Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juni 2013

Éric Rohmer / Claude Chabrol
Hitchcock
Alexander Verlag, Berlin/Köln 2013
288 S., 29,90 €
ISBN 978-3-89581-280-4

Éric Rohmer / Claude Chabrol:
Hitchcock.
Herausgegeben von Robert Fischer

Dies war das weltweit erste Buch über den Regisseur Alfred Hitchcock. Es erschien 1957 in Paris und stammte von den damaligen Cahiers du Cinéma-Kritikern Éric Rohmer und Claude Chabrol. Jetzt ist das Buch, dank der Beharrlichkeit des Herausgebers und Übersetzers Robert Fischer, erstmals in deutscher Sprache erschienen. Bei der Lektüre ist mitzudenken, dass Rohmer und Chabrol ihren Text vor fast sechzig Jahren geschrieben haben. Sie hatten schon damals genau erkannt, dass Hitchcock nicht ein handwerklich solider Action-Regisseur war – diesen Ruf hatte er bei Kritikern und Kinobesuchern – sondern ein Autor mit persönlichem Stil und kohärenter Thematik. Kurz danach wurden Rohmer und Chabrol zu Protagonisten der französischen Nouvelle Vague.

Das bekannteste Buch über den amerikanischen Regisseur stammt von François Truffaut: „Le Cinéma selon Hitchcock“, deutsch: „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“. Fünfzig Stunden hat Truffaut, assistiert von Helen G. Scott, seinen 33 Jahre älteren Kollegen zum Produktionsprozess all seiner Filme befragt. Die französische Ausgabe erschien 1966, die deutsche Übersetzung von Frieda Grafe und Enno Patalas 1973 im Hanser-Verlag. Kein ernsthafter Filminteressent kam an diesem Buch vorbei.

Schon in den 1950er Jahren hatte sich ein Kreis junger französischer Filmkritiker, Redaktionsmitglieder  der Zeitschrift Cahiers du Cinéma, für Hitchcock stark gemacht, zu ihnen gehörten Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Truffaut, Chabrol und Rohmer. Sie lagen in ihrer Einschätzung jahrelang im Streit mit ihrem Chefredakteur André Bazin, der große Vorbehalte gegenüber Hitchcock hatte. Immerhin ließ Bazin im Oktober 1954 ein Cahiers-Sonderheft über Hitchcock zu. Und nachdem in der Cinémathèque Française 1956 alle Hitchcock-Filme gezeigt worden waren, auch die weithin unbekannten der englischen Periode, fühlten sich Rohmer und Chabrol geradezu verpflichtet, über ihre Ikone ein Buch zu schreiben. THE WRONG MAN kam im Mai 1957 in Paris in die Kinos, ein Schlüsselfilm, die Konklusion des Buches. Der Herausgeber Robert Fischer hat die Hintergründe der damaligen Hitchcock-Debatten in seinem Vorwort sehr genau rekonstruiert.

Bild 1Das im Original kleine, relativ schmale Buch mit dem schlichten Titel „Hitchcock“ ist eine Passage durch alle 45 bis dahin realisierten Filme, in der Regel chronologisch, aber mit vielen Querverweisen und Rückerinnerungen. Die britische Periode (1923-1939) bringt nach verschiedenen Vorspielen mit THE LODGER (1926) einen ersten Höhepunkt, sie führt den Regisseur mit BLACKMAIL (1929) in die Tonfilmzeit, lässt ihn – bei aller Variation der Genres – mit MURDER! (1930), RICH AND STRANGE (1931) und der ersten Version von THE MAN WHO KNEW TO MUCH (1934) zu seinem ersten Meisterwerk kommen: THE 39 STEPS (1935). Nach 23 Filmen verabschiedet sich Hitchcock mit THE LADY VANISHES (1938) aus England und beginnt mit JAMAICA INN (1939) seine Karriere in Amerika, teilweise in enger Kooperation mit dem Produzenten David O. Selznick, von dem er sich 1948 unabhängig macht. In Erinnerung bleiben aus der frühen amerikanischen Phase vor allem REBECCA (1940), SUSPICION (1941), SHADOW OF A DOUBT (1943), SPELLBOUND (1945) und NOTORIOUS (1946). Elf Filme der späten 40er und der 50er Jahre, darunter ROPE (1948), STRANGERS ON A TRAIN (1951), DIAL M FOR MURDER (1954), REAR WINDOW (1954) und die zweite Version von THE MAN WHO KNEW TO MUCH (1956) werden als die große Zeit des Autorenregisseurs Hitchcock dargestellt. THE WRONG MAN bildet den Abschluss.

Auch im Abstand von Jahrzehnten vertieft die Lektüre des Buches den Blick auf den Regisseur – vor allem wenn die Filme noch gut in Erinnerung sind. Mehr als 200 Abbildungen in akzeptabler Qualität helfen zusätzlich. Es ist wirklich erstaunlich, was Rohmer und Chabrol in den 45 Filmen entdecken, wie sie Stärken und Schwächen beschreiben, wie sie die Dramaturgie, die wiederkehrenden Motive, die immer raffinierter werdenden Bilder, die Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler, unterschiedlich in der englischen und in der amerikanischen Periode, den Ton, die Musik und die Montage in größere Zusammenhänge stellen und daraus eine Werkanalyse entsteht. Auch für die Metaphysik im Werk Hitchcocks finden sie schlüssige Erklärungen. Ihre Kenntnis der Filme ist natürlich vor allem den Vorführungen in der Cinémathèque zu verdanken. Als es noch keine Videoaufzeichnungen oder DVDs gab, musste man als Filmkritiker über ein gutes Gedächtnis verfügen und sich möglicherweise Notizen machen. Rohmer und Chabrol belegen ihre Befunde mit vielen konkreten Hinweisen auf Szenen und Momente. Sie haben die Texte des Buches getrennt geschrieben, aber die Filme gemeinsam gesehen. Das war offenbar hilfreich.

Der Anhang des Buches enthält einen Text über VERTIGO von Éric Rohmer aus den Cahiers (März 1959), ein Gespräch mit Éric Rohmer von Antoine de Baecque aus dem Jahr 2008, ein Gespräch mit Claude Chabrol von Robert Fischer aus dem Frühjahr 1999 und eine wunderbare bibliographische Chronik von Robert Fischer über die Beziehung zwischen Hitchcock und den Vertretern der späteren Nouvelle Vague von 1948 bis 1960.

Dem Herausgeber gebührt ein großes Kompliment dafür, dass er mit diesem Buch an die großen Filmkritiker und Regisseure Éric Rohmer (1920-2010) und Claude Chabrol (1930-2010) erinnert.