Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1999
Filmbuch des Jahres

Elisabeth Bronfen
Heimweh
Illusionsspiele in Hollywood
Verlag Volk & Welt, Berlin 1999
560 S. (56 DM)
ISBN 3-353-01104-8

Elisabeth Bronfen:
Heimweh.
Illusionsspiele in Hollywood

Die Zürcher Literaturwissenschaftlerin, Anglistin und Filmliebhaberin Elisabeth Bronfen erforscht in ihrem Buch die Wunsch- und Wahnvorstellungen, die sich im Kino ereignen.

Eigentlich ist mir das ganz fremd: mit Hegel im Kopf und psychoana-lytischem Werkzeug in der Tasche ins Kino zu gehen. Ich sträube mich seit Jahrzehnten dagegen, mit Filmen, die ich sehe und liebe, ins definitorische Labyrinth der verschiedenen Schulen der Film- und Medienwissenschaft gelockt zu werden und mich dort zu verirren. Aber Elisabeth Bronfen folge ich auf weite Strecken gern auf ihrem Gang durch die Heimatmythen des deutschen und des amerikanischen Kinos. Vielleicht am schönsten: das Kapitel über la habanera und imitation of life, am originellsten: ihre Parallelanalyse von the searchers und lone star, am vertrautesten: ihre Lektüre des blauen engel, am konkre­testen: ihre Lesart von Hitchcocks rebecca, am abstrak­testen: geheimnisse einer seele von G. W. Pabst. Elisabeth schildert viele Szenen so genau, dass man sich schnell wieder daran erinnert. Und man muss ihr ja nicht alle wissenschaft-lichen Erkenntnisse glauben. Die 500 Seiten sind gut zu bewältigen. – Die Rezension von Kurt Scheel in der FAZ ist sehr herablassend, die von Georg Seeßlen im Freitag wird der Autorin einigermaßen gerecht.

Aber am schönsten ist aber der Text von Fritz Göttler in der Süddeutschen Zeitung, den man hier einfach zitieren muss, weil er dem Buch so nahe kommt wie sonst keiner:

„’Allein bin ich in der Nacht, meine Seele wacht und lauscht . . . Oh Herz, hörst du, wie es klingt, in den Palmen singt und rauscht? Der Wind hat mir ein Lied erzählt . . .‘  Vom Kino scheint in diesen Zeilen die Rede zu sein, aus dem berühmten Habanera-Song von Zarah Leander, und die Art, wie dabei Heimweh, Heimkehr, Heimat beschworen werden, passt sehr gut auch auf das vorliegende Buch. Nur an der Oberfläche kommt es als wissenschaftliche Arbeit daher, in Wirklichkeit ist es, suggestiv, melancholisch, verführerisch, ein Loblied auf das Kino, eine Liebeserklärung.

Um Heimweh geht es bei jedem Kinobesuch, in jedem Kinobuch. Wie komplex dieser Begriff ist, das merkt man hier gleich zu Beginn, in einem Hegelzitat, aus der Phänomenologie des Geistes. ‚Das Bewußt-sein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.‘ Auf diesem Wendungspunkt finden wir, was das Kino angeht, auch das neue Buch von Elisabeth Bronfen.

Das Hegelzitat ist verheißungsvoll, es kündet vom Abenteuer – Abenteuer des Kinos und Abenteuer der Analyse. Ausgerechnet mit David Finchers erstem Film Seven versucht Elisabeth Bronfen, uns eine Vorstellung zu vermitteln, was Heimat im Kino bedeutet – mit einem brutalen weil existentialistischen Thriller, einer mörderischen mise en scène der sieben Todsünden durch einen pathologischen Mörder. Ein Film, der alle Sicherheiten des Thrillergenres auslöscht, weil er alle Beteiligten, vor allem uns Zuschauer zu Mitwissern und Mitspielern macht. Ein morality play, erklärt Elisabeth Bronfen, in der mittelalterlichen Tradition – also ein Gegenstück zur Vorstellung vom Kino als moralischer Anstalt. Seven verzichtet auf jede falsche Sicherheit, er lässt wie alle Parabeln vom Everyman die Geschichte in der Schwebe, zwischen Verlangen und Erlösung.

