaway, the robe von Henry Koster, party girl von Nicholas Ray und blade runner von Ridley Scott im Filmpalast am Kurfür-stendamm. Im Wettbewerb sehen wir arizona dreams von Emir Kusturica (Eröffnungsfilm), le jeune werther von Jacques Doillon, hoffa von Danny DeVito, love field von Jonathan Kaplan, malcolm x von Spike Lee, the cement garden von Andrew Birkin und die denunziantin von Thomas Mitscherlich. Die Jury unter dem Vorsitz von Frank Beyer trifft eine besonders diplomatische Entscheidung: sie teilt den „Goldenen Bären“ zwischen den Filmen die frauen vom see der duftenden seelen von Xie Fei (Volksrepublik China) und das hochzeits-bankett von Ang Lee (Taiwan). Im Forum hat mir der Film drehbuch: die zeiten von Barbara und Winfried Junge gefallen, der ihre Langzeitbeobachtung der Kinder von Golzow in einen größeren zeitlichen Zusammenhang stellt. Auch von Andreas Dresen (stilles land) und Volker Koepp (neues aus wittstock) sind aktuelle Filme im Forum zu sehen.

1994

1994.Name of FatherZur Eröffnung gibt es little buddha von Bernardo Bertolucci, er läuft, wie mehrere andere Filme, außer Konkurrenz. Am meisten be-eindruckt uns im Wettbewerbsprogramm der zweiteilige Film von Alain Resnais smoking / no smoking. Dafür erhält der Regisseur einen Silbernen Bären für eine „Herausragende Einzelleistung“, näm-lich die „Originalität der Filmregie“. Der Regie-Preis geht an Krzysztof Kieslowski, die beiden Darsteller-Bären an Crissy Rock (ladybird, ladybird) und Tom Hanks (philadelphia). Den „Goldenen Bären“ gewinnt der irische Film in the name of the father von Jim Sheridan (Foto). Die deutschen Beiträge alles auf an-fang von Reinhard Münster und der blaue von Lienhard Warwzyn mit Manfred Krug und Ulrich Mühe gehen leer aus. Jury-Präsident ist der Engländer Jeremy Thomas. Die Retrospektive ist Erich von Stroheim gewidmet. Sophia Loren kommt zu einer Hommage nach Berlin und empfängt dafür den Ehren-Bären.

1995

1995.LockvogelLia van Leer, meine Kollegin aus Israel, ist Präsidentin der Jury. Der „Goldene Bär“ geht nach Frankreich, an l’appat/der lock-vogel von Bertrand Tavernier (Foto). Wayne Wangs smoke bekommt einen „Silbernen Bären“, und Richard Linklater wird als bester Regisseur für before sunrise ausgezeichnet. Zur Eröffnung wird Margarethe von Trottas Film das versprechen gezeigt, ein Film über die deutsche Teilung, den viele in seiner Qualität unter-schätzen. Und weil es den 100. Geburtstag des Kinos zu feiern gilt, sieht man zur Eröffnung auch eine restaurierte Fassung des „Winter-garten-Programms“ der Brüder Skladanowsky aus dem Jahr 1895. – Die Hommage ist Alain Delon gewidmet, in der Retrospektive wird Buster Keaton gefeiert. Zum Abschluss läuft Joe Mays asphalt in einer rekonstruierten Fassung.

1996

1996.Ang LeeEröffnet wird mit sense and sensibility von Ang Lee (USA, Foto). Der Film bekommt den „Goldenen Bären“. Jury-Präsident ist Nikita Michalkow. Uns gefallen dead man walking von Tim Robbins mit Susan Sarandon (leider bleibt sie ohne Preis), Barry Sonnenfeldts get shorty und mutters courage von Michael Verhoeven. Es gibt in diesem Jahr zwei Hommagen: eine für den Schauspieler Jack Lemmon, eine für den Regisseur Elia Kazan. Die Ehrung für Kazan ist nicht unumstritten, weil er in den Fünfzigern in Amerika eine dubiose politische Rolle gespielt hat. Dennoch verläuft alles in Würde, und Kazan erweist sich als interessanter Gast. Wolfgang Jacobsen ediert eine Publikation im Jovis-Verlag mit einem sehr klugen Text von Klaus Kreimeier. Die Retrospektive ist William Wyler gewidmet, dem aus Europa stammenden großen Regisseur, der 1981 gestorben ist. Ich hatte ihn 1980 noch in Malibu getroffen. Nach Berlin kommen seine drei Töchter und sein Sohn. Vor allem Catherine, Filmproduzentin und Mitglied der Internationalen Jury, ist ein Schatz. Wir sehen viele Wyler-Filme, die meisten zum zweiten Mal.

