Texte & Reden
09. April 2016

Zum Erhalt des deutschen Filmerbes

Rede bei einer Soirée des Bundespräsidenten

Am 8. April lud Bundespräsident Joachim Gauck zu einer Soirée zur Würdigung des deutschen Films: „Blicke auf Deutschland“. Es kamen rund 200 Gäste ins Schloss Bellevue.

Hier ist die Begrüßungsrede des Bundespräsidenten zu lesen: Joachim-Gauck/Reden/2016/04/160408-Soiree-Film.html

Dann wurden in einer 15-Minuten-Montage Ausschnitte aus 46 deutschen Filmen gezeigt: „Blicke auf Deutschland: mit dem Auto erfahren“, ausgewählt von dem Cutter Ernst Kramer und mir. Zu den Filmen gehörten: DR. MABUSE, DER SPIELER (1922), BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927), ASPHALT (1929), MENSCHEN AM SONNTAG (1930), DIE DREI VON DER TANKSTELLE (1930), EMIL UND DIE DETEKTIVE (1931), SEIN BESTER FREUND (1937), ZWEI IN EINER GROSSEN STADT (1941), IN JENEN TAGEN (1947), NACHTS AUF DEN STRASSEN (1952), DIE HALBSTARKEN (1956), DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958), KARBID UND SAUERAMPFER (1963), SPUR DER STEINE (1966), ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (1967), WEITE STRASSEN – STILLE LIEBE (1969), SUPERGIRL (1971), ALICE IN DEN STÄDTEN (1973), SUPERMARKT (1973), IN GEFAHR UND GRÖSSTER NOT BRINGT DER MITTELWEG DEN TOD (1974), DER WILLI-BUSCH-REPORT (1979), SOLO SUNNY (1980),  LOLA (1981), DIE KATZE (1988), GO, TRABI, GO (1990), IN WEITER FERNE, SO NAH! (1993), WIR KÖNNEN AUCH ANDERS… (1993), LOLA RENNT (1998), 23 (1998), DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (1999), ABSOLUTE GIGANTEN (1999), DIE INNERE SICHERHEIT (2001), DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (2003), GEGEN DIE WAND (2004), YELLA (2006), SALAMI ALEIKUM (2009), OH BOY (2012), 3 ZIMMER, KÜCHE, BAD (2012), ICH FÜHL MICH DISCO (2013), LOVE STEAKS (2013), BORNHOLMER STRASSE (2014) und WHO AM I – KEIN SYSTEM IST SICHER (2014).

Dann habe ich die folgende Rede gehalten:

Sehr verehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Schadt, liebe Filmschaffende,

das war eine kleine Spritztour durch die deutsche Filmgeschichte, meist im Auto, kreuz und quer durch unser Land. Von 1922 bis 2014, von Dr. Mabuse, der Spieler bis zu Who Am I – kein System ist sicher. Sie haben 46 Filmausschnitte gesehen. Wer von Ihnen, liebe Gäste, mehr als dreißig sofort mit einem konkreten Titel verbinden konnte, vor dem verneige ich mich mit Respekt.

Es waren Filme aus der Weimarer Republik, der Nazizeit, der Nachkriegszeit, der DDR, der Bundesrepublik und aus dem geeinten Deutschland. Filmgeschichte in diesem Land ist immer auch mit politischer Geschichte verbunden.

Zu sehen waren die unterschiedlichsten Autos auf Landstraßen, Autobahnen, an Tankstellen oder auf Parkplätzen. An die hundert Schauspielerinnen und Schauspieler waren für uns unterwegs, darunter viele, die uns sehr vertraut sind. Natürlich haben Sie Iris Berben als Supergirl im Film von Rudolf Thomé erkannt und Heinz Rühmann als Taxifahrer in seiner letzten Rolle, bei Wim Wenders, In weiter Ferne, so nah!.

Auch an Hans Albers und Manfred Krug, an Lilian Harvey und Uschi Glas werden Sie sich erinnern. Bei Winnie Markus bin ich mir da schon nicht mehr so sicher. Sie dreht am Armaturenbrett und findet ihren Namen: Sybille. Der Ausschnitt stammt aus einem Klassiker des Autofilms: In jenen Tagen von Helmut Käutner aus dem Jahr 1947.

