Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1962
Filmbuch des Jahres

Ulrich Gregor/Enno Patalas
Geschichte des Films
Sigbert Mohn, Gütersloh 1962
524 S. (39,80 DM)

Ulrich Gregor/Enno Patalas:
Geschichte des Films

Dies ist die erste ernsthafte Geschichtsdarstellung der internationalen Filmkunst von deutschen Autoren. Ulrich Gregor (*1932) und Enno Patalas (*1929), zwei Protagonisten einer ‚linken’ Filmkritik, inter-pretieren und werten die Kinoproduktion auf der Basis gesellschaft-licher Bedingungen und eruieren ideologische Implikationen. Dass dabei dem deutschen Film im Nationalsozialismus und in der Ära Adenauer nur insgesamt vier Druckseiten zugestanden werden, ist ein provokant gemeinter Widerspruch. Auf den Bildtafeln werden einzelne Filme mit sechs bis acht Abbildungen vorgestellt.

Das Buch bekommt zum Teil glänzende, zum Teil sehr genau differenzierende Kritiken.

Ich zitiere aus der umfangreichen Rezension des wertkonservativen Kritikers Karl Korn aus der Frankfurter Allgemeinen:

„Die beiden Verfasser dieser ersten Gesamtdarstellung des Films in deutscher Sprache haben in Kreisen des jungen deutschen Films als führende Mitarbeiter der seit 1957 erscheinenden Zeitschrift Filmkritik einen Namen. Der mit ausgiebigen Titel-, Personen- und Firmen-registern und einer sorgfältig zusammengestellten Bibliographie und zahlreichen Bildtafeln von insgesamt 80 Filmen ausgestattete Band ist eine Leistung, die mehr als Respekt verlangt.

Ohne das sinnlose Krisengerede und -geklage mitzumachen, haben sich zwei heute etwa 30jährige junge Männer an die gewaltige Arbeit gemacht. Sie stellen dar: die Anfänge des Films in Europa, die Geburt des amerikanischen Films, die Großen des skandinavischen Films, den filmischen Expressionismus und die Neue Sachlichkeit in Deutschland, französische Impressionisten und Avantgardisten, den Film der sowjetischen Revolution, das Hollywood der zwanziger Jahre, den deutschen Film vor und unter Hitler, den poetischen Realismus im Frankreich der 30er Jahre, den Aufstieg des britischen Spiel- und Dokumentarfilms, den Sowjetfilm des sozialistischen Realismus, Hollywood im Zeichen der Wirtschaftskrise, das Aufkommen des italienischen Realismus am Ausgang des Krieges, die schwankende Entwicklung des Films in Frankreich während des Krieges und nach dem Krieg, den britischen Dokumentarismus, Stagnation und Auf-bruch im übrigen Europa, die Wendung zur Wirklichkeit im US-Film (1940-1949) und schließlich die Filmepochen der fünfziger Jahre in Italien, Frankreich, England, Schweden, Spanien, der Bundesrepublik, die als Ära Adenauer apostrophiert wird, Personenkult und Tauwetter in Osteuropa, Amerikas Film im Kampf mit dem Fernsehen und die Entdeckung der überseeischen Filmländer, voran Japan und Indien. Das Werk schließt mit dem Film ‚nach 1960’, das heißt mit der französischen Neuen Welle, dem neuen Aufschwung des italienischen Neorealismus, Free Cinema in England und der New Yorker Schule.

Der gewaltige Stoff ist in sechs Epochen gegliedert. Die beiden Auto-ren, die sich in ihrem Vorwort ‚dezidiert parteilich’ nennen und als Gegner einer nur ästhetischen Filmbewertung auftreten, haben jedem Kapitel eine kurzgefasste Charakteristik der politischen und weltwirt-schaftlichen Situation und der damit gegebenen Produktionsbedin-gungen der Filmindustrie vorangestellt. Diese lapidar formulierten Skizzen sind, obwohl von doktrinärer Einseitigkeit nicht immer frei, durchweg vorzüglich. (…)

Man hat dem Handbuch den Vorwurf gemacht, daß es das moderne Phänomen Film zu einseitig sehe. Die beiden Autoren, die ihre Zugehörigkeit zum Engagement der jungen Filmrevolutionäre nicht leugnen, heften in der Tat ihren Blick auf den Film als Kunstwerk. Die Masse der filmischen Konsumware wird allenfalls summarisch am Rande in die Betrachtungen einbezogen. Doch ist es unbillig, von einem Handbuch noch mehr Stoff und noch mehr Titel zu verlangen. Wir haben das Buch, das seit einem knappen halben Jahr vorliegt, im Gebrauch geprüft. Das Resultat ist durchweg positiv.

[Es folgen 16 lange Absätze mit positiven und kritischen Feststellungen, dann heißt es am Ende:]

Doch wollen wir, indem wir unsere kritische Revue beschließen, zum Lobe der ersten in deutscher Sprache geschriebenen ‚Geschichte des Films’ ihre Materialzuverlässigkeit, ihre interpretierende Intelligenz, ihre Materialfülle und die Klarheit sowohl der Gliederung des Stoffes als auch des Standortes, von dem aus bewertet wird, rühmen.“

Karl Korn in: Frankfurter Allgemeine, 13. April 1963

Für einige Zeit begleitet „der Gregor/Patalas“ viele Cineasten bei ihren Reisen durch die internationale Filmgeschichte. Dem großen Buch folgt 1965 ein schmaleres: „Geschichte des modernen Films“. Und Ulrich Gregor verfasst später eine „Geschichte des Films ab 1960“ (1982).