1997

1997.Leben BaustelleIm Hintergrund schwelt politischer Streit um die Zukunft. Soll es künf-tig ein „Internationales Forum des jungen Films“ zeitlich getrennt von der Berlinale geben? Und der Potsdamer Platz wirft seine Schatten voraus: unter welchen Umständen kann die Berlinale dorthin um-ziehen? Das Wettbewerbsprogramm wird als mittelmäßig eingestuft. Die Jury (Präsident: Jack Lang) vergibt den „Goldenen Bären“ an den Film the people vs. larry flint von Milos Forman (USA). Härtester Konkurrent ist the english patient von Anthony Min-ghella. Juliette Binoche erhält einen Silbernen Bären als beste Dar-stellerin. Der deutsche Beitrag das leben ist eine baustelle von Wolfgang Becker (Foto: Jürgen Vogel und Christiane Paul) erhält eine „Lobende Erwähnung“. Die Retrospektive ist dem Regisseur G. W. Pabst gewidmet. Er ist nach Lang, Lubitsch und Murnau der vierte Große des Films der Weimarer Republik. Zum Abschluss des Festivals wird der Papst-Film DIE BÜCHSE DER PANDORA mit Louise Brooks im Zoo-Palast aufgeführt. Stargast für die Hommage ist Kim Novak. Zu einem Mittagessen mit ihr sind wir ins Four Seasons eingeladen.

1998

1998.SiodmakIm Vorfeld der Berlinale gibt es Konflikte um die Nominierung von Filmen für den Wettbewerb (Eastwood, Benigni, Scorsese), das Pro-gramm ist von mittlerer Qualität. Die Jury (Präsident: Ben Kingsley) vergibt den „Goldenen Bären“ an den brasilianischen Film central do brasil von Walter Salles (Foto links). Den Regiepreis erhält Neil Jordan für the butcher boy. Der deutsche Beitrag das mambo-spiel von Michael Gwisdek geht leer aus. Wunderbar, außer Kon-kurrenz gezeigt: prinzessin mononoke, ein Animationsfilm von Hayao Miyazaki. Catherine Deneuve bekommt einen „Goldenen Bären“ für ihr Lebenswerk. Die Retrospektive ist den Siodmak Bros. gewidmet: dem Regisseur Robert (gestorben 1973) und dem Autor Curt. Curt kommt nach Berlin. Bei der Eröffnung im Zoo-Palast wird er mit Standing Ovations gefeiert (Curt: „2.000 Leute klatschten mir zu, aber kein Aas kennt mich.“). Empfang bei Bundespräsidenten Roman Herzog und Ehrung mit der „Berlinale-Kamera“ (Foto mit Moritz de Hadeln). Curt gibt 43 Interviews. Er schreibt mir nach seiner Rückkehr aus Three Rivers: „Am Schluß fühlte ich mich wie eine ausgequetschte Zitrone. Aber auf jeden Fall war dieser Besuch der Höhepunkt meiner Beziehung zu dem Land, in dem ich geboren wurde, und wohl auch mein Schwanengesang.“ Er ist 95 Jahre alt. Mit Alexander Kluge führe ich ein Gespräch über die Siodmak-Brüder und über Filmgeschichte. Es wird unter dem Titel „F. P. 1 antwortet wieder“ auf RTL von dctp gesendet.

1999

1999.MalickEin Wettbewerb auf hohem Niveau: the thin red line von Terrence Malick (USA, Goldener Bär, Foto), the hi-lo country von Stephen Frears (beste Regie), aimée & jaguar von Max Färber-böck (Juliane Köhler und Maria Schrader erhalten ex aequo den Preis als beste Darstellerinnen), nachtgestalten von Andreas Dresen (Michael Gwisdek bester Darsteller). Jurypräsidentin ist Angela Molina, und zur Eröffnung kommt erstmals ein Bundeskanzler, Gerhard Schroeder. Der für mich schönste Film läuft im Forum: herr zwilling und frau zuckermann von Volker Koepp. Die Retrospektive ist Otto Preminger gewidmet. Sophia Loren erhält eine Hommage. Und wir laden zu unserer letzten Party in die Sybelstraße ein.

