Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1995
Filmbuch des Jahres

Karsten Witte
Lachende Erben, Toller Tag
Filmkomödie im Dritten Reich
Vorwerk 8, Berlin 1995
276 S. (48,00 DM)
ISBN 3-930916-03-7

Karsten Witte:
Lachende Erben, Toller Tag

Karsten Wittes Frankfurter Dissertation, eingerahmt von zehn seiner journalistischen und publizistischen Texte der siebziger und achtziger Jahre zum Thema.

Der Hauptteil ist eine präzise Analyse aus dem Blickwinkel der Kritischen Theorie: teils die Befunde auf ihren essentiellen Kern verdichtend, teils mit Beobachtungen ausgelassen und assoziativ spielend. Die Lust beim Lesen wächst mit den Risiken, die der Autor denkend und schreibend eingeht. Nur zwei Abbildungen: Frontispiz und Schlussseite. Mit einem Vorwort von Alexander Kluge.

Georg Seeßlen, einer unserer großen Filmpublizisten, hat in epd Film eine mustergültige Rezension des Buches publiziert. Ich zitiere hier die ersten und letzten Absätze seines Textes:

„Alexander Kluge beschreibt es in seinem Vorwort: Karsten Wittes größerer Versuch über die Filmkomödie im Dritten Reich steht sprachlich (was natürlich auch heißt: im Denken und Argumentieren) in der Tradition der Kritischen Theorie. So findet sich hier weder, wie beim Thema gewohnt, holzschnitthafte Ideologiekritik noch trüb symbiotischer Errettungsversuch. Karsten Witte arbeitet filigran, präzise und mit jedem von Bloch oder Adorno bekannten literarischen Gestus, der das Denken selbst luzide macht und dem ein sprödes, gleichsam in Zeit und Raum unübersetzbares Pathos der Verweigerung gegenüber der Nachkriegsharmonie innewohnt. So ist Wittes Buch eine doppelte Reise in die deutsche Kulturgeschichte, an ihre furchtbarsten und besten Orte. Und es tut wohl, für einmal in die fröhliche Form der inneren Verdunkelung das Licht einer späten Aufklärung getragen zu sehen, die von ihren Grenzen weiß, und die, nach Auschwitz, immer auch eigene Verzweiflung bearbeiten muss.

Witte ordnet nicht ein, kategorisiert nicht, und schon gar nicht unterwirft er seine Analysen einem vorgeformten Faschismusbild. So öffnet sich der Blick für das Vorher (die deutsche Filmgeschichte) und das Nachher (die fortwährenden Strategien der deutschen Filmkomödie in der Nachkriegszeit). Im Zentrum aber steht die Frage: Was geschieht da auf der Leinwand, und in welcher Beziehung steht es zu dem, was außerhalb des Kinos geschah? LACHENDE ERBEN, FRÄULEIN HOFFMANN ERZÄHLUNGEN, DIE ENGLISCHE HEIRAT, PARA-DIES DER JUNGGESELLEN, DAS VEILCHEN VOM POTSDAMER PLATZ – Filme, die uns geläufig sind im Kontext sonntagnachmittäg-licher Bildschirmbeschaulichkeit., aufgenommen mit der Mischung aus Nachsicht un Unbehagen, die wir uns gegenüber dem ‚Privaten’ der Zeit des Nationalsozialismus angewöhnt haben – mehr oder weniger hübsch sortiert in das ‚politische’ und das ‚unpolitische’ – , werden einer analytischen Darstellung unterzogen, die den schnellen Schluss und die wohlfeile Analogie vermeidet. Witte bleibt stets streng am Material, seine Argumentation ist immer nachvollziehbar, aus dem bewegten Bild gewonnen und an ihm nachprüfbar.

(…)

Das Buch unterfüttert seine Hypothesen mit Einzelanalysen von Filmen, von 1935 bis 1944, und gelangt schließlich zu der mehr als berechtigten Frage: ‚Wie faschistisch ist DIE FEUERZANGEN-BOWLE?’ Die ‚Überläufer’-Filme aus der letzten Zeit des Krieges nimmt Witte ganz wörtlich als Filme, die nach der Definition von Alfred Bauer vor dem 8. Mai 1945 begonnen und erst nach Kriegsende aufgeführt wurden, und als Filme, die versuchen, im Gegensatz zu den ‚Front-verharrern’, die Fronten zu verlassen, gleichsam um eine mehr oder weniger heftig geschwenkte weiße Fahne herum zu inszenieren. Und ‚in den Überläuferfilmen von 1945 zerbrach die mühsam aufrechterhal-tene Kongruenz von Propaganda-Intention und Kunstmitteln. Das Drehbuch, das bislang durch Vor- und Nachzensur die Durchsetzung der Propagandalinie ermöglicht hatte, löst sich defätistisch auf. Die Durchhaltefilme wie KOLBERG fallen der Erstarrung anheim wie die Komödie (z.B. EIN TOLLER TAG) der Auflösung. Die Filmgenres im Produktionsjahr 1945 schlitterten nicht nur an den Zensur-mechanismen vorbei, sondern auch an den Instanzen der künstlerischen Selbstkontrolle der Autoren, Regisseure und Schauspieler.’ (Wiite). So entstand, angesichts der sicheren Niederlage, eine hysterische Beschreibung von Übergang, in der gleichwohl auch schon wieder Elemente der Restauration sich andeuten; die Räume lösen sich auf, die so lange mühsam gebannte Ambiguität kehrt zurück. Und zum ersten Mal trifft die Phantasie auch auf den Tod.

Karsten Wittes Buch führt, gerade in den ‚kleinen’ Beobachtungen, dem Blick auf die Möbel in einem Melodram, die Rolle eines Buches in einer Komödie, tief in das ‚gespaltene Bewusstsein’, das nach wie vor unsere Kultur prägt, und es macht durchaus Mut, noch einmal in diese ‚Vorhölle der Filmkritik’ hinabzusteigen, mit gestärktem Blick vielleicht. Es ist ein befreiendes Buch, das die Konventionen und Erfahrungsverbote hinter sich lässt und der Kritik selbstverschuldet verlorenes Terrain zurückerobert. Neugier und Kompetenz bestimmen die Reise. Und es ist ein Buch, das sich in seiner klassischen Ästhetik (schöner Satz, feste Bildung) gegen die gedankenlosen Montagebücher der modischen Filmliteratur zu wehren weiß.“

Georg Seeßlen in: epd Film, Juni 1995