Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juli 2010

Joseph Garncarz
Maßlose Unterhaltung
Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896–1914
Stroemfeld, Frankfurt am Main und Basel 2010
256 S., 29 €
ISBN 978-3-87877-802-8

Joseph Garncarz:
Maßlose Unterhaltung.
Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896–1914

Die Frühzeit des Films ist von der Wissenschaft erst spät entdeckt worden. Seit gerade mal zwanzig Jahren gibt es ein spezielles Interesse für die erste Phase der Filmgeschichte, die man auf die Zeit von 1895 bis 1914 datiert. Als wissenschaftliche Pionierin gilt Corinna Müller mit ihrem Buch „Frühe deutsche Kinematographie“ (erschienen bei Metzler 1994).Ihr Schwerpunkt waren Produktion und Vertrieb der anfänglichen Kurzfilme und die Entwicklung zum programmfüllenden Film ab 1909. Bei Joseph Garncarz stehen die Orte im Zentrum, in denen die Filme der Frühzeit vorgeführt wurden: Varieté und Jahrmarkt, Saal- und Ladenkino, Filmtheater und Kinopalast. Die Entwicklung hat eine ökonomische, eine soziologische und eine kulturelle Logik, es geht um das Wachstum eines neuen Vergnügens, um Ansprüche der Konsumenten, um Erwartungen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten und natürlich um Geld.

Der Kölner Filmwissenschaftler hat gründlich geforscht: in Stadt- und Landesarchiven, in Pressearchiven, wo noch zeitgenössische Organe wie Der Artist, Der deutsche Händler und Hausierer oder Der Komet zu finden sind, aber auch im Bereich filmographischer und statistischer Primärquellen. Seine Untersuchung ist orthodox strukturiert, sie folgt der Chronologie, beginnend mit dem internationalen und dem nationalen Varieté. Sie charakterisiert Orte, Programmabläufe, Publikum und Veranstalter, sie berichtet von Unterhaltungs-bedürfnissen. Nächste Station (umfangreichstes Kapitel): das Jahrmarktkino mit Schaustellern, Festen, Märkten und Messen, denen die bunten Filmprogramme zu neuer Attraktion verhelfen. Das dann folgende „Saalkino“ ist noch kein fester Ort und hinterlässt nur wenige charakteristische Spuren. Erst mit dem „Ladenkino“, ab 1905, wird der Film in den Großstädten sesshaft, gewinnt ein wachsendes Stammpublikum und bewirkt eine Veränderung seiner Produkte: Sie werden abwechslungsreicher und zunehmend länger. Für ein wirkungsvolles Drama braucht man mehr Zeit. Schließlich entstehen die festen „Kinotheater“, und dann, vor allem in den Großstädten, die luxuriösen Paläste, in denen auch das Bürgertum vom Film erreicht wird.

Garncarz ist kein Erzähler, sondern ein Übermittler von Fakten und Erkenntnissen, die aus Recherchen gewonnen wurden. Das macht den Text etwas spröde. Mit seinen Zitaten und Quellenhinweisen (sie summieren sich auf 478) ist er natürlich immer auf der sicheren Seite, auch wenn mir manche Informationen redundant erscheinen. Wissenschaft erfordert Gründlichkeit. Da kann auf den Leser nicht immer Rücksicht genommen werden. Der Titel des Buches ist ein Kafka-Zitat, es stammt aus der berühmten Tagebuch-Eintragung vom 20. November 1913: „Im Kino gewesen. Geweint.“ „Maßlos“ meint in diesem Zusammenhang: grenzenloses, hemmungsloses, ausschweifendes Vergnügen. Was ja ein Teil des Kinos geblieben ist.

56 zum Teil farbige Abbildungen in akzeptabler Druckqualität sind über das Buch verteilt, die schönste – aus einem nicht identifizierten Pathécolor-Film – wurde fürs Cover ausgewählt. Den Film würde ich allzu gern sehen.