2000

2000.Berlinale PalastDas 50. Festival ist das erste am Potsdamer Platz. Das neue Festspiel-haus, für den Rest des Jahres Musicaltheater, heißt „Berlinale Palast“. Es ist kein Kino, aber für die Filmvorführungen des Wettbewerbs ziem-lich gut gerüstet. Der Zugang über den Roten Teppich gewinnt in den kommenden Jahren an Bedeutung. In den zwanzig Sälen des benach-barten CinemaxX finden die anderen Sektionen Platz. Das Haupthaus des „Internationalen Forums“ bleibt allerdings das Delphi am Zoo. Im Wettbewerb gibt es drei deutsche Filme: million dollar hotel von Wim Wenders, die stille nach dem schuss von Volker Schlöndorff (thematisch interessant: die Geschichte eines RAF-Mit-glieds, das in der DDR untertaucht; Buch: Wolfgang Kohlhaase) und paradiso – sieben tage mit sieben frauen von Rudolf Thome (ein typischer Thome mit Hanns Zischler). Den „Goldenen Bären“ vergibt die Jury an den beeindruckenden amerikanischen Film magnolia von Paul Thomas Anderson. Rudolfs Film wird für sein Schauspielerensemble lobend erwähnt. Die Hommage ist Jeanne Moreau (anwesend) und Robert De Niro (abwesend) gewidmet. Thema der Retrospektive: Künstliche Menschen.

2001

2001.Intimacy_2Zum letzten Mal leitet Moritz de Hadeln das Festival. Er lässt sich in verschiedenen Publikationen feiern. Eigentlich bin ich froh, dass seine Direktorenzeit zu Ende geht, und freue mich auf Dieter Kosslick. Die Retrospektive ist Fritz Lang gewidmet. Gezeigt werden alle verfügbaren Filme. Das Buch ist – allein vom Gewicht her – die bisher größte Leistung der Kinemathek. Dreisprachig. Auch in der Recherche beein-druckend. Die Aufführung von metropolis im Berlinale-Palast mit Live-Musik ist nicht unproblematisch, weil die Musiker mit ihren Notenpulten zu viel Licht auf die Leinwand werfen. Die Hommage gilt dem Schauspieler Kirk Douglas. Er kommt nach Berlin, ist nach zwei Schlaganfällen nicht mehr ganz frisch, steht aber die Anforderungen durch. Im 24. Stock des Officetowers tauschen wir einige Freundlich-keiten aus. Ein Ehrengast des Festivals ist Sean Connery. Bei einem Empfang im Hotel Gerhus stellt mich Jürgen Schau (Vorsitzender des Freundeskreises des Filmmuseums) dem Schauspieler vor. Wir wechseln ein paar  Worte. Ich lade ihn ins Filmmuseum ein, aber seine Zeit ist zur kurz bemessen. Goldener Bär: intimacy von Patrice Chéreau (Frankreich, Foto), Großer Preis der Jury: beijing bicycle (China).

2002

2002.ChihiroDieter Kosslick hat als neuer Berlinale-Direktor einen sehr guten Start. Die Eröffnung moderiert Anke Engelke, gezeigt wird heaven von Tom Tykwer. Im Wettbewerb laufen drei weitere deutsche Filme: der felsen von Dominik Graf, halbe treppe von Andreas Dresen und baader von Christopher Roth. Uns gefällt der Film the royal tenenbaums von Wes Anderson. Aber wir gehen – wie so oft bei der Berlinale – nicht fleißig genug in den Wettbewerb. Goldener Bär: ex aequo an den japanischen Animationsfilm se to chihiro no kamikakushi/chihiros reise ins zauberland von Hayao Miyazaki (Foto) und bloody sunday von Paul Greengrass (Großbritannien). Die Retrospektive „European 60s“ ist die letzte, die Wolfgang Jacobsen leitet.

2003

2003.LeninDieters zweite Berlinale. Er nimmt drei deutsche Beiträge in den Wett-bewerb: good bye lenin! von Wolfgang Becker (Foto), lichter von Hans-Christian Schmid und der alte affe angst von Oskar Roehler. Außerdem: the hours von Stephen Daldry. Die Jury (Vorsitz Atom Egoyan) gibt den „Goldenen Bären“ an Winterbottoms in this world (Großbritannien). Nun ja. Als Abschlussfilm läuft Scorseses gangs of new york. Meine erste Retrospektive in unmittelbarer Verantwortung nach längerer Unterbrechung ist dem Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau gewidmet. Dazu erscheint eine Publikation im Bertz Verlag. In der Retrospektive laufen nur Stumm-filme (Murnau starb 1931), das reduziert ein bisschen die Publikums-resonanz. Hommage für die französische Schauspielerin Anouk Aimée. Sie ist im Vorfeld (zum Beispiel bei den Plakatentwürfen) zickig, aber vor Ort der Liebreiz in Person.