Elisabeth Bronfen gehört zu denen, die ohne das Kino nicht leben können. Die Filme mit der Psychoanalyse zum Sprechen zu bringen, und die Regeln des menschlichen Verlangens mithilfe der Filme anschaulich zu machen, auf dieser Möbiusschleife bewegt sich dieses Buch. Es greift die klassischen Begriffe der psychoanalytischen Text-analyse auf – entwickelt von Judith Butler oder Jean Baudrillard, Mladen Dolar oder Slavoj Zizek, Julia Kristeva oder Frieda Grafe, und dekliniert sie durch den Begriff Heimweh. Ein weites Feld, das Feld des Verlangens: ‚Die Kluft, die die Repräsentation öffnet, löst gleichzeitig ein nie gänzlich zu befriedigendes Begehren danach aus, diese Kluft wieder zu schließen. Die Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist sowohl Ursprung als auch Telos des Repräsentierens, eine konstitutive Leerstelle. Weil jede Bezeichnung ihr Bezeichnetes verfehlt, verweist dieser Vorgang aber auch auf einen fundamentalen Zustand der menschlichen Existenz: nämlich auf das Verlangen nach einem verlorenen Ursprung, dessen Mangel die Bedingung für jegliches Begehren ist; oder, anders formuliert, auf die Sehnsucht nach einer uneingeschränkten Zugehörigkeit, deren Unmöglichkeit Heimat-, Einheits- und Heilungs-Phantasien ins Leben rufen.‘

Die Sperrigkeit dieser Terminologie löst Elisabeth Bronfen durch den Fluss der erzählten Sequenzen auf, durchs Verweilen auf der Einstellung und ihren Details. Den Außenseitern gehört ihre erzählerische Sympathie, Lola im Blauen Engel – das ist auch Marlene Dietrich auf dem Sprung in die fremde Welt Amerika – oder der kleinen Dorothy auf der Suche nach dem Wizard of Oz, – was sie mit Salman Rushdie vereint, dem gehetzten Migranten – oder den „Mischlingsfrauen”, Zarah Leander in La Habanera und Susan Kohner in Imitation of Life, von Detlef Sierck/Douglas Sirk.

Aber auch von verlorenen Söhnen wird bewegend berichtet, vom Mischling Martin Pawley in John Fords Searchers oder vom verstoßenen Pinguin in Batman Returns, von Batman natürlich und von Neo, dem Jungen aus Matrix. Und immer wieder tauchen in diesen (erzählten) Geschicken die Geschichten ihrer Regisseure auf: die namenlose Heldin in Rebecca auf dem Landsitz Manderley, das ist Hitchcock, der seinen ersten Film in der Fremde dreht, in den USA, und Imitation of Life, das ist Sirks erklärter Abschied vom Hollywood der fünfziger Jahre.‘ Der psychoanalytische Diskurs reagiert scharf-sinnig auf das menschliche Unbehagen an der eigenen psychischen Entortung – am Verlust der imaginierten Selbstidentität, der mit dem Erwerb der Sprache und der Annahme kultureller Gesetze und daran geknüpft mit der Verdrängung bzw. Kontrolle der verbotenen Triebe und Wünsche einhergeht.‘

Entortung, Verlust der Heimat – aber der Mensch kehrt nie wirklich zurück, und weil er das weiß, hat er angefangen zu erzählen: ‚Schutzdichtungen, . . . Geschichten, die dieses Wissen entstellen, um weiterleben zu können und uns vor dem Chaos des Realen, der unmittelbaren Wahrheit zu schützen.‘  Eine Bilderbibliothek brauchen wir, ähnlich der in Seven, der bei Borges oder Calvino. ‚Wie jede andere Bibliothek bietet uns das Geschichten- und Bildrepertoire des Kinos letztlich vielleicht gerade deshalb eine so verläßliche Heimat, weil es das eigene Scheitern mit inszeniert. Der Pakt, auf den wir uns einlassen, wenn wir uns über die Schwelle in diese virtuelle Heimat begeben, bleibt nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Versprechen eines provisorischen Glücks.‘  There’s no place like home: wenn wir den Doppelsinn dieses Satzes verstanden haben, werden wir Heimatlosigkeit nicht als Trauma, sondern als Herausforderung erfahren – das wäre das Thema für ein neues Buch: die Produktivkraft der Illusionen.

Abenteuer Kino, Abenteuer Analyse, das ergibt am Ende eine Art Autobiografie. Die Bilder fangen an für sich zu sprechen, die Lieder. ‚Skies above in flaming color, without love, they’re so much duller, a false creation, an imitation of life.‘ Das Kino ist und bleibt die beste Möglichkeit, in den geistigen Tag der Gegenwart einzuschreiten. Weil es so wirklich ist wie die Hühnersuppe nach Art von Großmutter Cukor!“

Fritz Göttler in:  Süddeutsche Zeitung, 27.11.1999