Besonders gefallen hat mir beim Wiedersehen die „Autobahn-Unterhaltung“ im Kopf von Jaecki Schwarz aus dem Film Weite Straßen – stille Liebe von Herrmann Zschoche. Am schnellsten ist natürlich das Auto in dem Film Salami Aleikum von Ali Samadi Ahadi auf dem Weg von Köln in Richtung Osten.

Und die beiden schönsten Dialoge – aus Solo Sunny und Die Stille nach dem Schuss – hat Wolfgang Kohlhaase formuliert. Wer sonst?

Vor 25 Jahren wäre eine solche Montage noch am Schneidetisch entstanden. Inzwischen hat sich die Schnittarbeit in den digitalen Bereich verlagert, und die Verfügbarkeit der Filmgeschichte in Form von DVD, Blu-ray oder Streaming ist enorm gewachsen. Ernst Kramer, der die Blicke auf Deutschland montiert hat, konnte davon profitieren.

Ein Thema, das die Kulturpolitik, die Kinematheken und Archive, die Filmwissenschaft und auch die Filmschaffenden selbst zunehmend beschäftigt, ist die Bewahrung des Filmerbes in Zeiten seiner Digitalisierung.

Es verbindet sich mit ethischen, technischen und finanziellen Fragen. Digital ist ja nicht einfach die Zukunftsalternative zu analog. Die Filmrolle – auch wenn sie für die aktuelle Produktion kaum noch eine Bedeutung hat – ist für die Bewahrung des Filmerbes unverzichtbar.

Die Diskussion der letzten Monate wurde intensiviert durch ein Gutachten von PricewaterhouseCoopers im Auftrag der Filmförderungs-anstalt. Darin wurde u.a. der Finanzbedarf geschätzt, der für die Digitalisierung des Filmerbes aufgebracht werden muss. Für die nächsten zehn Jahre sollen das insgesamt 100 Millionen € sein. Die Mitglieder des Kinematheksverbundes, bei denen eine besondere Verantwortung für den Umgang mit dem Filmerbe liegt, haben in ihrer Stellungnahme deutlich gemacht, dass die analogen Materialien erhalten werden müssen.

Außerdem geht es nicht nur um die Sicherung, sondern auch um die Zugänglichkeit. Gutachten und Stellungnahme sind nachzulesen, es bleiben dabei natürlich Fragen offen, aber das ist bei einem so schwierigen Thema unvermeidlich.

Die Diskussionen in Zeitungen, Zeitschriften und im Netz beweisen im Übrigen, dass es eine große Aufmerksamkeit für die Probleme gibt. Den betroffenen Institutionen – vor allem BKM, Kinematheksverbund und FFA – sollte dabei aber nicht mit generellem Misstrauen begegnet werden, sondern mit konstruktiven Vorschlägen.

Jeder, der in irgendeiner Weise mit dem Film verbunden ist – und das reicht bis zu den Zuschauerinnen und Zuschauern – trägt direkt oder indirekt auch Verantwortung für den Umgang mit dem Filmerbe. Man sollte sich nicht nur für die Filme von heute und morgen interessieren, man muss auch an die Filme von gestern und vorgestern denken.

Film in seiner Verbindung von Sprache und Musik, Schauspiel, Fotografie und Architektur ist ein komplexes Gebilde und kann zu großer Kunst werden. Über die Qualität des gegenwärtigen deutschen Films wird kritisch gestritten. Aber er ist im Kino erfolgreich. Mit 27,5 Prozent Marktanteil im vergangenen Jahr so erfolgreich wie lange nicht.

Ich versage mir Prognosen zur Zukunft des Kinos. Aber ich bin mir sicher, dass es keine Zukunft ohne Vergangenheit gibt. Das hat überhaupt nichts mit Nostalgie zu tun, sondern viel mit einem Kulturgut, das uns inzwischen über 120 Jahre begleitet.

Im kommenden Jahr feiern wir den 100. Geburtstag der Ufa, im nächsten Monat den 70. Geburtstag der DEFA, im September den 70. Geburtstag der CCC. Darauf freuen wir uns mit Nico Hofmann, Ralf Schenk und Artur Brauner.

Und es gibt immer wieder Gründe zum Feiern. So wie heute, auf Einladung des Bundespräsidenten. Ich wünsche uns einen anregenden Abend mit intensiven Gesprächen.