2004

2004.Gegen die WandJury-Präsidentin ist Frances McDormand. Der Eröffnungsfilm cold mountain von Anthony Minghella lässt uns ziemlich kalt. Höhe-punkte im Wettbewerbsprogramm sind before sunset von Richard Linklater und samaria von Kim Ki-duk. Deutsche Beiträge: die nacht singt ihre lieder von Romuald Karmakar, gegen die wand von Fatih Akin. Als Special hat der wunderbare Film rhythm is it von Thomas Grube und Enrique Sanchez Lansch seine Urauf-führung. Goldener Bär: gegen die wand von Fatah Aken (Foto). Retrospektive: New Hollywood. Ein starkes Thema mit großartigen Filmen. Als Gäste kommen Peter Fonda (bei unserem Empfang erleidet er einen klaustrophobischen Anfall), William Greaves, Monte Hellman, Terrence Malick und Melvin Van Peebles. Bei Programmauswahl und Publikation arbeiten wir eng mit Alexander Horwath, dem Leiter des Österreichischen Filmmuseums, zusammen. Die Schauspielerin Claudia Cardinale ist Gast der Berlinale und lässt sich von mir durch die Ständige Ausstellung des Filmmuseums führen. Sie wirkt intelli-gent, ist interessiert (nicht nur an Marlene Dietrich, auch an den politischen Implikationen des Museums). Ich erinnere mich natürlich an ihre beiden großen Visconti-Film il gattopardo und vaghe stelle dell’orsa. Und denke wieder einmal, was für einen tollen Beruf ich habe.

2005

2004.Helene 2Die deutschen Wettbewerbsbeiträge sind gespenster von Christian Petzold, one day in europe von Hannes Stöhr und sophie scholl – die letzten tage von Marc Rothemund. Julia Jentsch bekommt dafür einen Bären als beste Darstellerin. Jury-Präsident ist Roland Emmerich. Der „Goldene Bär“ geht an u-carmen ekha-yelitsha aus Südafrika. Die Retrospektive „Production Design“ wird kuratiert von Ralf Eue. – Im Filmpalast am Kurfürstendamm wird der Film wer ist helene schwarz? von Rosa von Praunheim uraufgeführt. Er ist einerseits das Porträt einer ungewöhnlichen Frau (Foto) und andererseits ein Stück History der DFFB. Interviews mit vielen Menschen, die mit der DFFB verbunden waren oder sind. Dieter Kosslick überreicht Helene die „Berlinale-Kamera“. Die Laudatio hält Wolfgang Becker, Absolvent der Filmakademie. Anschließend wird in der DFFB gefeiert, denn Helene wird an diesem Tag 78 Jahre alt. – In der Volksbühne findet eine Aufführung des Eisenstein-Films panzer-kreuzer potemkin mit Live-Musik statt. Die Kinemathek hat für die Kulturstiftung des Bundes die Rekonstruktion des Films durch Enno Patalas betreut. Redner in der Volksbühne sind HHP, Hortensia Völkers und Enno Patalas. Ein großer Erfolg, auch durch die Musik, instrumentiert und dirigiert von Helmut Imig.

2006

grba_shortHeino Ferch moderiert, Max Rabe ist für die Musik zuständig, Dieter Kosslick wirkt entspannter als in den letzten Jahren. In seiner kurzen Ansprache dankt mir der neue Staatsminister Bernd Neumann mit freundlichen Worten für meine Arbeit. Beifall. Ich bin überrascht und fühle mich geehrt. Der Eröffnungsfilm snow cake ist für mich akzeptabel. Im Wettbewerb sehen wir u.a. the new world von Terrence Malick, a prairie home companion von Robert Altman und die deutschen Beiträge elementarteilchen von Oskar Roehler, sehnsucht von Valeska Griesebach und requiem von Hans Christian Schmid. Goldener Bär: grbavica von Jasmila Zbanic (Foto) aus Bosnien-Herzegowina. „Traumfrauen“, Stars im Film der fünfziger Jahre, sind das Thema meiner letzten Retrospektive. Gäste: Harriet Andersson, Annekathrin Bürger, Isabella Rossellini. Große Überraschung: Ich werde ausgezeichnet mit der „Berlinale-Kamera“. Die Laudatio hält Senta Berger. Dieter Kosslick übergibt mir die Trophäe. Schauplatz ist der Retro-Empfang im Filmhaus mit vielen Gästen, darunter Harriet Andersson, die heute Geburtstag hat.

2007

2007.TuyaZur Eröffnung gibt es das Edith Piaf-Biopic la vie en rose, das uns alle ein bisschen nervt. Wirklich interessante Filme im Wettbewerb sind the good german von Steven Soderbergh mit George Clooney, the good shepherd von Robert De Niro, letters from iwo jima von Clint Eastwood, die fälscher von Stefan Rutzowitzky, yella von Christian Petzold und irina palm von Sam Garbarski mit Marianne Faithful. Den Preis als beste Darstellerin gewinnt Nina Hoss, den Siegerfilm tuyas hochzeit von Wang Quan’an aus China (Foto) haben wir nicht gesehen. Thema der Retro-spektive sind die großen Stummfilmstars: „City Girls“, Und im Film-haus präsentiert unser Freund Jochen Brunow erstmals seinen Film- und Drehbuchalmanach „Scenario“.

2008

2008.AiAWieder eine neue Erfahrung: eine Berlinale, an der man mit einem eigenen Film beteiligt ist. Im Vorfeld gibt es verschiedenste Über-legungen, in welchem Zusammenhang, wo und wann unser Film zu zeigen wäre. Dieter Kosslick entscheidet dann: auge in auge – eine deutsche filmgeschichte läuft als „Berlinale Special“ im Filmpalast am Kurfürstendamm am ersten Freitagabend. (Foto: Matthias Ellwardt, HHP, Michael Althen und Dieter Kosslick vor der Vorführung). Nach der Vorführung rufen wir einige Teammitglieder und unsere Paten Michael Ballhaus, Wolfgang Kohlhaase, Caroline Link, Christian Petzold, Tom Tykwer und Hanns Zischler auf die Bühne Es gibt eine Wiederholung des Films am letzten Tag im Cubix am Alexanderplatz. Zur Eröffnung sehen wir den Dokumentarfilm shine a light von Martin Scorsese über die Rolling Stones. Begeisternd. Goldener Bär: the song of sparrows (Iran) von Majid Majidi. Die Retrospektive ist Luis Bunuel gewidmet, die Hommage Francesco Rosi.

2009

2009.VorleserAm Tag der Eröffnung hat Antje Geburtstag. Ihren 60. Unser Freund Dieter reserviert für sie einen Tisch in der VIP-Bären-Lounge, und unsere engsten Freunde bekommen privilegierten Zugang. Am zweiten Tag hat the reader (Foto) Premiere, die Schlink-Verfilmung von Stephen Daldry, bei der Antje als Komparsin mitgewirkt hat. Im Wett-bewerbsprogramm gibt es u.a. die Filme in the electric mist von Bertrand Tavernier mit Tommy Lee Jones, cherie von Stephen Frears mit Michelle Pfeiffer, den deutschen Episodenfilm deutsch-land 09. Wie so oft bei der Berlinale: die Jury (Präsidentin Tilda Swinton) vergibt den „Goldenen Bären“ an einen Film, den wir nicht gesehen haben: la teta austada aus Peru. Die Retrospektive ist dem Format 70mm gewidmet, aber die Filme sind für uns so schlecht terminiert, dass wir keinen einzigen sehen.

2010

2010.HonigEröffnungsfilm ist apart together von Wang Quan’an aus China. Wir sehen an den folgenden Tagen the ghost writer von Roman Polanski, shutter island von Martin Scorsese, der räuber von Benjamin Heisenberg, bal von Semih Kaplanoglu, shahada von Burhan Qurbani, jud süss – film ohne gewissen von Oskar Roehler, the killer inside me von Michael Winterbottom. Die Jury (Präsident: Werner Herzog) vergibt den „Goldenen Bären an bal/honey aus der Türkei (Foto); eine gute Entscheidung. Im Forum sehe ich Thomas Arslans Film im schatten. Es gibt für uns viele interessante Termine: am Brandenburger Tor wird metropolis von Fritz Lang aufgeführt, und wir sind zu Gast bei einem Dinner im Clubraum der Akademie der Künste am Pariser Platz, wo Alice Waters für die Gäste kocht; wir sind eingeladen von Wolfgang Kohlhaase zu einem Ehrendinner im Kaisersaal; Thomas Koebner bekommt den Ehrenpreis der Ökumene, und ich halte die Laudatio; unser Freund Jochen Brunow feiert seinen 60. Geburtstag. Und – um mit einem herausragenden Film zu enden – Dominik Graf zeigt im Delphi am Samstag und Sonntag in zwei Teilen seine Serie im angesicht des verbrechens. Das sind 2 x 250 aufregende Minuten. Eine sehr abwechslungsreiche Berlinale.

2011

2011.Nader and SiminZur Eröffnung wird der Western true grit der Brüder Coen gezeigt. Im Wettbewerb sehe ich zehn Filme, darunter el premio von Paula Markovitch, margin call von J. C. Chandor, coriolanus von Ralph Fiennes, the future von Miranda July, the turin horse von Béla Tarr, wer wenn nicht wir von Andres Veiel, nader and simin von Asghar Farhadi und – außer Konkurrenz – pina von Wim Wenders, unknown von Jaume Collet-Serra mit Liam Neeson und mein bester feind von Wolfgang Murnberger. Die Jury (Präsidentin: Isabella Rossellini) verleiht den „Goldenen Bären an nader and simin aus dem Iran (Foto). Der Große Preis der Jury geht an Béla Tarr (der Film gefällt mir sehr), der Alfred Bauer-Preis an Andres Veiel. Die Retrospektive ist Ingmar Bergman gewidmet, ich sehe mir noch einmal die jungfrauenquelle an. Und im Panorama den Film von Elfi Mikesch über Werner Schroeter, mondo lux, und Rosa von Praunheims die jungs vom bahnhof zoo. Mein einziger Film im Forum: die Trilogie dreileben von Christian Petzold (etwas besseres als den tod), Dominik Graf (komm mir nicht nach) und Christoph Hochhäusler (eine minute dunkel). Die Verzahnungen der drei Filme sind beeindruckend. Das Festival endet für uns mit dem Bären-Dinner im Borchardt. Die Stimmung ist gut.

2012

Der Jury unter dem Vorsitz von Mike Leigh kann man das Kompliment machen, in einem Wettbewerb mit vielen interessanten Filmen akzep-tabel entschieden zu haben. Der „Goldene Bär“ für cesare deve morire der Brüder Taviani ist wohl eine Verbeugung vor einem Lebenswerk. Besonders gefreut habe ich mich über den Silbernen Regie-Bären für Christian Petzold (barbara, Foto: Nina Hoss), den Kamera-Preis für Lutz Reitemeier (white deer plain) und den Sonderpreis für l’enfant d’en haut von Ursula Meier. Sehr beeindruckt hat mich auch Hans-Christian Schmids was bleibt (kein Preis), während ich Matthias Glasners gnade überhaupt nicht mochte. Bester männlicher Darsteller war für mich Robert Duvall in jane mansfield’s car. Ein bisschen spielt ja jeder immer seinen eigenen Juror. Außer Konkurrenz liefen die Filme the iron lady als Hommage an Meryl Streep, extremely loud and incredibly close von Stephen Daldry, shadow dancer von James Marsh, the flowers of war von Zhang Yimou, haywire von Steven Soderberg und flying swords of dragon gate von Tsui Hark, die ich alle gesehen habe. Die Retrospektive „Die rote Traumfabrik“ hat mich thematisch nicht so interessiert. Schön war der Festakt 100 Jahre Babelsberg draußen im Studio.

2013

2013.Rumänien

Wir sehen die Wettbewerbsfilme promised land von Gus Van Sant, la religieuse von Guillaume Nicloux, layla fourie von Pia Marais, side effects von Steven Soderbergh, nobody’s daugh-ter haewon von Hong Sangsoo, camille claudel 1915 von Bruno Dumont und gold von Thomas Arslan. Die Preise der Inter-nationalen Jury (Präsident: Wong Kar-Wai) gehen vorzugsweise an Filme, die wir nicht gesehen haben. Immerhin wird in der Schluss-veranstaltung noch der Gewinner des „Goldenen Bären“ gezeigt: pozitia copilului von Calin Peter Netzer (Foto), eine Mutter-Sohn-Geschichte aus Rumänien; sehr interessant. „The Weimar Touch“ heißt die Retrospektive. Ich sehe dort nur letter from an unknown woman von Max Ophüls. Als Berlinale Classics gibt es eine digital restaurierte Fassung von Ozus tokyo monogatari. Zum Niederknien. Natürlich habe ich mir auch das Remake des Films von Yoji Yamada, tokyo family, angeschaut, und die Bewunderung für Ozu ist noch einmal gestiegen.

2014

2014.Boyhood

Jury-Entscheidungen bleiben oft geheimnisvoll. Auch bei der Bären-Vergabe in diesem Jahr, als die meisten Kritiker und Gäste mit dem „Goldenen Bären“ für den amerikanischen Film boyhood von Richard Linklater (Foto) rechneten, hat die Jury anders entschieden. Die Siegestrophäe geht an den chinesischen Film black coal, thin ice von Diao Yinan, und der Hauptdarsteller Fan Liao bekommt einen Silbernen Bären. Richard Linklater muss sich mit dem Preis für die beste Regie begnügen. Den Großen Preis der Jury erhält Wes Andersons the grand budapest hotel; das finde ich in Ordnung. Als beste Darstellerin wird völlig zu Recht die Japanerin Haru Kuroki in dem Film the little house von Yoji Yamada ausgezeichnet. Der Preis für das beste Drehbuch geht an den deutschen Beitrag kreuzweg von Anna und Dietrich Brüggemann. Dominik Graf (geliebte schwestern) geht leider leer aus. Den „Alfred Bauer-Preis“ für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet, erhält der 91jährige Alain Resnais für aimer, boire et chanter. Das ist zumindest eine originelle Entscheidung. Denn offenbar hat die Jury dabei an das Lebenswerk von Resnais gedacht. Die Retrospektive „Aesthetics of Shadow“ spürt den Wirkungen des Lichts nach. Im Filmmuseum ist gerade „meine“ Ausstellung „Licht und Schatten“ über das Kino der Weimarer Republik zu sehen.

2015

2015.TaxiDie Entscheidungen der Internationalen Jury (Präsident: Darren Aronofsky) finde ich in diesem Jahr ausnehmend klug, wenn man sie mit den Punkten der Kritiker vergleicht und den eigenen Urteilen, soweit ich die Filme des Wettbewerbs gesehen habe. Mit dem „Golde-nen Bären“ für taxi von Jafar Panahi (Foto) stimme ich voll überein. Das ist ein sehr komplexer Film, der viel über die Situation des Regis-seurs und über die politischen Ambivalenzen in Teheran erzählt und dabei erstaunlich komische Momente enthält. Es gefällt mir sehr, dass die schauspielerischen Leistungen von Charlotte Rampling und Tom Courtenay in 45 years mit einem Silbernen Bären belohnt werden. Und über die Würdigung des Kameramannes Sturla Brandt Grovlen in Sebastian Schippers victoria habe ich mich besonders gefreut. – Ich habe zehn Filme in der Retrospektive „Glorious Technicolor“ gesehen, darunter fünf zum ersten Mal: yolanda and the thief von Vin-cente Minnelli, wings of the morning von Harold B. Schuster, this happy breed von David Lean, an american romance von King Vidor und the shephard of the hills von Henry Hathaway. Im Panorama habe ich Rosa von Praunheims Film härte gesehen, der mir gut gefallen hat, im Forum die Filme cinema: a public affair von Tatiana Brandrup (über Naum Kleiman und die Situation seines Archivs und seines Kinos in Moskau) und was heisst hier ende? von Dominik Graf (über das Leben und Schreiben unseres Freundes Michael Althen). Eine schöne Berlinale mit vielen Begegnungen.

2016

Jury-Präsidentin ist in diesem Jahr die Schauspielerin Merryl Streep, zur Jury gehören die Schauspieler Lars Eidinger und Clive Donner, die Schauspielerin Alba Rohrwacher und die Fotografin Brigitte Lacombe. Ich habe nicht viele Wettbewerbsfilme gesehen, die Entscheidung, den „Goldenen Bären“ an den italienischen Dokumentarfilm il fuoco-ammare von Gianfranco Rosi zu vergeben (Foto), finde ich akzep-tabel, weil er das Thema Flüchtlingshilfe beein­druckend dargestellt hat. Der deutsche Beitrag 24 wochen von Anne Zohra Berrached war sehr interessant. Die beiden für mich besten Filme habe ich im Forum gesehen: die geträumten von Ruth Beckermann über die Autorin Ingeborg Bachmann und landstück von Volker Koepp über Menschen in der Uckermark. Einen Goldenen Ehrenbären erhält Michael Ballhaus, dem die Hommage gewidmet ist. Die Retrospektive thematisiert „Das Jahr 1966“. Es werden rund fünfzig Filme gezeigt. Die Publikation hat große Qualitäten.

2017

Im Wettbewerb sehen wir acht Filme: DJANGO von Etienne Comar, THE DINNER von Oren Moverman, FINAL PORTRAIT von Stanley Tucci, WILDE MAUS von Josef Hader, THE PARTY von Sally Potter, den Dokumentarfilm BEUYS von Andreas Veiel, RÜCKKEHR NACH MON­TAUK von Volker Schlöndorff, ANA, MON AMOUR von Calin Peter Netzer und den wunder­baren ungarischen Film on body and soul von Ildikó Enyedi (Foto), der mit dem Goldenen Bären ausge-zeichnet wird. Den Jury-Vorsitz führt Paul Verhoeven. Die Hommage ist der italie­nischen Kostümbildnerin Milena Canonero gewidmet, die einen Goldenen Ehrenbären erhält. Die Retrospektive hat das Thema Science-fiction und den Titel „Future Imperfect“. Bei der Verleihung des „Caligari-Filmpreises“ halte ich eine Laudatio auf den Filmdienst.

2018

Präsident der Internationalen Jury ist Tom Tykwer. Den „Goldenen Bären“ gewinnt die inter­nationale Coproduktion touch me not von Adina Pintilie (Foto). Es gibt drei sehr gute deutsche Beiträge im Wettbewerb: 3 tage in quiberon von Emily Atef, in den gän-gen von Thomas Stuber und transit von Christian Petzold. Sie werden von der Jury nicht gewürdigt. Gut gefallen haben uns auch isle of dogs von Wes Anderson (Eröffnungsfilm), 7 days in entebbe von José Padilha, unsane von Steven Soderbergh und eldorado von Markus Imhoof. Heraus­ragend im Forum: wald-heims walzer von Ruth Beckermann. Die Retrospektive „Weimarer Kino – neu gesehen“ präsentiert zahlreiche Filme, die bisher relativ unbekannt sind. Auch das Buch hat außerordentliche Qualitäten. Die Hommage ist dem Schauspieler Willem Dafoe gewidmet, der einen Goldenen Ehrenbären bekommt.

2019

Statt an der Eröffnung nehmen wir an einem Gedenktreffen für unseren verstorbenen Freund Helmut Merker im Restaurant Manzini teil. Man muss Prioritäten setzen. In diesem Jahr sehen wir nur wenige Wettbewerbsbeiträge, so entgehen uns leider systemsprenger von Nora Fingscheidt, so long my son von Wang Xiaoshuai und synonymes von Nadav Lapid (Goldener Bär). Jury-Präsiden-tin ist Juliette Binoche. Wir sehen vice von Adam McKay und ich war zuhause, aber… von Angela Schanelec, der mich zunächst verwirrt, aber am Ende beeindruckt. Auf den goldenen hand-schuh von Fatih Akin verzichten wir bewusst. Im Delphi Lux holen wir einige deutsche Filme in der Lola-Reihe nach, u.a. der junge muss an die frische luft von Caroline Link, wackersdorf von Oliver Haffner und das schönste paar von Sven Taddicken, alle drei sehr sehenswert. Die Retrospektive „Selbstbestimmt“ widmet sich Filmen von Frauen, ich kenne sie fast alle, sehe mir aber einige nochmal an. Hervorragend: die Publikation von Cornelia Klauß und Ralf Schenk über Regisseurinnen der DDR: „Sie“. Die Hommage ist Charlotte Rampling gewidmet. Angelina Maccarone hat einen sehr schönen Film über sie gedreht. Und am Ende wird Direktor Dieter Kosslick verabschiedet. Er war aus meiner Sicht ein guter Festivalleiter. Ich bin gespannt auf das Nachfolgeduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek.

2020

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben die Leitung der Berlinale übernommen. Jurypräsident ist der britische Schauspieler Jeremy Irons. Den Goldenen Bären gewinnt der iranische Film DOCH DAS BÖSE GIBT ES NICHT von Mohammad Rasulof (Foto). Die Hommage ist der Schauspielerin Helen Mirren gewidmet. Ich sehe insgesamt acht Filme in verschiedenen Sektionen: den Eröffnungsfilm MY SALINGER YEAR von Philippe Falardeau, die Wettbewerbsfilme FIRST COW von Kelly Reichardt (interessant), THE ROADS NOT TAKEN von Sally Potter (gut), UNDINE von Christian Petzold (sehr gut) und SCHWESTERLEIN von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond (originell), PARIS CALLIGRAMMES von Ulrike Ottinger im Forum (sehr beeindruckend), THE WEDDING NIGHT und NORTH WEST PASSAGE von King Vidor in der Retrospektive. Über ihn habe ich einen Beitrag für die Publikation geschrieben.

2021

Diese Berlinale findet nur digital statt. Da bin ich nicht dabei.

2022

Jurypräsident ist der US-amerikanische Filmemacher M. Night Shya-maian. Den Goldenen Bären gewinnt der spanische Film ALCARRÀS von Carla Simón (Foto). Die Hommage ist der französischen Schau-spielerin Isabelle Huppert gewidmet. Ich sehe mir in diesem Jahr nur zwei Filme an: den Eröffnungsfilm PETER VON KANT von François Ozon und den Dokumentarfilm über Erika und Ulrich Gregor KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA von Alice Agneskirchner, den ich sehr gelungen finde.

2023

Jurypräsidentin ist die US-amerikanische Schauspielerin Kristen Stewart. Den Goldenen Bären gewinnt der französische Dokumentar-film SUR L’ADAMANT von Nicolas Philibert. Ich sehe neun Filme insgesamt, darunter den Eröffnungsfilm SHE CAME TO ME von Rebecca Miller, der mir gut gefällt. Im Wettbewerb werden fünf deutsche Filme gezeigt. Am besten finde ich ROTER HIMMEL von Christian Petzold, aber auch INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE von Margarethe von Trotta und IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN von Emily Atef beeindrucken mich. Christian Petzold gewinnt den „Großen Preis der Jury“. Mit MUSIC von Angela Schanelec habe ich dagegen Probleme. Er gewinnt den Preis für das beste Drehbuch. Den Preis für die beste Regie gewinnt Philippe Garrel für LE GRAND CHARIOT, den ich sehr gut finde. Die Hommage ist Steven Spielberg gewidmet. Seinen neuen Film, THE FABELMANS, finden wir sehr interessant.